Vor vier Monaten: Catherine

Träume ich noch? Mir ist fast so, als ich im frühen Morgenlicht erwache und deine Haut spüre, den nackten Körper des Mannes, nach dem ich mich den längsten Teil meines Erwachsenenlebens gesehnt habe. Im Zwielicht nehme ich die fremden Umrisse der alten Möbel wahr. Der gewaltige Schrank mit dem Schnitzwerk, das an beiden Seiten geschwungen ist wie ein gezwirbelter Schnurrbart. Die Bücherregale, die eine ganze Wand einnehmen und von dir und deinem Onkel mit einer seltsamen Mischung bestückt wurden: Kunstbücher, eine Dickens-Gesamtausgabe, die unberührt wirkt, Thriller von Stephen King – »Das lese ich, wenn ich nicht schlafen kann«, hast du gesagt –, Bildbände mit Männerkörpern, unter anderem vom Fotografen Robert Mapplethorpe.

Ich habe Freude an diesem neuen, aktuellen Wissen über dein Haus, deine Gewohnheiten, deinen Alltag. Freude daran, deinen Schrank zu öffnen und die sorgfältig gebügelten Hemden zu betrachten (so viele weiße, ähnlich wie bei meiner Mutter, denke ich mit einem Anflug von Schmerz). Deine elektrische Zahnbürste in ihrem Edelstahlbecher zu sehen und dein Shampoo in der Dusche (Limone mit Basilikum, daher also der Zitrusduft). So viele Jahre war ich begierig nach Informationen über dich und musste mich mit läppischem Geschwätz aus der Zeitung begnügen, dass ich von den vielen Eindrücken regelrecht überwältigt bin. Jetzt lausche ich deinem ruhigen Atem und bin plötzlich sehr zufrieden. Ich bin froh, dass ich wach bin, würde am liebsten gar nicht schlafen, damit ich jeden Moment erleben und in mir verwahren kann, aber wozu? Für die Zeit, wenn ich wieder mit meiner kläglichen Schachtel voller Briefe und Erinnerungen allein zu Hause bin? Wie soll das jemals wieder möglich sein?

Deine schlafwarme Hand berührt meinen Schenkel.

»Du bist wach?«

So war es zu Anfang immer: Wir waren so aufeinander eingestimmt, dass wir sogar unseren Schlafrhythmus angepasst hatten. Ich weiß noch, wie ich von deinen Küssen wach wurde und wir uns dann auf diese magische, tranceartig langsame Art liebten, dass ich danach nie sicher war, ob es wirklich geschehen war oder ob ich geträumt hatte. Jetzt drehst du dich zu mir, legst die Arme um mich, und deine Lippen berühren meinen Nacken. Deine Hand streicht langsam über meinen Hals und meine Brust zu meinem Bauch, wo sie auf meinem Unterleib zur Ruhe kommt. Und mein Körper verlangt sofort nach dir, wie immer. Ich drehe mich auf den Rücken, und du legst dich auf mich, stützt dich auf einen Ellbogen, zeichnest mit dem Zeigefinger die Linien meines Gesichts nach, berührst mein Kinn, meine Nase, meine Augen.

»Es ist noch sehr früh«, flüstere ich.

»Lass uns keine Zeit mit Schlafen verschwenden«, antwortest du, auch flüsternd, und küsst mich. Deine Zunge spielt mit meiner, deine Hand gleitet zwischen meine Beine, und ich spüre deine Härte an meinem Schenkel. Hände, Finger, Zunge; ich weiß, was als Nächstes kommt, und weiß, dass ich schmelzen und in Flammen stehen werde.

Eine Stunde später sitzen wir auf unserem Hügel und trinken Kaffee aus einer Edelstahl-Thermoskanne. Es ist recht kühl, und ich kuschele mich in einen alten blauen Pulli von dir, den ich bis über die Knie gezogen habe. Wir haben die letzten Momente des Sonnenaufgangs erlebt, glutroter Himmel über der gewaltigen grauen Kathedrale von Wells und dem Glastonbury Tor. Von hier oben kann man die einzelnen Erhebungen der hügeligen Landschaft bestimmen: die Mendip Hills, die Quantocks, die Blackdown Hills. Die Formen erinnern mich an eine gigantische Rubens-Frau, die auf der Seite liegt, und du lachst, als ich das sage.

»Jetzt sehe ich nur noch Brüste und Hüften und dicke Bäuche.«

Du erzählst, dass du fast jeden Tag hier oben bist und mit deinem Handy Fotos machst.

»Man könnte meinen, das würde irgendwann langweilig, aber so ist es nicht. Die Stimmung verändert sich durch Licht und Wetter ständig, deshalb male ich diese Aussicht wohl auch so häufig. Und das wahre Wesen der Landschaft erfasse ich nur, indem ich sie so vielfältig wie möglich darstelle. Manchmal gelingt es gut, manchmal nicht. Aber ich komme ohnehin her, ob ich nun malen will oder nicht. Und wenn ich hier bin, weiß ich, dass ich Somerset niemals verlassen könnte.«

»Aber Shute Park könntest du doch ohnehin nicht aufgeben, selbst wenn du wolltest, oder? Du könntest das Anwesen doch gar nicht verkaufen?«

»Es soll in unserer Hand bleiben und in der männlichen Linie weitervererbt werden. Aber weder mein Onkel noch ich haben es geschafft, Vater zu werden. Aus unterschiedlichen Gründen allerdings.«

»Warum hast du nie geheiratet?« Die Frage ist ausgesprochen, bevor ich mich bremsen kann.

»Keine Ahnung. Ich hatte nie Lust drauf. Warum hast du Sam geheiratet?«

Mir wird flau bei der Erwähnung seines Namens.

»Ich glaube, weil ich mich bei ihm geborgen fühlte.«

»Und bei mir nicht?«

Nun bin ich in meine eigene Falle getappt. Nein, ich fühlte mich nicht geborgen bei dir, aber aus Gründen, die du nicht erahnen kannst. Ich kann dich nicht ansehen, fühle mich elend, schäme mich, und mir ist plötzlich schrecklich kalt. Ich brauchte Sam wegen seiner klaren moralischen Vorstellungen, wegen seiner hohen Meinung von mir. Aber wie soll ich dir das erzählen, ohne die Wahrheit über mein Verschwinden zu offenbaren?

Ich zwinge mich, langsam und regelmäßig zu atmen, ein und aus, ein und aus.

»Catherine?«

Du merkst natürlich, dass etwas nicht stimmt.

»Das war nicht der Grund.«

»Was dann?«

Die Dunkelheit rückt näher, aber wenn ich mich konzentriere, wenn ich ruhig bleibe, kann ich sie wegschieben.

»Ich hatte das Gefühl, dich nicht verdient zu haben.«

Wieder dringen die Worte aus meinem Mund, bevor ich sie daran hindern kann. Du spürst die Wahrheit, denn du stehst auf, beugst dich herunter und nimmst mich in die Arme, und ich lehne mich an dich und atme deinen Zitrusduft ein.

»Dummerchen«, sagst du, und wir betrachten den Himmel, der jetzt blassrosa geworden ist. »Wie kannst du nur so etwas denken?«

Den Rest des Vormittags verbringen wir in deinem Atelier, einem ehemaligen Stall aus Feldsteinen, an den auf drei Seiten eine Art Wintergarten aus Glas angebaut wurde. Wände und Decke sind weiß, und es ist so hell darin, dass mir fast die Augen schmerzen. Nur das Nötigste befindet sich in diesem Atelier: ein Arbeitstisch, auf dem Farbtuben und Skizzenblöcke liegen, ein Gefäß voller Bleistifte, ein rostfleckiges Waschbecken zum Auswaschen von Pinseln. Überall Stapel von Leinwänden: am Boden aufgeschichtet, an die Wand gelehnt, in einer Ecke ein besonders hoher, bedrohlich schiefer Haufen, der wie eine Installation wirkt.

Obwohl ich Besprechungen deiner letzten Ausstellung gelesen und mir im Internet einige deiner Gemälde angesehen habe, wird mir erst in diesem Moment klar, wie wichtig das Malen für dich ist. Es ist kein Hobby, sondern deine Berufung. Ich war wohl auf dieses Mediengeschwätz hereingefallen: der hedonistische reiche Typ, der ein dekadentes Leben im Überfluss führt. In all den Jahren habe ich so angestrengt versucht, ein Bild von dir aufrechtzuerhalten, dass ich darüber vergessen habe, wie du wirklich bist.

Dein Stil beeindruckt mich. Vier Bilder zeigen den Blick vom Hügel; auf einem zeichnet sich die Kathedrale in düsterem Grau vor einem Himmel ab, der wie heute Morgen in Rosé- und Orangetönen leuchtet. Es gibt auch Holzschnitte, deren grellrosa und limonengrün kolorierter Hintergrund die schwarzen Umrisse besonders zur Geltung bringt. Am besten gefällt mir ein Holzschnitt von einem gesichtslosen Mädchen mit Pagenschnitt und Ponyfransen, das sich an einen Stier lehnt. Dessen Hörner leuchten so feuerrot wie die Sonne hinter ihm am Himmel.

»Wer ist das?«, frage ich, und du beschreibst mir, wie dieses Bild vor deinem inneren Auge entstand, während du dir in London die Oper The Minotaur angesehen hast.

»Das passiert mir nicht oft, aber damals habe ich mich danach sofort ins Auto gesetzt, bin hierhergefahren und habe die ganze Nacht an dem Bild gearbeitet.«

Es steht außer Frage, dass du mich wieder porträtieren willst; du beginnst sofort Bleistifte zu spitzen, befestigst ein Blatt Papier an der Staffelei und sagst mir, ich soll mich irgendwo entspannt hinsetzen.

»Willst du den Pulli anbehalten?«, fragst du, und wir denken wohl beide an damals, als ich in deinem weißen Hemd auf dem Bett kniete. Jetzt hocke ich mich im Schneidersitz auf den Boden und schaue zu dir hoch, und das gefällt mir sehr gut, denn so kann ich dich in aller Ruhe betrachten. Sofort siehst du mich mit diesem distanzierten beobachtenden Blick an und legst los. So bist du also, denke ich, während der Bleistift übers Papier huscht und deine Hand in leichten schnellen Bewegungen etwas schraffiert – meine Haare? Den Pullover? Ich hab so viele Fragen, will dich aber nicht stören und mich außerdem selbst ganz und gar auf diesen Moment konzentrieren. Denn wenn ich wieder in meine Realität zurückkehre, möchte ich genau dieses Gefühl wachrufen können: endlich wieder eingehend betrachtet zu werden von dem Mann, der fünfzehn Jahre lang nur in meinem Inneren gelebt hat.