Jetzt
Sam und Greg, der Psychiater, reden wieder über mich, obwohl sie direkt vor mir stehen. Sie scheinen zu glauben, dass Menschen, die nicht sprechen, auch nicht hören können.
»Wir kennen den genauen Zeitpunkt, als die Dissoziation einsetzte«, sagt Greg. »Die Frage ist nur: Inwieweit erinnert sie sich an das Geschehen?«
»Sie glauben im Ernst, dass sie das nicht mehr weiß?«, erwidert Sam.
Es gefällt mir gar nicht, wie seine Stimme klingt; diese Worte schlängeln sich beunruhigend durch meinen Bauch, drücken mir die Kehle zu.
»Solange sie nicht spricht oder auf andere Weise mit uns kommuniziert, haben wir keinerlei Möglichkeit festzustellen, woran sie sich erinnert und woran nicht«, antwortet Greg. »Gegenwärtig ist alles noch Mutmaßung, aber in Fällen wie diesem – die nicht häufig vorkommen – wird das eigentliche Trauma meist verdrängt, weil es nicht verarbeitet werden kann.«
»Es liegt schon drei Monate zurück, Greg.« Sams Stimme klingt düster und angstvoll, und ich höre auch seine Frustration. »Wieso ändert sich überhaupt nichts? Will sie nicht gesund werden? Es kommt mir fast so vor.«
»Haben Sie schon einmal den Begriff La Belle Indifference gehört? Er stammt von Freud, der damit eine Unbekümmertheit von Patienten bezüglich ihrer Symptome bezeichnete. Doch diese Haltung dient dazu, unerträgliche Gefühle oder Erinnerungen auszublenden. Catherines Verstummen ist sozusagen ihre Methode, die Ereignisse in Shute Park zu vergessen. Und dafür zu sorgen, dass sie in Vergessenheit bleiben.«
»Was soll dann jetzt passieren, Greg? Wie soll es weitergehen?«
Sams Stimme klingt ruhig, aber ich spüre seine Wut nahezu körperlich.
»Wird sie wieder gesund? Werden Sie sie heilen können?«
»Ich weiß, dass diese Situation für Sie schwer zu ertragen ist. Aber gegenwärtig können wir die Entwicklung nicht ermessen. Das Allerwichtigste ist, dass Sie die Hoffnung nicht aufgeben, Sam. Und Sie müssen ihr unter allen Umständen Zeit lassen. Mehr können Sie vorerst nicht tun.«
Nachdem Greg rausgegangen ist, höre ich, wie Sam sich neben mich setzt, und ich weiß auch ohne hinzusehen, dass er weint. Er spricht nicht, verzichtet auf sein übliches Dauergerede, das immer gezwungen und künstlich klingt, weil es ihn – einen Mann, der für sein ökonomisches Sprechen bekannt ist – enorme Mühe kostet. Das Schweigen dauert so lange an, dass ich Sams Anwesenheit beinahe vergessen habe.
Als ich merke, dass er spricht, redet er gerade über einen Tag im letzten Sommer, den wir am Strand verbracht haben. In Lulworth Cove, sagt er. An der Juraküste. Wo es dieses berühmte Gesteinstor im Meer gibt, Durdle Door. Ein geologisches Wunder. Sam hat einen ganz bestimmten Tonfall, und es dauert eine Weile, bis ich spüre, worum es ihm geht. Er fragt mich, ob ich mich an das erinnern kann, was sich an diesem Tag damals ereignet hat. Und er meint damit nicht die obligatorische Klettertour auf die Felsen, damit man diesen eindrucksvollen Gesteinsbogen besonders gut sehen kann, mit Blick auf das Meer, das von oben fast karibisch türkisfarben wirkt. Auch nicht den Kauf des kleinen schäbigen Holzboots, in das wir uns alle auf Anhieb verguckten. Sam will vielmehr wissen, ob ich mich an das erinnere, was danach passiert ist. Und ich erinnere mich tatsächlich. Das war der Tag, an dem alles anders wurde. An dem ich, wie sich dann später herausstellte, den Weg zurück zu dir fand.