Vor vier Monaten: Lucian

Eigentlich hatte ich Jack direkt zur Rede stellen wollen. Aber dann kommt es anders. Mein Wissen verwandelt mich; ich beobachte nur und lasse mir Zeit. Die Tatsache, dass Jack – mein bester Freund, mein vermeintlicher Seelenbruder – weiterlebt, als sei alles ganz normal, gibt mir irgendwie Kraft. Für mich ist nichts mehr wie vorher.

Jack widert mich an. Nicht nur die unfassbare und quälende Tatsache, dass er mit Catherine Sex hatte, sondern auch, dass er seine Frau weiterhin mit Alexa betrügt. Das ist so achtlos und selbstsüchtig, geradezu bösartig. Jack ist nicht der Mensch, für den ich ihn gehalten habe, und das wird mir von Tag zu Tag klarer. Seit unserer letzten Begegnung am Morgen nach Lings Tod hat er sich nicht einmal gemeldet. Er weiß nichts von all den Verhören bei der Polizei, die ich durchgemacht habe, vom Ergebnis der Obduktion (Tod durch Ertrinken, vermutlich begünstigt durch Alkohol) und von Harrys miserablem Zustand.

Heute Morgen rief sein Butler an und sagte, Harry wünsche sich, dass Rachel, Alexa und ich ihn besuchen sollten. Während der Fahrt spricht keiner von uns, aber ich spüre, dass wir alle im gleichen Zustand sind. Als wir vor der Haustür stehen, wischt Rachel sich Tränen vom Gesicht. Beim letzten Mal, als ich hier stand, war Catherine an meiner Seite. Aber daran darf ich jetzt nicht denken, sonst kollabiere ich. Für diese Begegnung mit Harry brauche ich übermenschliche Kräfte

Filip sieht verstört und bleich aus, als er uns aufmacht. Der Butler ist seit mindestens fünf Jahren bei Harry und weiß – wie Mary bei mir – viel mehr über Harrys Leben, als unser Freund uns zeigen will. Als wir reingehen, sagt Filip: »Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber Harry hat es sich anders überlegt. Er möchte nur Lucian sehen.«

»Natürlich, wenn er das so will«, sagt Alexa. »Wie geht es ihm?«

Filip schüttelt nur den Kopf.

Der dunkelblaue Treppenläufer liegt da schon ewig, und ich denke daran, wie oft ich in meiner Jugend hier war. Es riecht noch immer nach Bohnerwachs und Büchern mit Ledereinband, aber ein bisschen auch nach den polnischen frittierten Klößchen, die Harry so liebt. Ansonsten ist alles beim Alten: die Porträts von grimmig blickenden Ahnen, der geschmacklose gigantische Kristalllüster im ersten Stock. Ob Ling das Haus wohl im Laufe der Zeit verändert hätte? Hätte sie mehr Licht und Behaglichkeit in diese strenge, steife Atmosphäre gebracht? Oder Harry gar überredet, das Haus zu verkaufen und stattdessen in einem entspannteren Ambiente zu leben, im Stil von Celias und Jacks Gehöft? Ich spüre sofort wieder die scharfen Stiche des Hasses.

Ich atme zu hastig, als ich Harrys Zimmer betrete. Es ist stockfinster, die dicken Samtvorhänge sperren die grelle Nachmittagssonne aus.

»Harry, ich bin’s. Kann ich die Vorhänge einen winzigen Spalt aufziehen? Ich kann nichts sehen.«

»Ich mache Licht.«

Im matten bedrückenden Dämmerlicht der Nachttischlampe sehe ich Lings knallbunte Kleider auf dem Sessel, ihre rosa Haarbürste auf der Frisierkommode, neben einem Foto von dem glücklich strahlenden Paar in einem Tuk-Tuk in Bangkok. Harry liegt in Winterkleidung auf dem Bett: Cordhosen, Hemd, Pulli, dicke Wollsocken.

Weil ich Lings Kleider auf dem Sessel nicht berühren möchte, setze ich mich auf den Bettrand. Suche nach passenden Worten, um mein Mitgefühl zu vermitteln. Mir fällt etwas ein, das Catherine gesagt hat, vor nicht einmal einer Woche, doch es kommt mir jetzt wie ein Fragment aus einem halb vergessenen Traum vor: Wenn man nicht schon mal einen geliebten Menschen verloren hat, kann man nicht wissen, wie sich das anfühlt. Man meint es zu wissen, aber es ist nicht so. Die Abwesenheit dieses Menschen ist überall, man kann ihr nicht entkommen.

So geht es mir jetzt mit Catherine. Sie ist nirgendwo und überall, und mein Bild von ihr ist für immer verändert. »Es tut mir so furchtbar leid, Harry. Ich weiß, wie schlimm das für dich ist.«

Harry nickt und wendet den Kopf ab.

»Du hast sie so sehr geliebt.«

Wieder ein Nicken, ein heftiger Atemzug, mehr nicht. Ich schaue im Zimmer umher. Ling ist überall. Die Sneakers, die sie trug, als ich sie kennenlernte, stehen ordentlich am Fußende des Bettes. Ihr Handy mit der gelben Hülle liegt auf dem zweiten Nachttisch. Ich stelle mir vor, wie Harry ihre Nachrichten und Fotos durchscrollt, nach etwas sucht, das sie wieder zurückbringt, wenn auch nur für einen Augenblick. Nach der Trennung von Catherine damals wich Harry kaum von meiner Seite. Seine Fürsorge machte mich fast wahnsinnig, ich wollte allein sein mit meiner Wut, meinem Selbstmitleid, dem Alkohol. Aber seine Aufmerksamkeit war es dann, die mir das Leben rettete, eine Ahnung, die Harry dazu brachte, mitten in der Nacht zu mir zu fahren. Und jetzt, in diesem abgedunkelten Zimmer, überlege ich angestrengt, wie ich ihm das Leben retten kann.

»Ich bring dich da durch«, sage ich. »Wir gehen es langsam an. Erst Minuten, dann Stunden.«

»Weiß nicht, ob ich das schaffe. Ob ich das überhaupt schaffen will. Wozu denn?«

Es ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt für philosophische Erörterungen. Wenn man Liebe findet in seinem Leben, ist sie ein Segen, aber wenn sie einem entrissen wird, wie bei Harry und mir, bricht die Welt in Stücke. Hass steigt in mir auf, als ich an den wahren Grund für die Trennung damals denke.

Harry stößt einen tiefen, langen Seufzer aus.

»Ich habe Ling nicht genügend beschützt, und jetzt ist sie nicht mehr da. Es wäre besser für sie, wenn sie mich nie kennengelernt hätte. Wenn sie in Bangkok geblieben wäre.«

»Das darfst du nicht sagen, Harry. Ling hat dich geliebt. Du bist nicht verantwortlich für das, was passiert ist.«

»Glaubst du das wirklich?«

Harry sieht mich jetzt zum ersten Mal richtig an, und es fällt mir schwer, seinen Blick auszuhalten. Denn letztlich ist unsere gesamte Freundesclique verantwortlich. Im Nachhinein denke ich, dass wir schon lange auf irgend so eine Katastrophe zugesteuert sind. Rachel hat vor Langem das Sorgerecht für ihr Kind verloren, warum sind wir nicht damals schon aufgewacht? Und ich hätte auch dafür sorgen müssen, dass sie ihr Treffen mit Max einhält, denn in Wahrheit ist er das Einzige, was ihr wirklich wichtig ist im Leben. Auch so eine Katastrophe, die wir nicht verhindert haben. Und wieso haben wir alle, Harry eingeschlossen, nicht mehr Sorge getragen für Ling, die noch ein halbes Kind war und sich mit unserer hermetischen Welt und ihren seltsamen Regeln nicht auskannte? Jahrelang hatten wir uns selbstherrlich abgeschirmt, hatten unseren zügellosen verantwortungslosen Lebensstil zum Ehrenkodex erklärt – dabei war genau das Gegenteil der Fall. Verantwortungslos und menschenverachtend haben wir uns letztlich verhalten.

»Ich muss dich um etwas bitten, Lucian.«

»Jederzeit.«

»Lings Bestattung. Ich schaff das nicht. Jedes Mal wenn ich daran denke, verzweifle ich. Ich kann einfach nicht an Särge, Blumen, Musik oder Gebete denken.«

»Soll ich die Organisation übernehmen?«

»Würdest du das für mich tun?«

Wir sehen uns an, Freunde seit vielen Jahren – sind es schon zwanzig? In den drei Tagen seit Lings Tod scheint Harry um zehn Jahre gealtert zu sein. Mit seiner Halbglatze sah er immer schon älter aus als wir anderen, aber jetzt könnte man ihn für fünfzig halten.

»Natürlich. Ich tu alles für dich.«

»Es muss genau so sein, wie Ling es sich gewünscht hätte.«

Ich wundere mich, dass die beiden in der kurzen Zeit, die sie zusammen waren, über Bestattungen gesprochen haben.

»Ein Mittagessen. Höchstens fünfzig Leute. Thailändisches Essen. Ganz viele Farben, Blumen, Kerzen und all so was. Verstehst du?«

Und mir wird schlagartig bewusst, was Harry mir da anvertraut: Er möchte, dass ich ein Hochzeitsfest für ihn und seine tote Frau ausrichte.