Vor vier Monaten: Lucian
Rachel ist in einer Entzugsklinik. In Arizona, irgendeine krasse Klinik mitten in der Wüste, wo man nicht entkommen kann. An einem Sonntag, zwei Wochen nach ihrem Verschwinden, ruft sie an. Vorher durfte sie nicht telefonieren.
»Tut mir leid, dass ich dir nichts gesagt habe. Ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde. Noch als ich aus dem Flieger stieg, habe ich erwogen, wieder umzukehren.«
»Und wie läuft’s?«
»Gut, glaub ich.«
Sie klingt vorsichtig, zurückhaltend, gar nicht wie die alte Rachel, die immer entweder überschwänglich oder dumpf war, je nachdem, was sie intus hatte.
»Diesmal könnte es wirklich klappen. Ich will das unbedingt.«
Sie berichtet von ihren Tagen, die um halb sechs beginnen. Dann eine Stunde Meditation und Yoga, anschließend Frühstück, joggen, eine Gruppentherapiesitzung, Mittagessen. Entspannungszeit, in der man lesen oder spazieren gehen kann, dann Einzeltherapie.
»Und was denkt der Chefarzt über dich?«, frage ich und erwarte, dass Rachel lachen wird, aber sie tut es nicht. Sie schweigt, und ein kühler Wind scheint vom Atlantik durchs Telefon zu wehen, während sie offenbar nach den passenden Worten sucht.
»Ich habe schon viel über mich gelernt. Zum Beispiel, was gut für mich ist und was nicht.«
»Lass mich raten. Ich bin schlecht für dich?«
»Eher die Art, wie ich bin, wenn ich mit dir zusammen bin. Ergibt das Sinn?«
»Nicht so richtig. Du willst doch damit nicht sagen, dass ich dich zum Trinken veranlasse? Rachel, wenn du clean bist, werde ich das respektieren. Du weißt, wie sehr ich mir gewünscht habe, dass du in Entzug gehst. Ich würde sämtlichen Alkohol aus den Regalen räumen und stattdessen Scheißholunderlimo oder Limettensirup reinstellen, das weißt du.«
»Sei bitte nicht sauer auf mich. Es ist nur so: Wenn ich es schaffen will, muss ich die Gefühle vermeiden, die mich zum Trinken veranlassen. Ich glaube, wir wissen beide, dass ich dich immer geliebt habe, ohne die Hoffnung, dass meine Liebe jemals erwidert wird. Und diese Hoffnungslosigkeit hat mir nicht gutgetan. Bitte denk jetzt nicht, dass ich dir Vorwürfe mache. Ich versuche nur, mich selbst so stark wie möglich zu unterstützen.«
»Was willst du mir also sagen, Rachel?«
»Hugo hat mir versprochen, dass ich Max wieder treffen darf, wenn ich zwei Monate clean bleibe. Ich muss alles daransetzen, das zu schaffen. Du bist mein bester Freund, Lucian. Ich hoffe, du weißt das. Ich kann dich eine Zeit lang nicht sehen.«
Nach diesem Anruf soff ich erst mal eine ganze Flasche Gevrey-Chambertin leer, die ich bei mir trug, während ich im Haus herumrandalierte. In der Bibliothek riss ich Alexas violette Lichterkette von dem langen Nagel herunter, weil ich sie als unpassendes Symbol eines heiteren Lebens empfand. Dann fegte ich mit einer Handbewegung drei Tequilaflaschen zu Boden. Beseitigte das Chaos mit Handfeger und Wischmopp, was eine halbe Stunde dauerte. Danach stank ich so durchdringend süßsauer nach Tequila, dass ich endlich weinen konnte.
Aber in gewisser Weise ist es wohl sogar gut, meine Freunde eine Zeit lang nicht um mich zu haben, denn das gibt mir Zeit und Raum, um meine Beziehung mit Jack Stück für Stück und mit Behutsamkeit abzubauen. Ich will alles wissen über den Betrug meines ältesten Freundes und der Frau, die ich immer geliebt habe, werde es aber auf meine Art herausfinden. Hat sie angefangen? Mit einem Striptease vielleicht, wie sie es mal für mich gemacht hat – langsames Aufknöpfen, Abstreifen der Jeans, dabei die dunklen Augen auf mich gerichtet, mit einem Lächeln, das sie nicht unterdrücken konnte?
Ich zwinge mich zur Erinnerung an diesen Abend vor langer Zeit. Sehe sie tanzen, zu Wild Horses. Seither habe ich immer an sie gedacht, wenn ich den Song hörte. Sie war so wunderschön damals mit neunzehn, glücklich und unbefangen. Ich hatte sie niemals zuvor so betrunken erlebt, aber es war lustig und toll. Jack saß neben mir auf dem Sofa und sah auch zu, und jetzt frage ich mich, ob es Catherine damals wohl gefiel, von ihm beobachtet zu werden. Stand sie vielleicht ein bisschen auf ihn? Den umwerfend gut aussehenden Jack mit seinem strahlenden Lächeln? War sie geschmeichelt, gab es eine Spannung zwischen den beiden, ein Flirten, das mir entgangen war?
Catherine brauchte damals nicht viel Alkohol, um extrem betrunken zu sein. An einem Punkt lachte sie so heftig, dass sie sich auf den Boden legte.
»Brauch eine Trage«, sagte sie und blieb liegen, bis ich sie hochzog. Sie tanzte weiter, nicht mehr im Rhythmus, schwenkte dabei die Arme in der Luft. Da rief mein Onkel an, deprimiert nach einem Streit mit seinem Liebsten. Mein Onkel klang seltsam, und ich bekam sofort Angst um ihn. War er wahnsinnig genug, das Gleiche zu tun wie mein Vater?
Catherine versuchte mich aufzuhalten und schlang mir die Arme um den Hals.
»Du bist doch zu betrunken zum Fahren«, sagte sie. »Bleib bei mir.«
»Hört, hört, zu betrunken. Du wirst selbst in fünf Minuten eingeschlafen sein.«
Sie tanzte weiter, wiegte sich zur Musik, so versunken, dass ich nicht weiß, ob sie überhaupt bemerkte, wie ich wegging.
Als ich am nächsten Nachmittag zurückkam, war Jack allein im Haus. Jetzt wird mir klar, dass er gewusst haben muss, was mich erwartete: diese Katastrophennachricht auf meinem Skizzenblock, neben dem Bett, in dem sie vermutlich gevögelt hatten. Aber an seinem beiläufigen Hallo, dem flüchtigen Aufschauen vom Fernseher, hätte man es nicht ablesen können. Jack ist ein exzellenter Lügner.
»Als du losgefahren bist, ist sie ins Bett gegangen«, sagte er. »Und als ich aufstand, war sie schon weg.«
Abend für Abend saß Jack bei mir, wir tranken zusammen Whisky und versuchten, das Rätsel von Catherines Verschwinden zu lösen. Was mochte ich falsch gemacht haben? Jack ließ sich nie etwas anmerken; so betrunken wir auch waren, an seiner Geschichte änderte sich nichts. Catherine ging ins Bett, als ich aufbrach; er hatte sie seither nicht mehr gesehen.
Meine Gier, den Mann zu durchschauen, den ich besser als jeden anderen Menschen zu kennen glaubte, wird übermächtig, wächst sich zu einer regelrechten Obsession aus, ist das einzig Wichtige in meinem Leben, das Einzige, was noch zählt.