Vor vier Monaten: Lucian

»Hier steckst du also!«, ruft Jack. Hinter ihm steht Celia, ausnahmsweise ohne Baby und mit großen Ohrringen und tief dekolletiertem Top offenbar im Abend-Outfit.

»Catherine! Wie schön dich wiederzusehen! Ist ja eine Ewigkeit her«, sagt Jack und küsst Catherine auf beide Wangen. Sie starrt wortlos zu ihm hoch und wirkt verstört. Ich bin selbst ziemlich verwirrt; einerseits freue ich mich, Jack zu sehen, andererseits fühle ich mich schlecht, weil ich jetzt mein Versprechen gegenüber Catherine nicht halten kann.

»Das ist Celia, meine Frau. Dürfen wir uns zu euch setzen?«, sagt Jack und hält nach freien Stühlen Ausschau.

»Tut mir leid, aber wir sind gerade am Gehen«, sage ich. Mir ist bewusst, dass ich mich so schroff anhöre, aber Catherines Gesichtsausdruck beunruhigt mich. Nicht direkt Grauen, aber durchaus was Ähnliches. »Catherine und ich haben nur ganz wenig Zeit zusammen und möchten gern allein sein. Nehmt’s mir nicht übel, Leute.«

»Das ist nicht dein Ernst, oder? Die Mädels sind unterwegs, Harry und Ling kommen auch. Wir treffen uns alle bei dir. Waren gerade dort, und Mary hat uns gesagt, dass ihr hier seid.«

»Wir haben extra einen Babysitter engagiert«, fügt Celia hinzu. »Was wir dir auch sagen wollten, aber du warst nicht erreichbar.«

»Sollte eine Überraschung sein.« Jack lacht, aber Catherine starrt auf den Tisch und sagt kein Wort. Ich ergreife ihre Hand, die sich anfühlt wie ein toter Fisch. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Jack beugt sich so weit vor, dass Catherine ihn ansehen muss.

»Catherine?« Er hat sein strahlendstes Lächeln aufgesetzt. »Es ist doch bestimmt okay, wenn wir auf einen Sprung vorbeikommen, oder? Die Mädels wollen dich unbedingt sehen. Wir alle. Es ist so lange her.«

»Ja, klar. Ist okay.«

Ihre Stimme klingt tonlos und abweisend, und sie lächelt nicht.

»Aber wirklich nur kurz«, sage ich, und Jack schaut mich an und verdreht die Augen.

»Glaubst du doch selbst nicht«, erwidert er.

Jack und Celia folgen uns mit ihrem Land Rover, und während der gesamten Viertelstunde Fahrt ist Catherine schweigsam.

»Macht nichts«, sagt sie, als ich erkläre, dass ich keine Ahnung von diesem Besuch hatte. »Ist doch nett, dass sie mich sehen wollen. Aber ich kann nicht lange bleiben, ich muss nach Hause zurück.«

»Wir stehen das eine Stunde durch, dann werfe ich sie raus«, sage ich, und sie nickt.

»Okay«, sagt sie, aber die Stimmung ist komplett umgeschlagen, und etwas Düsteres, Trennendes steht zwischen uns. Es kommt mir vor, als sei Catherine von einem geladenen Elektrozaun umgeben. So würde ich sie darstellen, wenn ich sie jetzt malen sollte.

In der Bibliothek ist niemand, aber als wir uns der Küche nähern, hören wir das überbordende laute Lachen der Mädels, was ich liebe, auch nach all den Jahren.

»Vielleicht ist es schön, wenn ihr euch wiederseht«, sage ich, bevor wir reingehen.

Sie lächelt matt. »Für mich fühlt es sich eher an wie die Höhle des Löwen.«

Als wir reinkommen, steigt der Lärmpegel drastisch, Alexa kreischt lauthals: »Catherine! Das gibt’s doch nicht!«

Die beiden waren sich früher sehr nah, und es schmerzt mich heftig, dass auch diese Freundschaften durch die Trennung auseinandergerissen wurden.

Alexa fällt Catherine überschwänglich um den Hals, was ich wunderbar finde, was aber dazu führt, dass Rachel und ich uns, durch die beiden getrennt, wortlos anstarren. Die Stimmung wird durch das Eintreffen von Jack und Celia nicht entspannter, und ich habe den absurden Gedanken, dass alle hier im Raum durch Sex verbunden sind. Und irgendwie fühlt sich dieses uralte Beziehungsgeflecht, Hintergrund unseres selbstbezogenen Lebensstils, plötzlich unangenehm an. Die Dreierkombis: ich, Rachel, Catherine und Jack, Celia, Alexa.

»Cocktails?«, schlage ich vor. »Umziehen in die Bibliothek?«

Ich mixe Cosmopolitans – Wodka, Cranberrysaft, ein Schuss Grenadine, ein Spritzer Limonensaft – und hoffe, dass die Zutaten Wunder wirken werden. Celia zieht Catherine auf eines der Sofas, während wir anderen an der Bar abhängen. Es gäbe so viel zu sagen, aber nichts davon lässt sich aussprechen; keine Seltenheit in dieser Runde.

»Bitte ordentlich stark, Schatz, ja?«, sagt Rachel, was Bände spricht.

»Ist morgen nicht das Treffen mit Max?«, frage ich, weil mir der sehnlichst erwartete Termin plötzlich wieder einfällt.

»Ja. Und ich muss auch im Büro sein. Wahrscheinlich war es Irrsinn herzukommen, aber ich musste mich ablenken, sonst bin ich zu aufgeregt.«

Wir anderen äußern uns nicht dazu, wissen aber, dass sie wegen Catherine hier ist.

»Wo triffst du Max?«, fragt Jack.

»In so ’nem Burgerladen. Hat Hugo entschieden. Ich kann das nicht ab … allein diese schmierigen Tische. Aber Max steht wohl total auf Burger zurzeit.«

Als die Drinks fertig sind, kommt Harry rein, mit einer Flasche Don Julio Tequila, die er hochhält, seine zarte Frau am Arm. Ich würde am liebsten lauthals lachen bei diesem Anblick; weil die beiden wirklich ulkig aussehen zusammen, aber auch weil es so wunderbar ist, dass mein schüchterner Freund endlich die Liebe gefunden hat, was wir alle kaum noch zu hoffen wagten. Ling, diesmal von Kopf bis Fuß in Orange gekleidet, nimmt auch einen Drink, was mich wundert.

»Ich dachte, du trinkst keinen Alkohol?«

»Harry hat einen schlechten Einfluss auf mich«, antwortet sie und entblößt ihre kleinen Zähne bei einem charmanten Lächeln.

»Heißt so viel wie«, wirft Harry ein, »dass sie in dieser gottverlassenen Einöde vor Langeweile umkommt, wenn sie sich nicht wie wir irgendeine Sucht zulegt.«

Die anderen verziehen sich zu den Sofas, sodass Rachel und ich plötzlich allein sind.

»Also«, sagt sie, als sei damit alles über mich und Catherine gesagt. »Ich vermute mal, da steckt Liv dahinter. Deshalb war sie wohl auch bei der Beerdigung, oder?«

»Wie kommst du darauf?«

Rachel zuckt die Achseln. »Ist doch sonnenklar. Was wollte sie ansonsten dort? Liv kannte deine Mutter gar nicht. Was ist mit Catherines Mann? Und ihren Kindern?«

»Ihr Mann hatte eine Affäre, und sie haben sich eine Auszeit genommen, um nachzudenken. Ich kann nicht einschätzen, wie das weitergeht.«

»Ich hoffe nur, dass du dabei nicht verletzt wirst.«

»Das hoffe ich auch.«

Die Andeutung eines Lächelns, und mein Herz pocht heftig, denn darin kommt Rachels Wissen zum Ausdruck, dass ich anderthalb Jahrzehnte die falsche Frau geliebt habe, oder vielleicht auch die richtige, aber jedenfalls nicht sie. Sie nimmt einen großen Schluck von ihrem Drink.

»Ich bin immer für dich da, Lucian«, sagt sie dann und wendet sich ab, ich weiß dennoch, dass ihr Tränen in den Augen stehen.

»Ich auch für dich.« Aber sie geht schon zu den anderen.

Catherine sitzt jetzt zwischen Celia und Ling. Das Haar fällt Catherine ins Gesicht, sodass ich ihre Miene nicht erkennen kann, aber sie wirkt angespannt und sagt kaum etwas. Ich finde meine Freunde natürlich nicht so schrecklich. Meine langjährige Sexbeziehung mit Rachel trägt logischerweise nicht zur Entspanntheit bei, aber Catherines Schroffheit gegenüber Jack ist mir ein Rätsel. Vielleicht mochte sie ihn schon damals nicht?

Es passiert immer wieder, dass die Leute Jack falsch einschätzen. Er kommt ziemlich laut und so übertrieben selbstbewusst rüber, als sei er mit dem goldenen Löffel im Mund geboren, wobei das Gegenteil der Fall ist. Im letzten Jahr musste seinen Eltern das Schulgeld erlassen werden, er war nie im Urlaub gewesen, bis ich ihn mit achtzehn nach Paris mitnahm, und manchmal reichte das Geld bei ihnen zu Hause nicht mal für Heizöl. Die meisten Menschen begreifen nicht, dass Jack in Wirklichkeit extrem unsicher ist und seit jeher von dem Gefühl verfolgt wird, dass er trotz allem irgendwie immer zu kurz kommt. Tatsächlich wäre er gerne ich. Und das ungeachtet meiner Trinkermutter, meines toten Vaters und meiner gleichgültigen Schwestern. »Ich hätte gern dein Leben«, sagte er einmal spätabends, als wir einiges intus hatten. »Bedien dich, Bruder«, hatte ich geantwortet. »Nimm dir, was du brauchst.«

Harry dagegen ist Mr. Nice Guy, mit seinem altmodischen Charme und seinen exzellenten Manieren; vielleicht gelingt es Ling, ihn in die Realität des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu befördern, wir anderen haben es aufgegeben. Und unsere überdrehte temperamentvolle Alexa will einfach nur wieder mit Catherine befreundet sein. Da ist doch an sich nichts dabei, oder?

»Wie sieht’s mit Tequila aus?«, ruft Rachel quer durch den Raum, und einen Moment lang ist es still, weil wir alle gehört haben, dass sie schon leicht lallt.

»Vielleicht keine gute Idee, Rachel«, sagt Harry. »Du hast doch morgen dein Treffen mit Max. Da würde ich jetzt lieber keinen Tequila trinken.«

»Das ist albern! Du weißt genau, dass ich heftig feiern und am nächsten Tag fit sein kann!«

»Ja, aber es geht um Max, und du musst früh aufstehen und willst dich bestimmt gut fühlen.«

»Ach, scheiß drauf«, wirft Jack ein. »Gib ihr um Himmels willen einen. Ich brauch das jetzt auch.«

Er geht zur Anrichte, um eine Flasche zu holen. In diesem Moment blickt Celia auf.

»Jack? Ich hatte dem Babysitter gesagt, dass wir höchstens ein paar Stunden weg sind.«

»Du kannst ja schon mal heimfahren«, sagt Jack und fügt noch »Schatz« hinzu. Dann schaut er zum Sofa rüber. »Ich konnte doch noch nicht mal richtig mit Catherine reden.«

Catherine hat diese Bemerkung bestimmt gehört, reagiert aber nicht darauf.

Celia gibt nach, und alle sind spürbar erleichtert.

»Okay, wenn wir nicht später als elf nach Hause kommen«, sagt sie.

Jetzt wird Tequila eingegossen, acht Schnapsgläser stehen wie Arznei auf einem chinesischen Lacktablett. Der Abend nimmt an Fahrt auf.