Vor vier Monaten: Catherine

So einen lieben Mann wie Sam habe ich gar nicht verdient. Ich sage das oft, und es stimmt einfach. Denn Sam drängt mich nun dazu, mit ihm zu dir zu fahren, gegen Abend; Sam will, dass ich deutlich sehe, was ich bislang nicht akzeptieren wollte.

»Du warst betrunken, Catherine. Du bist nicht verantwortlich für dieses Ereignis damals. Du bist aufgewacht, und Jack hatte Sex mit dir. Die meisten Menschen würden das als Vergewaltigung bezeichnen.«

Das Wort geht mir durch Mark und Bein. Vergewaltigung. Eine Gewalttat. Ein Verbrechen. Als ich Liv von dieser Nacht erzählte, spürte ich wieder ganz deutlich, dass ich keinen Sex mit Jack gewollt hatte; ich war ein neunzehnjähriges Mädchen damals, das starr und benommen dalag und Tränen weinte, die der Täter ableckte.

Aber Jack war gerissen. Er hatte meine Panik und Verwirrung, meine bruchstückhaften Erinnerungen und meinen Kater ausgenutzt und mir eingeredet, ich hätte den ersten Schritt gemacht. Und ich habe mich so sehr dafür gehasst.

»Ich habe nicht Nein gesagt und mich nicht gewehrt«, sagte ich zu Sam, denn dafür schämte ich mich am meisten.

»Du hast aber auch nicht Ja gesagt. Du hast nicht eingewilligt. Wie man es dreht und wendet, es läuft auf das Gleiche hinaus.«

»Ich habe mich so sehr geschämt. Deshalb habe ich mit niemandem darüber gesprochen. Ich hatte das Gefühl, nichts Besseres verdient zu haben, weil ich so betrunken war, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat. Wäre ich nicht so betrunken gewesen, hätte ich das niemals zugelassen.«

»Betrunken zu sein ist kein Verbrechen. Im Gegensatz zu dem, was Jack getan hat, der widerwärtige Drecksack. Er ist über dich hergefallen, während du geschlafen hast. Als du betrunken und wehrlos warst.«

»Als ich Lucian zuletzt gesehen habe, an dem Abend, als Ling ums Leben kam, habe ich ihm erzählt, dass ich mit Jack Sex hatte.«

»Das hast du wirklich geglaubt? Dass es ganz gewöhnlicher Sex war, keine Vergewaltigung?«

»Das hatte Jack mir am nächsten Tag erzählt. Er sagte, ich hätte den ersten Schritt getan und sei ganz scharf auf ihn gewesen. Und mir ging es so schlecht, und ich schämte mich so furchtbar, dass ich beschloss, ihm zu glauben. Obwohl das nicht mit meinen Erinnerungen übereinstimmte. Am deutlichsten erinnerte ich mich nämlich daran, wie ich verzweifelt darauf wartete, dass es endlich vorbei war.«

»Oh, Catherine.«

Sam nahm meine Hände, in unserem frisch gestrichenen Wohnzimmer, umgeben von all diesen Erinnerungen an dich. Sein Blick ist verständnisvoll. Verstanden zu werden tut gut.

»Geh zu ihm, Catherine, und sag ihm die Wahrheit.«

»Warum tust du das, Sam? Du hasst ihn doch, oder nicht?«

»Ich hasse, was du durchgemacht hast. Es war nicht deine Schuld, und du hast es dein ganzes Leben lang bereut und dich damit kaputtgemacht. Ich glaube, dass es dir sofort besser geht, wenn du ihm die Wahrheit sagst.«

Sams Wut trägt und stärkt mich, und im Nachhinein kann ich mich an kein Detail der Fahrt zu deinem Haus erinnern, nur noch an die Gewissheit: Jack hat mir mein Leben weggenommen, und jetzt hole ich es mir zurück. Ich drehe eigenhändig an der Uhr, drehe sie um fünfzehn Jahre zurück. Wir werden wieder dieser Junge und dieses Mädchen sein, und diesmal werden wir alles richtig machen.