Vor vier Monaten: Lucian
Rachel sitzt in der Küche, isst Kedgeree und starrt auf ihr Handy.
»Guten Morgen, Liebling«, sagt sie. »Na ja, eigentlich Nachmittag. Hab grad eine Nachricht von Max gekriegt. Er will mich sehen! Ich freu mich so!«
Ah ja. Max, ihr Sohn. Die Freunde und ich hatten ein paar Jahre als Ersatzeltern fungiert, auf unsere chaotische planlose Art, aber als Max sieben war, verlor Rachel das Sorgerecht. Brach ihr natürlich das Herz, obwohl sie das nie zugibt, aber ich sehe die Fältchen an ihren Augen und fürchte, dass sie sich irgendwann zu einer Leidensmiene auswachsen werden. Rachel verließ ihren Mann Hugo, einstiger Investmentbanker-Partyboy, inzwischen strenger Teetrinker und Marathonläufer, als das Kind zwei Jahre alt war. Drogen hatten Rachel und ihren Mann zusammengehalten und sie dann auch auseinandergetrieben. Hugo ist inzwischen Gesundheitsfreak – Grünkohl-Smoothies, Hot Yoga, das ganze Programm –, Rachel noch immer Anwärterin für die Entzugsklinik. Ich habe einmal dafür gezahlt, dreitausend Scheine – auch wenn Geld keine Rolle spielt –, nur damit sie dort durch die Tür trat. Drei Tage später entließ sich Rachel im Alleingang und kreuzte bei irgendeiner Geburtstagsparty auf. Als sie unsere geschockten Gesichter sah, sagte sie mit ihrer typischen Lässigkeit: »Ich bin Rachel, und ich habe kein Drogenproblem.«
Jetzt sage ich zu ihr: »Ich wusste, dass er’s irgendwann hinkriegen würde, Rachel.«
Dann beuge ich mich zu ihr runter und lege den Arm um sie, und sie lehnt den Kopf an meine Schulter. So findet uns Alexa vor, als sie mit wilder Mähne und dunklen Pandaringen unter den Augen in die Küche spaziert kommt.
»Was ist denn hier los? Warum das Geturtel?«
»Max hat mir heute Morgen geschrieben. Er möchte mich sehen.«
»Riesenüberraschung. Natürlich will er dich sehen! Du bist seine Mutter!«
Alexa lässt sich auf dem Barhocker neben Rachel nieder, küsst sie auf die Wange und lädt sich einen Teller mit Kedgeree voll.
Das Telefon klingelt.
»Wahrscheinlich Jack«, sagt Alexa, mit diesem hoffnungsvollen Unterton, der immer da ist. Während des Studiums waren die beiden ein Paar, wenn man mal absieht von den erbitterten Streits, Jacks permanentem Flirten, ihren notorischen Racheakten, den Trennungen und Versöhnungen, die für den Freundeskreis schon zur Tagesordnung gehörten. Vor drei Jahren lernte Jack während einer Trennungsphase von Alexa Celia kennen, und die hysterischen Ausbrüche fanden ein Ende. Aber ich merke, wie Alexa ihn ansieht, und fürchte, dass sie ihn noch immer liebt.
Doch nicht Jack ist am Telefon, sondern Harry, der uns zu Bloody Marys einlädt.
»Dachte, das wäre passend«, sagt er. »Filip mixt sie gerade.«
Filip ist Harrys polnischer Butler, der mit seiner Frau und zwei erwachsenen Söhnen das Anwesen betreut. Der Mann macht exzellente Bloody Marys.
Harry zögert und sucht nach den richtigen Worten.
»Alles okay mit dir?«, fragt er dann.
Harry weiß besser als jeder andere um meine Neigung zum Kollabieren. In unserer zwei Jahrzehnte währenden Freundschaft sind wir durch die Hochs ebenso verbunden wie durch die Tiefs, und bei mir gab es ein besonders übles.
»Alles gut«, antworte ich mechanisch. Aber als ich auflege, frage ich mich, ob das wirklich stimmt. Ein knappes Vierteljahrhundert nach meinem Vater ist gerade meine Mutter gestorben, und nun bin ich offiziell das, als was ich mich immer schon gefühlt habe: eine Waise. Irgendwie ist »alles gut« nicht ganz zutreffend für meinen Zustand.
Harrys Anwesen Eastcott Grange, acht Kilometer weiter an der gleichen Straße, ist ein wuchtiger grauer Klotz aus der frühen viktorianischen Zeit. Es wurde erbaut, nachdem ein Feuer das erste Haus zerstört hatte, und dann von Generation zu Generation weitervererbt, sozusagen in Tweed verpackt. In Somerset, der romantischen Landschaft, die man mit gutem Käse, Äpfeln, Cider und Druiden verbindet, mit ihren sanften grünen Hügeln und sahneweißen Häusern, ist dieses Anwesen vollkommen fehl am Platz. Manchmal denke ich, dass die strenge Kühle von Harrys Elternhaus, das mich immer irgendwie an Knast erinnert, anteilig schuld ist an seiner Unfähigkeit im Umgang mit Frauen. Wenn man in einer Atmosphäre von Unterdrückung aufwächst, prägt das.
Als Filip, der Butler, die Tür öffnet, hallt das Innere – mit Marmorböden, irgendwelchen Statuen, dem ganzen protzigen Plunder – wider von Klavierklängen. Ragtime ist Harrys Spezialität, und ich fühle mich immer gleich besser und zuversichtlicher, wenn ich die schwungvollen Melodien höre. Klaviermusik und das Zusammensein mit meinen Freunden … in solchen Momenten spüre ich etwas wie Zufriedenheit in mir.
Als wir in den Salon kommen, sehen wir, dass Ling neben Harry auf der Klavierbank sitzt und lachend zu ihm aufblickt, während er den Klassiker Pinetop’s Boogie Woogie spielt. Wie Harry da mit Kippe im Mundwinkel und ins Gesicht hängender Locke verwegen in die Tasten drischt, hat er allerdings wenig Ähnlichkeit mit dem artigen Jungen von früher.
»Weiter, weiter!«, ruft Alexa, die offenbar genau wie ich fasziniert davon ist, Harry und seine neue Frau in dieser Vertrautheit zu erleben. Irgendetwas an Harry, meinem großherzigen breitschultrigen Freund, hat mich seit jeher so angerührt, dass mir sein Glück immer wichtiger war als mein eigenes.
»Drinks«, sagt er jetzt, steht auf und geht zum Tisch, wo zwei Krüge mit rötlicher Flüssigkeit bereitstehen.
Harry reicht allen hohe Gläser mit Bloody Mary, nur Ling, die heute orange Jeans und ein hellgrünes T-Shirt trägt, nimmt Cola. Der Kontrast zwischen Ling und der gut zehn Zentimeter größeren Alexa mit ihren wild aufgetürmten Haaren, knappen Shorts und leicht verschmiertem Mascara von gestern könnte kaum größer sein.
Ling wirkt gelassen und ruhig, als sie uns mit schnellen Umarmungen statt Küsschen begrüßt. »Schön, euch zu sehen«, sagt sie höflich.
Als wir mit unseren Drinks zu den Sofas wandern, ruht mein Blick immer noch auf Ling. Sie schiebt ihre zierlichen bloßen Füße mit den grellrosa lackierten Nägeln unter Harrys Schenkel. Er ergreift kurz einen Fuß, und ich bemerke das halb versteckte Lachen der beiden.
»Gibt es schon was Neues wegen der Bestattung?«, fragt Harry. »Oder ist es noch zu früh?«
»Alles längst organisiert. Du kennst doch meine tüchtige Schwester. Nächsten Freitag auf dem St-Luke’s-Friedhof, danach Treffen in der Flood Street.«
»Wir kommen alle mit«, sagt Rachel. »Um dir den Rücken zu stärken. So schlimm wird’s schon nicht werden.«
»Warten wir’s ab. Aber meine Mutter hat ja gern gefeiert, also wer weiß.«
Harry wirft mir ein Lächeln zu, das nur ich verstehe. Ich werde nie seinen Schock über den allmorgendlichen Wodka-O meiner Mutter vergessen. Harry wuchs mit dem gleichen Mangel an Liebe auf wie ich, wurde aber streng und traditionell erzogen. Als er mit dreizehn oder vierzehn zum ersten Mal bei uns war, erwischte er versehentlich das Glas meiner Mutter und spuckte dann den mit Wodka vermischten Orangensaft quer über den Küchenboden.
»Und, wie gefällt dir das Leben in Eastcott?«, frage ich Ling.
»Na ja, es ist natürlich ganz anders als alles, was ich bislang erlebt habe, aber …«, sie lacht, »es gefällt mir richtig gut.«
Auch Rachel und Alexa wirken heute sehr interessiert an Ling. Gestern Abend fand Harrys neue Ehefrau in der ganzen Feierei und dem Drama um den Tod meiner Mutter nicht genug Beachtung. Die beiden haben in Bangkok geheiratet, mit Fremden als Trauzeugen, und ich glaube, wir sind deshalb alle noch etwas gekränkt.
»Wo bist du aufgewachsen, Ling?«, fragt Rachel.
»In einem Dorf im Norden von Thailand, etwa eine Stunde Autofahrt von Chiang Mai entfernt. Nach Bangkok braucht man einen ganzen Tag.«
»Und in Bangkok hast du gelebt, als du Harry kennengelernt hast?«
»Ja. Ich habe in einer Bar gearbeitet.«
Das Wort »Bar« sorgt spürbar für Unbehagen.
»Als Kellnerin?«, fragt Alexa. Mir scheint, dass Harry und Ling sich ein winziges halb verstecktes Lächeln zuwerfen.
»So in der Art«, antwortet Harry.
Genau im richtigen Moment gibt sein Handy einen Ton von sich.
»Das ist Ania«, erklärt er. »Sie will wissen, ob ihr Lunch möchtet.«
»Unbedingt«, sagt Alexa. »Und bitte fett Kohlehydrate gegen meinen Kater.«
Ling zieht ihre Beine unter Harrys hervor und steht auf.
»Ich werde mal mit ihr sprechen und schauen, was machbar ist«, sagt sie. »Pasta wäre vielleicht gut, oder?«
Wir sind wohl alle beeindruckt von der ruhigen Selbstsicherheit, mit der Ling – nachdem sie erst seit einer Woche hier lebt – jetzt der Haushälterin Anweisungen geben wird.
»Ja, sie war Hostess«, sagt Harry jetzt. »Nein, sie war keine Prostituierte. Ich erspare euch hiermit die Frage.«
»Das hat doch keiner gedacht, Lieber«, sagt Alexa schockiert.
»Ihr vielleicht nicht, aber alle anderen. Ihr hättet mal sehen sollen, wie wir vor ein paar Tagen im Club angestarrt wurden. Es ist ganz einfach: Ich wollte, dass sie mit mir nach England kommt, und sie hatte Lust dazu. Das ist auch schon alles.«
»Und wir freuen uns für dich«, sagt Alexa und küsst Harry auf die Wange.
Dann geht sie zur Anlage, um Musik aufzulegen, und Rachel führt ein angespanntes Telefongespräch mit ihrem Ex.
»Kommst du mal kurz mit runter zum Pool?«, fragt mich Harry. »Ich will ihn umbauen lassen und hätte gern deinen Rat.«
Der Swimmingpool wirkt mit seinen türkisen Kacheln und weißen Plastiktreppen wirklich einigermaßen schlicht und altmodisch, denke ich, als wir davorstehen.
»Da kann man aber was Tolles draus machen«, sage ich.
Harry beachtet den Pool gar nicht, sondern bietet mir eine Zigarette an.
»Es geht nicht um den Pool«, sagt er. »Sondern um dich. Ich wollte hören, wie es dir wirklich geht.«
Er bezieht sich auf den frühen Tod meines Vaters, der starb, als ich zehn war, drei Jahre bevor Harry und ich uns kennenlernten. Dennoch weiß Harry, wie ich jahrelang meine Trauer in mir verschlossen habe. Wenn der Schmerz unerträglich wurde, kniff ich mir in die Handgelenke, was man heutzutage als selbstverletzendes Verhalten bezeichnen würde. Und Harry weiß auch, was passiert, wenn ich der Trauer freien Lauf lasse. Es gab einmal eine Zeit, in der mein Leben komplett aus dem Ruder lief. Harry und ich reden nicht über diese Zeit.
Ich lege ihm die Hand auf die Schulter.
»Den Tod meiner Mutter kann ich handeln. Das verspreche ich dir.«
»Gut«, erwidert Harry, und dann stehen wir schweigend neben dem altmodischen Schwimmbecken und rauchen.
Wie das oft so ist zwischen uns: Was wir nicht aussprechen, tönt am lautesten. Ich glaube, Harry hätte alles für mich getan, damit es zwischen mir und Catherine anders gelaufen wäre. Denn obwohl fünfzehn Jahre vergangen sind, sehe ich sie in solchen Momenten besonders deutlich vor mir.