Vor vier Monaten: Catherine
Ich treffe Liv im Serpentine Café im Hyde Park, wo wir früher immer so gerne hingingen. Wir trafen uns oft sonntagmorgens hier und berichteten einander bei schwachem Cappuccino von den Ereignissen des Samstagabends, während die Gesundheitsfanatiker in schrillem Sportzeug vorbeijoggten. Jetzt trägt Liv selbst Lycra und geht vor unserem Treffen ins Fitnessstudio. Sie trainiert zurzeit wie verrückt, läuft am Wochenende Halbmarathon und rennt um sechs Uhr früh ins Schwimmbad.
Der Hyde Park war immer mein Lieblingspark in London, mit seinen grün-weiß gestreiften Liegestühlen, den schick frisierten Müttern aus Kensington mit ihren Kinderchen und den Rollerbladern, die rücksichtslos zwischen den Passanten hindurchflitzen. Ich liebe die alten Bäume dort, Eichen, Kastanien, Platanen, Ahorn und Linden mit ihrem grünen oder gelblichen Laub, und die rosa Blütenfülle von Kirsch- und Holzapfelbäumen im Frühling. Als kleines Mädchen war ich mit meinen Eltern hier. An der Hand meiner Eltern spazierte ich in meinem dunkelblauen Mäntelchen zum Teich, wo wir die Enten mit Brotkrumen fütterten, die mein Vater über die Woche gesammelt hatte.
Auch meine eigenen Kinder waren immer gerne hier, abwechselnd im Planschbecken und im Sandkasten am Lido und auf dem kleinen Spielplatz neben den Barracks, von wo aus die Wachen täglich zum Buckingham Palace reiten. Wenn wir den richtigen Zeitpunkt erwischt hatten, beobachteten die Kinder das Geschehen fasziniert durch den Drahtzaun.
Als ich heute hier unterwegs bin, sehe ich Joe und Daisy ständig vor mir und sehne mich danach, mit ihnen zu sprechen. Aber sie sind in Cornwall, beim Baden oder beim Makrelenangeln oder auf einer Düne bei einem üppigen Picknick mit ihrer Großmutter.
»Du kannst die Kinder anrufen, wann immer du willst«, hatte Sam gestern Abend gesagt. »Aber du hast recht, wir brauchen Zeit zum Nachdenken. Lass uns mal eine Weile nicht reden.«
Wenn ich mir vorstelle, wie unser Leben künftig aussehen könnte – Sam in irgendeiner miesen engen Wohnung, die Kinder jedes Wochenende bei ihm –, würde ich am liebsten sofort zu ihm zurückrennen. Ich habe Sam gewählt – oder bin vielmehr nach der Zeit mit dir zu ihm zurückgekehrt – und mir beigebracht, ihn mit einer Intensität zu lieben, die nicht infrage gestellt werden konnte. Dreizehn Jahre lang habe ich mich in meiner Ehe verkrochen. Und wenn ich in den Zeitungen und im Internet nach dir Ausschau halte (auch eine Form von Stalking, genauso schlimm wie Julias), dann nur, weil ich mich versichern will, dass du glücklich bist oder dass es dir zumindest gut geht. Dass es richtig war, dich zu verlassen, damit du dich nicht zwischen mir und deinem ältesten Freund entscheiden musstest.
Als ich zu dem Café komme, kann ich Liv nirgendwo entdecken. Nur ein Paar mit einem Baby im Kinderstuhl, das Croissant-Stückchen gereicht bekommt, die es auf den Boden feuert. Zwei junge Frauen in einem intensiven Gespräch, während ihr Kaffee kalt wird. Am Eingang drei Radfahrer mit Evian-Flaschen. Ich will mich gerade an einem Tisch niederlassen, als ich aus dem Augenwinkel einen großen Mann wahrnehme, der am Holzzaun lehnt, und der Schreck durchzuckt mich wie ein Blitz. Mein erster Impuls ist wegzulaufen, aber es ist zu spät. Reglos stehe ich da und starre dich an, die echte Person, nicht nur den Mann auf den Fotos, die mir seit Jahren als Ersatz dienen.
Der Schock scheint mir ins Gesicht geschrieben, denn als du vor mir stehst, sagst du: »Liv hat dir wohl nichts gesagt?«
»Sie wusste, dass ich dann nicht gekommen wäre.«
Das sind meine ersten Worte an dich seit fünfzehn Jahren. Du senkst den Kopf, und Enttäuschung zeichnet sich auf deinem Gesicht ab.
»Es ist nicht so, wie es sich anhört.«
»Findest du es wirklich so schlimm, mich wiederzusehen?«
»Im Gegenteil.«
Jetzt das vertraute Lächeln, mit den heruntergezogenen Mundwinkeln.
»Wollen wir dann wenigstens einen Kaffee zusammen trinken?«
Nichts lieber als das, aber ich fürchte mich so sehr vor den Fragen, die du stellen wirst. Ich strecke meine zitternden Hände aus, und wir blicken beide darauf.
»Weiß nicht, ob ich überhaupt eine Tasse halten kann.«
»Ich werd sie für dich tragen.«
Wir stellen uns in der Schlange an, Seite an Seite. Du trägst ein blaues Jeanshemd zu schwarzen Jeans und etwas angegraute Converse-Sneakers. Ich blicke verstohlen auf deine schlanken sonnengebräunten Hände mit den gepflegten Nägeln. Deine Haare reichen über den Hemdkragen, wie damals. Wie viel Zeit haben wir? Ich möchte dein Gesicht betrachten können, um die Veränderungen zu sehen: Mehrtagebart, Fältchen unter den Augen. Unsere Gedanken gehen offenbar in die gleiche Richtung, denn du schaust mich von der Seite an und sagst: »Du siehst genauso aus wie damals.«
»Ich fühle mich aber anders.«
»Zwei Kinder«, sagt er, versteht nicht, wie das gemeint war. »So erwachsen.«
»Hat Liv dir erzählt, was passiert ist?«
»Ja, hat sie. Tut mir leid für dich.«
Du trägst das Plastiktablett zu einem Tisch direkt am See. Dann entsteht ein Schweigen, in dem wir wohl beide nach den richtigen Worten suchen. Du nimmst deinen Becher und stellst ihn wieder ab, ohne getrunken zu haben.
»Du bist am Boden zerstört, oder? Tut mir leid, vielleicht war es völlig falsch herzukommen.«
»Weiß nicht. Ich meine, ich weiß nicht, ob ich wirklich am Boden zerstört bin. Bei alldem gibt es auch ein Gefühl von Erleichterung, weil Sam und ich wenigstens angefangen haben zu reden.«
Du beugst dich ein klein wenig weiter vor, aber das reicht, um meinen Körper unter Strom zu setzen. Dein Gesicht wirkt etwas älter, aber immer noch irrsinnig attraktiv, obwohl das für mich nie so wichtig war. Ich sehne mich danach, deine Hand zu berühren.
»Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagst du, als könntest du meine Gedanken lesen. »Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, dich jemals wiederzusehen.«
Mein Herz rast, und mir stockt der Atem.
»Ich auch.«
Für mich war es viel einfacher, dir zu folgen, indem ich Zeitung las oder im Internet nach Fotos suchte, wo ich fast immer fündig wurde. Mich dagegen entdeckt man nicht bei Facebook, Twitter oder Instagram. Ich wollte verschwinden, und das ist mir gelungen.
Jetzt stellst du deinen Becher beiseite, wie um Tacheles zu reden, und ich verkrampfe mich, spüre, dass die Frage kommen wird, zähle die Sekunden. Ich sehe, dass es so weit ist.
»Sagst du mir jetzt, was damals passiert ist? Warum du mich verlassen hast?«
Die Kälte setzt sofort ein, der Wunsch zu fliehen. Erinnerungen, die ich augenblicklich wieder verdrängen will.
Ich springe auf, mein Stuhl kippt um, fällt klappernd zu Boden.
»Catherine?«
Du stehst auch auf.
»Das kann ich nicht.«
Du ergreifst meine Hand, und so stehen wir uns gegenüber, erstarrt in dieser merkwürdigen Geste quer über den Tisch, und sehen uns an. Schließlich lässt du meine Hand los, die sich sofort kalt und leblos anfühlt.
»Können wir ein bisschen spazieren gehen?«, frage ich.
Wir lassen den Kaffee stehen und gehen langsam um den See, schweigend. Was ich will, ist unmöglich. Ich will mich an einen Baum lehnen und mich in deine Arme schmiegen, dich einfach nur spüren, die Wärme deiner Haut, deine Bartstoppeln, deinen Atem an meiner Wange. Und dann möchte ich diesen Moment anhalten, für immer und ewig. Ich kann niemals vergessen, wie wir uns in deinem Studentenzimmer zum ersten Mal geküsst haben. Wir waren auf dein Bett getaumelt, und dann hast du mich geküsst: Augen, Nase, Hals und ganz zuletzt meinen Mund.
»Das wollte ich schon seit Tagen tun«, hast du gesagt.
»Ach so? Warum?«
»Was glaubst du denn wohl? Weil du wunderschön bist und ich dich nicht mehr vergessen kann.«
»Ich bin nicht wunderschön«, widersprach ich, was dich zum Lachen brachte.
Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, fand ich immer den Kontrast zwischen meiner weißen Haut und dem dunklen Haar zu extrem, fand mich fahl und gespenstisch. Du hast mich damals zu dem großen Spiegel in der Ecke geführt.
Hast mein Haar hochgehoben und meinen Nacken geküsst, und deine Lippen auf der Haut zu spüren, war so überwältigend, dass ich es kaum ertragen konnte. Ganz sachte strichen deine Fingerspitzen über mein Gesicht, über Nase und Mund. Unsere Blicke waren im Spiegel verbunden, und du hast die Knöpfe meiner Bluse geöffnet, einen nach dem anderen, bis sie mir von den Schultern glitt und ich in meinem hellblauen BH dastand. Beide sprachen wir kein Wort, aber mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. Fast ohne mich zu berühren, hast du mich ausgezogen, bis ich ganz nackt vor dir stand. Es war so ungeheuer erregend, entblößt zu sein, während du noch angezogen warst, Haut an Stoff. Deine Hände strichen über meine Brüste, dein Mund glühte auf meinem Hals. Mein erstes Liebeserlebnis, und ich war auf Anhieb süchtig.
Jetzt ringe ich um Atem, erfasst von Begehren. Ich sehe Sam vor mir, Sam und dann Julia, und weiß schon, dass das meine Ausrede sein wird.
Wir haben jetzt den halben See umrundet, und als ein alter Mann von einer Bank aufsteht, ergreife ich deine Hand und ziehe dich mit mir. Allein diese kurze Berührung fühlt sich wie ein elektrischer Schlag an. Wir setzen uns und sehen uns an. Das ist sie jetzt: meine Chance, fünfzehn Jahre Reue auszugleichen.
»Seit ich damals weggegangen bin, habe ich an jedem einzelnen Tag an dich gedacht«, sage ich.