Vor vier Monaten: Catherine
Heute Morgen, behütet von dem Wissen, dass wir beide wieder unter uns sind, fühle ich mich erleichtert, beinahe zuversichtlich. Ich habe dieses Treffen mit deinen Freunden, die ich so viele Jahre gemieden habe, ohne Konfrontationen und verheerende Enthüllungen überstanden.
Du schläfst noch fest, und ich gehe in die Küche, um Tee zu machen. Earl Grey ohne Milch und Zitrone, ich kenne deine Vorlieben. Während das Wasser kocht, spaziere ich in die Bibliothek, um ein paar Gläser von gestern wegzuräumen. Im Flur bleibe ich vor einem Kinderporträt von dir stehen. Du bist etwa acht oder neun Jahre alt, deine Haare sind heller und mit Mittelscheitel zur Seite gekämmt, du trägst Shorts und Hemd, kniest auf dem Boden, eine Hand am Halsband eines schwarzen Labradors. Es ist ein bezaubernd altmodisches Bild, und du hast darauf so gar keine Ähnlichkeit mit dem jungen Mann, den ich zehn Jahre später kennengelernt habe. Vor allem deine Augen fallen mir auf. Vielleicht haben viele Kinder dieses Alters einen so offenen heiteren Blick; du hast ihn jedenfalls nach dem Tod deines Vaters verloren. Was mich daran erinnert, dass du nie über Einzelheiten gesprochen, sondern immer nur drastische Ausdrücke benutzt hast wie »hat sich abgemurkst«, »hat sich ins Jenseits befördert«. Und mir kommt der Gedanke, dass du letztlich ebenso viele Leichen im Keller hast wie ich.
Es ist finster in der Bibliothek, die Vorhänge sind zugezogen, es stinkt nach kaltem Rauch, und überall stehen Gläser herum. Ich zucke zusammen, als ich plötzlich eine Stimme höre.
»Wie viel Uhr ist es?«
Rachel auf dem Sofa eingerollt, die Decke bis ans Kinn gezogen, ihre Stimme dünn und kraftlos.
»Großer Gott, Rachel. Hast du die ganze Nacht hier geschlafen?«
»Nicht geschlafen.« Dann: »Ich hasse mich. Was soll ich nur tun?«
Ich sehe, dass Tränen in ihren Augen stehen, und setze mich auf das Sofa gegenüber.
»Wann musst du los?«
»Ich fahre nicht. Kann nicht.«
»Aber du musst«, sage ich sofort. »Dein Sohn wird sonst enttäuscht sein.«
Rachel wendet den Blick ab. »Ich erwarte nicht, dass du das verstehst, Catherine«, sagt sie bitter. »Aber es ist besser für Max, wenn er mich so nicht erlebt. Das verabscheut er. Deshalb lebt er bei seinem Vater.«
»Ich könnte dich fahren, wenn Lucian mir sein Auto leiht. Oder wir bestellen ein Taxi. Wie wär das?«
Sie schüttelt den Kopf. »Danke, aber ich lasse es.«
Rachel streckt ihre heftig zitternden Hände aus, und wir starren beide darauf. Ich bin mir nicht sicher, ob ich lebenserfahren genug bin, um mit diesem schonungslosen Eingeständnis von Sucht richtig umzugehen. Gestern Abend habe ich Rachel eingehend beobachtet, um zu erfahren, wie sie sich dir gegenüber verhält (eher traurig, nicht eifersüchtig, wie ich erwartet hatte), und sah dabei, dass sie ihr Cocktailglas ständig nachfüllte. Lange vor allen anderen fing sie zu lallen an.
»Starker Kaffee«, verkünde ich mit der entschiedenen Stimme, die ich einsetze, wenn die Kinder nicht in die Schule gehen wollen (bei Joe hilft ein deftiges Frühstück mit Eiern und Bacon, bei Daisy heiße Schokolade mit Sahne). »Lange duschen, viel Wasser. Ich bin sicher, dass du es schaffen kannst.«
Rachel stöhnt und sinkt wieder aufs Sofa. In dem Moment kommst du herein, nur in Jeans und barfuß. Ich finde dich immer wunderschön, und der düstere Raum wirkt sofort heller.
»Ach, hier bist du«, sagst du zu mir. Und zu Rachel: »Du musst los, oder?«
Sie schließt die Augen und murmelt: »Geht bitte weg, alle beide.« Du wirfst mir einen fragenden Blick zu.
»Rachel hat nicht geschlafen und fühlt sich nicht gut genug für das Treffen mit Max.«
»Bitte, Rachel. Aber wir haben dich doch aufs Zimmer gebracht und dir gute Nacht gesagt. Bist du dann wieder runtergegangen? Warum?«
»Ja. Weil ich zu nichts tauge und eine dumme Chaotin bin. Könnt ihr mich jetzt bitte allein lassen?«
Du gehst vor dem Sofa auf die Knie und nimmst Rachels Hand.
»Wir könnten es noch schaffen. Es ist noch früh genug.«
»Wenn wir sie hinfahren und bald aufbrechen, klappt es«, werfe ich ein.
»Klar, könnte man machen«, sagst du zögernd. »Rachel?«
Sie dreht uns den Rücken zu und rollt sich ein.
»Nein.«
»Soll ich Hugo schreiben? Und deinem Chef?«
»Warte doch noch«, sage ich, aber du schüttelst den Kopf.
»Hat keinen Sinn, es zu verzögern. Ist besser, wenn die Bescheid wissen, glaub mir.«
Rachel bleibt stumm, und du machst dich auf die Suche nach ihrem Handy. Bevor du rausgehst, sagst du tröstend zu ihr: »Nachher gehen wir zum Lunch zu Harry und Ling. Das wird dich ablenken.«
Du willst offenbar, dass Rachel sich besser fühlt, obwohl sie aus Selbstsucht ihrem Sohn eine weitere seelische Wunde zufügen wird. Wieso machst du das?
Meine Augen füllen sich mit Tränen, als ich zum Fenster gehe und die Vorhänge aufziehe. Ich öffne die Verandatür, trete hinaus in den Garten, atme in tiefen Zügen die duftende Spätsommerluft ein. Denke an meinen eigenen Sohn, der jetzt vielleicht gerade im Haus der Großeltern neben seiner Schwester aufwacht. Sehe die dunklen Haarschöpfe meiner Kinder vor mir. Daisy liegt immer mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, Joe kriecht so weit unter die Decke, dass ich manchmal gar nicht weiß, ob er überhaupt da ist.
Rachel ist deine beste Freundin, aber ich finde, du lässt sie hängen. Du scheinst ihre Alkoholsucht einfach zu akzeptieren, obwohl du ihr helfen müsstest, ihr Verhalten zu ändern. Offenbar hast du aufgegeben. Ich denke daran, dass Liv und ich uns immer die Wahrheit gesagt haben, auch wenn sie noch so hart war. Als ich dich verlassen habe, stand Liv zwar zu mir, sagte mir aber in deutlichen Worten, was sie von der Art der Trennung hielt.
»Man kann nicht einfach ohne irgendeine Erklärung abhauen. Man kann Menschen nicht einfach so wegwerfen, wenn man sie nicht mehr haben will.«
Liv spürte aber auch, wie mies es mir ging und dass ich etwas vor ihr verbarg. Und dass ich durch die Trennung mein eigenes Leben zerstört hatte.
Ich höre dich nicht rauskommen und kreische erschrocken auf, als du plötzlich von hinten die Arme um mich legst.
»Ich weiß, dass du jetzt unzufrieden mit mir bist«, sagst du und drehst mich herum. »Aber glaub mir, ich hab das mit Rachel schon so oft erlebt.«
»Ich finde eben nur, wir hätten sie irgendwie hinbringen können. Möchte mir die Enttäuschung des Jungen nicht vorstellen. Und ihre kann ich auch nicht ertragen.«
»Rachel ist suchtkrank.« Ich höre den Schmerz in deiner Stimme. »Aber sie ist nicht bereit, etwas dagegen zu unternehmen. Sie ist erwachsen, Catherine. Wir können sie nicht zu etwas zwingen, das sie nicht tun will. Sondern nur ihre Entscheidungen akzeptieren.«
Ich halte das aber nicht für Akzeptanz, sondern denke, dass ihr alle dieses Verhalten begünstigt. Ihr lullt Rachel in diesem regellosen Luxusleben ein und bestärkt sie noch in ihren falschen Entscheidungen: Freunde statt Familie, Freiheit statt Verantwortung, Ausschweifungen statt Einsatz für andere.