Jetzt
Man hat mir Kleidung gebracht, was wohl bedeutet, dass jemand anderes als meine Familie zu Besuch kommt. Normalerweise trage ich nur Jogginganzug und Pantoffeln, ein Outfit, das ich früher gehasst habe. Ich erkenne die Bluse, die man mir reicht; sie ist grau-weiß gestreift, mit kleinen schwarzen Punkten, ein geometrisches Muster, das mir vor den Augen verschwimmt.
»Ich helfe Ihnen gerne mit den Knöpfen, Liebes«, sagt Alison, die häufig gegen die Regeln verstößt und mir die Haare bürstet oder mir das Gesicht eincremt, obwohl ich das selbst tun soll. »Heute machen wir Sie ein bisschen hübsch.« Sie öffnet den Reißverschluss eines roten Kosmetiktäschchens, das früher mir gehört hat, aber ich empfinde keine Verbindung zu dieser Tasche einer Person, die es nicht mehr gibt.
Alison tupft mir Feuchtigkeitscreme auf Stirn, Wangen und Kinn und massiert sie kreisförmig ein. Meine Mutter hat das auch immer gemacht.
»Wie wär’s mit ein bisschen Make-up?«
Mehr Tupfer, mehr Massage. Ein weicher Pinsel streift über meinen Wangenknochen entlang, nicht darunter, wie man es laut Schminktipps machen soll.
»Und jetzt noch Lipgloss. So. Wie hübsch Sie aussehen! Bildschön!«
Das Säuseln eines Reißverschlusses, quietschende Gummisohlen auf Linoleum, dann eine Zeit lang Stille. Ich drehe mein geschminktes Gesicht zum Fenster und betrachte den Baum, meinen unerschütterlichen Freund, der jetzt in voller Frühlingsblüte steht. Natürlich denke ich an dich und diese kurze Zeit, die wir noch hatten, kostbare Zeit, in der wir unsere Geschichte ein wenig umschreiben konnten. Haben wir sie intensiv genug genossen? Ich weiß, dass ich nachts versuchte wach zu bleiben, um deinem Atem zu lauschen oder mich an deine warme Haut zu schmiegen. Und ich versuchte nur ans Jetzt zu denken, mir nicht über Zukunft oder Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen. Aber das ist mir nicht sonderlich gut gelungen, wie?
Alisons Quietschschritte sind wieder zu hören, dahinter schwerere lautere. Clogs. Ich weiß, wer so was trägt.
»Hier ist sie, Liebes. Ihre Freundin kommt Sie besuchen.«
Dann eine Stimme, die ich immer geliebt habe.
»Diese Bluse habe ich ihr geschenkt, Alison! Wie lieb, dass Sie ihr die angezogen haben.«
»Ich weiß doch, dass es Ihnen zu schaffen macht, wenn sie im Joggingzeug herumsitzt. Früher hat sie großen Wert auf ihr Äußeres gelegt, nicht wahr? Das wird schon wieder im Lauf der Zeit.«
Als Alison gegangen ist, spüre ich, wie Liv sich auf den Stuhl neben mir setzt. Sie ergreift meine rechte Hand und drückt sie, was wegen ihrer Ringe ein bisschen unangenehm ist.
»Hey«, sagt Liv nach einer Weile. »Ich hab ein paar Sachen dabei, die du anfassen kannst. Und du kannst daran riechen. Sachen, an die du dich vielleicht erinnerst.«
Diese Methode ist nicht neu, aber Liv hat sie noch nie ausprobiert. Ich hatte auch schon Daisys Plüsch-I-Aah und Joes Fußballtrikot und einen alten Kaschmirschal meiner Mutter in Händen, den ich früher unter meinem Kopfkissen aufbewahrt hatte. Ich habe nicht reagiert, weil das Nichts mir am allerliebsten ist. Jetzt allerdings geht das Nichts zur Neige, hat man mir gesagt.
»Früher oder später werden wir Sie entlassen und nach Hause zurückschicken, Catherine. Dann können wir Ihnen nicht mehr helfen.«
Dieser drohend näher rückende Termin ist mir ebenso bewusst wie die Tatsache, dass ich wieder mit meiner Familie kommunizieren muss. Wenn ich sprechen könnte, würde ich das sagen. Ich würde meinen Kindern sagen, dass ich sie liebe und dass ich mich irgendwo tief innen noch als Mutter und wohl auch als Ehefrau empfinde und das auch wieder sein will. Aber ich kann nicht sprechen; es sind keine Worte da, nur meine Träume, die von anderen Menschen immer wieder unterbrochen werden.
Liv dreht meinen Arm um und sprüht etwas Kühles, Feuchtes auf mein Handgelenk. Das finde ich unangenehm. Dann führt sie meinen Arm nach oben, und ein starker süßlicher Duft steigt mir in die Nase. Ich würde gern den Kopf abwenden, halte aber durch, indem ich ins Leere starre und die Nasenflügel weite.
»Du erinnerst dich doch bestimmt an diesen Duft, Catherine. Das ist Chanel No. 5. Ich habe es während des Studiums getragen, und du hast es mir immer gemopst, was mich geärgert hat. Schließlich habe ich dir eine Flasche zum Geburtstag geschenkt. Du hast es jeden Tag getragen, bis die Flasche leer war, aber sie hat jahrelang gehalten.«
Stumm sitzen wir beisammen, ich umgeben von diesen Parfumschwaden, bis Liv das Schweigen bricht.
»Möchtest du nicht mit mir sprechen, Catherine? Bitte. Tu es doch für mich. Um unserer Freundschaft willen.«
Nicht mit Liv sprechen zu können, der Person, mit der ich vermutlich am meisten in meinem Leben geredet habe, ist am schwersten für mich. Wenn Sam rausgeht, bleibt immer seine Wut im Raum zurück, aber bei Liv spüre ich ihren Schmerz.
Mehr Zeit vergeht, wie viel, weiß ich nicht. Dann legt mir Liv etwas in die Hände, ein Stück Karton, größer und dicker als ein normales Blatt Papier.
»Das ist eine Zeichnung von dir. Ich weiß, dass du sie sehen kannst. Es tut mir leid, wenn dir das wehtut, Catherine. Aber ich möchte, dass du sie dir ansiehst.«
Ich brauche nicht hinzuschauen, um zu wissen, worum es sich handelt; das spüre ich an den Fingerspitzen, und aus dem Augenwinkel erkenne ich die schwarzen Kohlestriche. Ich möchte allein sein, möchte in die Wärme hinter meinen Lidern sinken, in meine wirbelnden Träume abtauchen. Was sehe ich? Einen lichtdurchfluteten Raum, an drei Seiten verglast. Einen Arbeitstisch mit Pinseln, Farben, Bleistiften. Und dich. Dich, wie du mit gerunzelter Stirn und diesem nüchternen, sachlichen Blick auf mich schaust, während deine Hand rasch übers Papier gleitet, als du mein Haar schraffierst. Und ich bin glücklich dort in diesem Licht, wo keine Worte nötig sind. Wenn ich sprechen könnte, würde ich Liv um zweierlei bitten. Könnte ich dieses Bild bitte behalten, um es an mein Herz zu drücken. Und könnte sie jetzt gehen, sofort, bevor dieses Licht erlischt und du wieder verschwindest.