Vor vier Monaten: Catherine

Liv ist im Rosa Zimmer untergebracht, einem Raum, der übertrieben feminin wirkt und vermutlich noch von Lucians Onkel gestaltet wurde. Auf der Tapete leuchten dunkelrote Rosen, auf der Kommode liegt ein hellrosa Rüschendeckchen, die rosa Tagesdecken haben ein altmodisches Blumenmuster. Liv findet das super.

Wir schweigen beide, während sie ihren Koffer auspackt und ein goldenes Kleid für sich und ein dunkelblaues für mich an den Schrank hängt. Nachdem Mary den Tee gebracht hat – silberne Kanne, hauchdünne Porzellantassen mit Goldhenkeln –, setzen wir uns auf die zwei Betten.

»Harry hat mich heute Morgen angerufen«, sagt Liv. »Und mich gebeten, dich zum Bleiben zu überreden. Es schien ihm viel daran zu liegen.«

»Er möchte, dass Lucian und ich auch so ein Happy End bekommen wie er und Ling. Aber das geht eben nicht.«

»Wegen Sam und den Kindern?«

»Natürlich. Aus welchem Grund sonst?«

»Ich weiß aber, dass du Lucian liebst.«

Ich nicke, bringe jedoch kein Wort hervor. Habe einen heftigen Schmerz in der Brust.

»Und ich glaube, dass er dich auch liebt.«

»Ach, Liv, das glaube ich doch auch. Wir können noch nicht darüber sprechen, doch das Thema ist natürlich ständig da. Keiner von uns beiden hat damit gerechnet, dass wir eine zweite Chance bekommen.«

»Aber das ist es doch genau, verstehst du nicht? Das ist eure zweite Chance, und wenn du jetzt nicht bleibst, machst du das Gleiche wie damals: Du flüchtest.«

»Das kann man nicht vergleichen, Liv. Jetzt bin ich verheiratet und habe zwei Kinder.«

Liv schaut mich an und bleibt stumm, doch ich sehe ihr an, was sie denkt.

Liv beugt sich vor und ergreift meine Hand.

»Findest du es nicht seltsam, dass Harry mich heute angerufen hat? Er klang so drängend, als mache er sich furchtbare Sorgen. Als hätte er Angst um Lucian.«

»Harry fühlt sich immer für Lucian verantwortlich. Du weißt doch, wie nah sich die beiden sind.«

Eine unschöne Erinnerung kehrt zurück, die mich noch heute mit Scham erfüllt. Harry, der an die Tür unseres Hauses in Bristol hämmerte, was ihm gar nicht ähnlich sah. »Catherine! Ich weiß, dass du da bist! Mach bitte auf.«

Ich öffnete, am helllichten Tag im Schlafanzug und mit ungewaschenen Haaren, in miserabler Verfassung.

»Ich will nicht darüber reden«, sagte ich so entschieden, wie ich mich gar nicht fühlte.

»Ich auch nicht«, erwiderte Harry. »Ich möchte dich nur um etwas bitten. Versprich mir, dass du nie wieder auch nur in seine Nähe kommst. Versprich mir, dass du ihn in Ruhe lässt.«

In Ruhe lassen. So feindselige Worte. Die ich verdient hatte, aber aus einem Grund, den Harry nicht ahnen konnte.

Der Argwohn deiner Freunde, Jacks verstörende Anwesenheit und das grauenvolle gemeinsame Geheimnis … Es gibt viele Gründe abzureisen. Aber all das kann ich Liv nicht erklären, ohne den wahren Grund der Trennung damals zu enthüllen. Und ich will einfach nicht, dass sie mich so sehen muss, wie ich selbst mich sehe.

»Hör mal«, sagt Liv. »Wegen dir habe ich all die Jahre den Kontakt zu Lucian aufrechterhalten. Weil ich weiß, wie sehr du es bereust, ihn verlassen zu haben. Und weil ich weiß, wie furchtbar er dir fehlt. Lauf jetzt nicht wieder davon, Catherine. Tu ihm das nicht an und dir selbst auch nicht. Du hast eine neue Chance. Nutze sie.«

»Und Sam? Joe und Daisy? Ich kann sie doch nicht einfach im Stich lassen.«

Aber ich denke schon darüber nach, wie ich Sam die Wahrheit sagen werde. Wie ich ihm gestehen werde, dass ich dich noch immer liebe und dass ich nicht mehr ohne dich leben kann.

Als ich eine Stunde später in dem dunkelblauen Kleid die Treppe runtergehe, starrst du mich einen Moment lang verblüfft an. Dann breitet sich ein Lächeln auf deinem Gesicht aus, das sich zu einem glücklichen Grinsen und schließlich zu einem Lachen auswächst. Ich bin so ergriffen, dass ich keine Luft kriege.

»Du bleibst?«, fragst du, und ich renne die letzten Stufen runter und falle dir in die Arme, und du hebst mich hoch wie ein Kind.

»Sieht so aus, oder?«, sage ich, und wir küssen uns und können nicht mehr aufhören, obwohl Liv hinter mir steht und das Personal sich bemühen muss, dezent wegzuschauen.

»Ich bin so glücklich«, sagst du, ohne mich wieder abzusetzen, und ich murmle: »Ich auch, ich auch.« Und wie immer verbinden sich unsere Gedanken gleichzeitig, denn du flüsterst: »Ich hätte es nicht ertragen, wenn du wieder weggegangen wärst«, und ich sage: »Ich gehe nicht weg«, und obwohl wir wissen, dass es sich nur um eine Nacht handelt, fühlt es sich doch an, als sei etwas entschieden worden.

Die erste Stunde des Festes unterhalte ich mich nur mit Liv, und wir bestaunen das Geschehen. Die Angestellten – fast genauso viele wie Gäste – sind extrem attraktive Frauen und Männer in engen schwarzen Blusen oder Hemden, überall sofort zur Stelle mit der Frage: »Was kann ich Ihnen von der Bar bringen? Champagner oder etwas anderes?« Wir nehmen Champagner. Liv ist begeistert vom Geschmack, und ich erzähle ihr, dass es alter Pol Roger ist, dein Lieblingschampagner.

»Verstehe«, sagt Liv mit hochgezogenen Augenbrauen. »Schau mal, da kommt Jack mit seiner Frau.«

Als er mich überschwänglich begrüßt, erstarre ich innerlich – seine Lippen an meiner Wange, der Geruch seines Aftershaves, der mir nach all den Jahren noch präsent ist. Ich zwinge mich, ihn diesmal genau anzusehen und die Ruhe zu bewahren. Schmaler maßgeschneiderter grauer Anzug, schwarzes Seidenhemd, Sonnenbrille, hinter der die blauen Augen verborgen bleiben, die Waffe, mit der er Celia und Alexa und sogar mich herumgekriegt hat.

Celia erinnert mit ihrem trägerlosen rosa Ballkleid ein bisschen an Prinzessin Diana und Dallas, sieht aber toll aus und – wie Ling in der Küche – begrüßt sie mich so herzlich, als seien wir schon lange befreundet. Außenseiterbenehmen, denke ich, als wir uns umarmen, da muss man zusammenhalten; Celia, Ling und ich werden niemals wirklich Teil dieser Fünfer-Clique sein.

Liv und ich setzen uns an der Bar am Pool auf zwei Hocker und studieren die Gäste.

»Schau dir nur diese Kleider, die Frisuren, den Schmuck an«, sagt Liv. »Alle sehen erlesen aus. Weil sie genügend Zeit und Geld für so was haben.«

Kurz darauf fügt sie hinzu: »Es stimmt wirklich, dass reiche Leute anders sind. Hast du bisher jemanden Danke sagen hören?«

Wir sehen zu, wie diverse High-Society-Ladys Cocktails ordern, von denen wir noch nie gehört haben.

»Zwei Island Margaritas und einen Old Fashioned.«

Dann nehmen sie die Gläser entgegen, ohne das Gespräch zu unterbrechen, ohne das Personal eines Blickes zu würdigen.

Du kommst herein, umwerfend in deinem dunklen Anzug und weißen Hemd, und die anderen weichen beiseite, um dem berühmten Gastgeber Platz zu machen. Du lächelst mir zu, wirst aber in mehrere Gespräche verwickelt, und es dauert, bis du bei uns bist.

»Endlich«, sagst du und legst mir den Arm um die Schulter. »Warum wollen alle mit mir reden? Einen Martini, bitte«, sagst du zum Bartender, und Liv wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu und lächelt. »Was möchtet ihr beide?«

Du berichtest, dass das Essen auf dem Rasen serviert wird und Harry und Ling uns einen Tisch freihalten. »Da ist Platz für uns alle«, sagst du, was mich sofort wieder in Anspannung versetzt, weil das bestimmt Jack einbezieht.

Das Arrangement im Festzelt ist atemberaubend schön. Die Holztische und -bänke würden rustikal wirken, wenn nicht Aberhunderte von Kerzen auf Messingleuchtern und in flachen bunten Gläsern flackern würden. Jedes Gedeck besteht aus langstieligen Gläsern für Rotwein und Weißwein, einer Champagnerflöte, einem glitzernden Wasserglas und einem Beilagenteller mit Goldmuster. Auf jedem Tisch steht eine goldene Vase mit blauen und cremeweißen Rosen. Ich sitze zwischen dir und Liv, gegenüber von Harry und Ling. Jack, Rachel und Charlotte Lomax mit ihrem Mann sind aber nicht weit entfernt, sodass wir sie hören können. Und Charlotte, braungebrannt und in rückenfreiem bodenlangem Kleid, legt auch gleich los.

»Catherine! Ich hab gehört, dass du hier bist. Mit dir hätte ich auf einer Party von Lucian nun wirklich nicht gerechnet. Erinnerst du dich noch an Johnnie?«

Sie tätschelt ihrem Mann den Arm, ohne den Blick von mir zu wenden. Ja, Charlotte, ich erinnere mich noch an den langhaarigen Golf-GTI-Fahrer, der jedes Semester in der ersten Woche im Casino sein Studiendarlehen verspielte und hinterher im Pub damit prahlte.

»Wie geht’s deinem Mann?«, fragt Charlotte, unterdrücktes Lachen in der Stimme.

Sie wartet nicht auf meine Erwiderung, sondern raunt Jack etwas zu, und ich konzentriere mich auf Ling mir gegenüber, die in ihrem zitronengelben Cheongsam heute besonders bezaubernd aussieht. Ich spüre, dass sie – wie ich – nicht gerne über sich selbst spricht, nicht aus Scham allerdings, sondern eher aus Zurückhaltung. Aber da Jack und Charlotte sich jetzt garantiert über mich auslassen, bleibt mir nichts anderes übrig, als Ling in ein Gespräch zu verwickeln. Ich frage nach ihren Geschwistern, und sie erzählt von ihrem Bruder, dessen Studium sie zwei Jahre lang finanziert hat, bis er wegen Alkoholexzessen und Abwesenheit von der Uni flog; von der jüngeren Schwester, die als Kinderfrau in Hongkong arbeitet; den Zwillingen, Junge und Mädchen, die noch bei den Eltern wohnen, jeden Tag zu Fuß acht Kilometer zur Schule gehen, nachmittags im Fluss schwimmen und abends unterm Sternenhimmel mit der Familie Reis und Bratfisch essen.

Ling lächelt mich an. »Ich freue mich, dass du geblieben bist, Catherine. Eine gute Entscheidung.«

»Ich hoffe es.«

Es fällt mir schwer, mich zu entspannen, solange Jack in der Nähe ist.

Ling scheint das wiederum zu erspüren.

»Es wird sicher leichter«, sagt sie, »wenn du alle öfter siehst.« Leiser fügt sie hinzu: »Niemand hat das Recht, dich zu verurteilen.«

»Ach, Ling.« Ihre Feinfühligkeit beeindruckt mich zutiefst, und plötzlich denke ich, dass ich ihr vielleicht alles erzählen könnte, weil ich mir sicher bin, dass sie mich verstehen wird.

»Hat Ling dir gesagt, dass wir noch eine große Hochzeitsfeier machen wollen?«, fragt Harry und beugt sich vor, damit ich ihn in dem Stimmengewirr verstehen kann. »Zuerst Gottesdienst in der Kapelle, dann ein traditionelles thailändisches Bankett, das zwei Chefköche aus Bristol zubereiten.«

Er ergreift Lings zarte Hand mit dem gewaltigen Diamantring und küsst sie.

»Ling will alles selbst machen, aber das werde ich nicht zulassen.«

»Du kommst doch bestimmt auch, Catherine, oder?«, fragt Ling, und ich antworte lächelnd: »Ja, bestimmt.«

Harry fügt hinzu: »Ich hoffe sehr, dass ihr eine Lösung findet, Lucian und du. Ich weiß wohl, dass die Situation kompliziert ist, aber ich freue mich sehr, euch wieder zusammen zu sehen.«

Du hast das mitgehört und küsst mich auf die Wange.

»Wir arbeiten dran«, sagst du, und dann ganz leise zu mir: »Haben wir eine Chance?«

Ich antworte: »Ich wüsste nicht, wie wir uns jemals wieder trennen sollten«, und das ist die Wahrheit.

Als Harry dich fragt, ob du sein Trauzeuge sein möchtest – »Das würde uns beiden viel bedeuten« –, springst du auf und bestellst bei einer Kellnerin mehr Champagner. Es gibt freudige Küsse und Umarmungen in der Runde, und als mein Glas halb leer ist, merke ich, dass ich angetrunken bin, und dieses Gefühl kann ich nicht ausstehen. Ich kann es nicht leiden, wenn ich mich nicht klar fühle im Kopf, wenn mein Körper zu entspannt wird, weil diese Gelöstheit nur allzu leicht Erinnerungen auf den Plan ruft, die ich unterdrücken möchte, was mir gelingt, indem ich mich auf kleinste Details meiner Umgebung konzentriere.

Du unterhältst dich mit Liv und merkst nicht, dass ich aufstehe.

»Bin gleich wieder da«, sage ich zu Liv und verlasse das Zelt. Draußen atme ich tief durch und konzentriere mich auf die Farbe des Himmels im Zwielicht; ich würde sie »Mitternachtsblau« nennen, aber dir würde bestimmt noch ein anderes Wort einfallen. Vom Garten führt ein roter Teppich ins Zelt, eine hübsche ironische Anspielung Andrews. Und als könnte es nicht anders sein, geht in diesem Augenblick Jack ins Zelt zurück, allein, sodass niemand mir zur Seite stehen kann.

Er lässt eine brennende Kippe auf den roten Teppich fallen, tritt sie mit dem Absatz aus. Der coole dunkelgraue Anzug hat verdächtige Ähnlichkeit mit jenem, den du trägst. Nach all den Jahren scheint er dich noch immer nachzuahmen, will noch immer so sein wie du. Vielleicht sollte ich eher Mitleid empfinden für Jack, der wohl nicht nur als Junge, sondern auch als Erwachsener alles tun würde, um deine Zuwendung zu bekommen und so zu sein wie du. Aber ich kann die letzte Szene mit Jack nicht vergessen, damals in der Küche, als meine Welt in Stücke brach. Ich spüre die Scham, die ich nie mehr losgeworden bin, aber auch Wut. Jack hat damals dafür gesorgt, dass ich dich nie mehr wiedersehen konnte.

Wie sein Vater hat er eine fatale Neigung überzureagieren.

Warum hat nicht Jack aus deinem Leben verschwinden können? Warum musste ich es tun? Wieso hat er nicht verhindert, dass ich so betrunken wurde? Und weshalb hat er uns beiden nicht Einhalt geboten, wo er doch wusste, dass dich das zerstören würde?

»Du hast es ihm nie gesagt, oder?«, fragt Jack jetzt.

Seine Stimme klingt sanfter als sonst. Ich schüttle den Kopf.

»Dann wüsste ich es nämlich, weil er wahrscheinlich versucht hätte mich umzubringen.« Jack lacht. »Na ja, vielleicht ist das übertrieben.«

Sobald ich Jack ansehe, setzen die Erinnerungen ein. Sie sind verschwommen, aber ich sehe noch seine leuchtend blauen Augen im Dämmerlicht, die glitzernden Zähne, die muskulösen Arme, als er sich über mir aufstützte.

Wenn man eine Erinnerung nicht ertragen möchte, kann man sich leicht davon entfernen. Das habe ich nach dem Tod meiner Mutter so durchgezogen.

»Catherine?«

Ich höre Jacks Stimme und verstehe, dass er mit mir sprechen will. Aber ich habe keine Worte. Für ihn nicht. Und nach einer Weile, mindestens einer Minute, sehe ich ihm nach, als er weggeht.