Vor vier Monaten: Lucian
In mancherlei Hinsicht verhalte ich mich bestimmt typisch männlich. Wilder Sex, wie wir ihn gerade hatten, Catherine mit dem Rücken zu mir, sodass ich ihre Schreie hörte, ihr Gesicht jedoch nicht sah, als sie kurz davor war und dann so leidenschaftlich meinen Namen schrie, dass ich das immer wieder hören will, nach all diesen Jahren, in denen wir uns so eine Szene wohl beide immer vorgestellt hatten, und alles um uns herum schien zu explodieren, und es fühlte sich an, als hätten wir unser ganzes Leben lang nur auf diesen Moment hingelebt.
Doch schon wenige Minuten danach bin ich wieder irgendwie verwirrt und leicht panisch. Als ich Catherine frage, ob sie für einen Tag oder ein paar Stunden mit nach Somerset kommen will, reagiert sie, als hätte ich sie geschlagen. Ihr schönes Gesicht ist ausdrucksstärker, als ich es je erlebt habe, aber was ich da zu sehen bekomme, ist unverhohlenes Grauen. Das Drama mit Sam tut mir natürlich leid; andererseits hab ich auch keine Lust, mich da allzu sehr einzufühlen. Denn schließlich hat sie mich für ihn verlassen und mir damit so gründlich das Herz gebrochen, dass es Jahre dauerte, bis ich mich auch nur halbwegs erholt hatte.
Catherine und ich sind so intensiv miteinander verbunden, auch körperlich, dass es fast unmöglich ist, sie anzusehen, ohne dabei mit dem Blick ihre Kleider zu versengen. Wir sprechen ohne Worte, wir empfinden gleich, sind auf unergründliche Weise wie ein und dieselbe Person. Ich verstehe jetzt wieder, warum es so unerträglich war, ohne sie zu sein. Wir erkennen uns gegenseitig. Wir erkennen uns so, wie es niemand anderem gelingt.
Ich überrede sie, noch gemeinsam zu essen, bevor wir wieder getrennter Wege gehen, und als wir in einem meiner Lieblingsrestaurants, Sushi Say, sitzen, sagt sie: »Lass uns von vorn anfangen. Lass uns so tun, als hätten wir uns gerade erst kennengelernt.«
Dieses höllische Ende will ich genauso vergessen wie die gigantische Warum-Frage und die Tatsache, dass wir unser Leben hätten zusammen verbringen sollen, was niemals möglich sein wird. Natürlich will ich unbedingt erfahren, weshalb sie damals verschwunden ist, finde es aber auch entlastend, mich nicht darum kümmern zu müssen. Ja, wir tun so, als sei alles ganz neu. Als seien wir ein ganz gewöhnliches Paar, das in diesem winzigen Restaurant das beste Sushi von ganz London isst. Dabei erzählt sie mir von ihrem Leben in all den Jahren, und so wird es mir vielleicht möglich sein, ihr die grausame Trennung zu vergeben. Und wenn wir uns diesmal verabschieden, werden wir auf jeden Fall ein versöhnliches Ende haben.
Catherine spricht so leise, dass ich sehr aufmerksam hinhören muss, und manchmal fällt mir die Spur eines Akzents auf, den ich fast vergessen hatte.
»Mein Vater ist Schotte«, sagt sie. »Aber man hört es bei ihm kaum noch, er klingt heutzutage eher amerikanisch.«
Der Vater lebt in New York mit einer Frau zusammen, die er ein Jahr nach dem Tod von Catherines Mutter geheiratet hat. Ich spüre, dass Catherine ihm das noch immer nicht verziehen hat.
»Wie ist deine Stiefmutter denn so?«, frage ich, worauf Catherines Augen empört auflodern.
»Carol? Die sehe ich nicht als meine Stiefmutter. Ich bin erwachsen und habe meine eigene Familie. Carol ist nur mit meinem Vater verheiratet.«
Aha.
»Der Tod deiner Mutter war sicher schlimm für dich«, sage ich. Catherine nickt kurz, und ihre Stimme klingt gepresst, als sie weiterspricht. Wenn ich nicht wüsste, dass sie mit den Tränen kämpft, würde ich denken, sie sei wütend.
»Es ging so schnell. Jedes Mal wenn ich mich von ihr verabschiedet habe, war ich nicht sicher, ob ich sie noch mal wiedersehen würde. Und dann, nur wenige Monate nach der Diagnose, war es dann auch so.«
»Tut mir leid, dass ich damals nicht für dich da sein konnte«, sage ich, und Catherine erwidert: »Bitte sag das jetzt nicht. Bitte.«
Die Mutter erkrankte direkt nach der Trennung, und diese unglückselige Fügung führte dazu, dass Catherine sich für den Rest ihrer Studienzeit verkroch. Was ich verstehen kann; ich weiß, wie es sich anfühlt, einen Elternteil zu früh zu verlieren.
Tränen stehen ihr in den Augen. »Ich weiß, dass du mir geholfen hättest.«
»Aber zum Glück war Sam für dich da. Er hat das bestimmt ohnehin besser gemacht, als ich es hinbekommen hätte.«
Catherine seufzt. »Sam hat es als Lebensaufgabe betrachtet, mich zum Trauern zu bringen. Aber ich bin immer noch nicht sicher, ob ich es wirklich getan habe. Ich habe zu viel Angst vor Schmerz.«
»Das geht uns doch allen so.«
Es gab eine Zeit, in der ich so viel Angst vor Schmerz hatte, dass ich nicht wusste, ob ich überhaupt weiterleben konnte.
»Und deine Mutter?«, fragt Catherine. »Das kam ganz plötzlich, oder? Sie hatte einen Herzinfarkt, erzählte mir Liv. Macht es dir etwas aus, wenn ich frage?«
Ich sehe die Frau an, die ich immer geliebt habe, und beschließe, die Wahrheit zu sagen.
»Du weißt vielleicht noch, dass meine Mutter und ich uns nicht verstanden haben. Und jetzt, wo sie tot ist, fürchte ich, dass die Schuldgefühle mich fertigmachen.« Ich klopfe mir auf die Brust. »Das Gefühl sitzt hier drin. Ich hätte mich mit ihr aussprechen sollen und hab es nicht getan. Ich hätte mein Erbe mit ihr teilen sollen und hab es nicht getan. Ich hätte ihr verzeihen sollen, hätte vielleicht die Gründe für ihre Untreue verstehen sollen, aber auch das habe ich nicht getan.«
»Ja, es gibt meist einen Grund«, sagt Catherine wissend. Sie sieht traurig aus, als empfinde sie Mitleid für meine Mutter.
»Von den Affären meiner Mutter habe ich erst ein paar Jahre nach dem Tod meines Vaters erfahren, aber ich weiß, dass er wegen ihr unglücklich war. Und ich wollte ihr immer die Schuld geben. Mein Onkel hat mir erzählt, dass sie mehrere Liebhaber hatte. Aber in der Zeit, als mein Vater sich das Leben nahm, war da wohl ein Mann, in den sie sich verliebt hatte. Ich weiß nicht, ob das stimmt, es ist jedenfalls nichts Festes daraus geworden. Aber nun hatte ich erst recht Grund, sie zu hassen, weil sie meinen Vater betrogen hatte. In meinem jugendlichen Kopf war dann Untreue gleichbedeutend mit Selbstmord.«
Catherine stößt einen zittrigen Seufzer aus. Sie wirkt ziemlich erschüttert. Mir geht es nicht anders.
»Hat sie denn deinen Vater mal geliebt?«
»Zu Anfang vermutlich schon, aber die beiden waren sehr unterschiedlich. Für meine Mutter war Glamour das Wichtigste – Kleider, Feste, Komplimente. Mein Vater hatte viel schlichtere Ansprüche, sie hatte wohl einfach den falschen Mann geheiratet. Und die größte Enttäuschung für sie war der Verlust von Shute Park. Wäre mein Vater noch am Leben gewesen, dann hätte er das Anwesen geerbt. Und es war immer der größte Traum meiner Mutter, durch dieses Haus zu schweben und grandiose Feste zu veranstalten. Sie dachte, sie heiratet den großen Gatsby, aber dann kam es ganz anders. Mir hat sie nie verziehen, dass ich dort lebte, und sie hat mich auch kein einziges Mal besucht. Ich hätte mich bemühen sollen, sie zu treffen. Jetzt wünsche ich mir inständig, ich hätte mich mit ihr versöhnt.«
»Tut mir leid«, sagt Catherine, und ich spüre, dass sie mich versteht. Sie will die Dinge nicht schönreden, wie Rachel oder Alexa es versucht hätten. Ich kann mich nur bemühen, besser mit meiner Reue klarzukommen.
Ich frage Catherine nach ihrem Alltag, und als sie mir erzählt, dass sie die Kinder herumchauffiert, einkauft, Wäsche macht, für Geburtstage Kuchen bäckt, fällt mir der Kontrast zwischen ihrer Realität und ihrem Leben von damals auf.
»Wolltest du nicht Journalistin werden?«, frage ich, und ein Schatten fällt über ihr Gesicht.
»Ich war noch sehr jung, als ich Mutter wurde. Da blieb keine Zeit für was anderes.«
Weil ich spüre, dass sie über ihre Worte nachdenkt, bleibe ich stumm.
»Vielleicht war ich nicht mutig genug«, spricht sie dann weiter. »Man braucht viel Selbstvertrauen, um in den Medien zu arbeiten. Nicht nur bei Interviews, wo man Leute dazu bringen muss, sich zu öffnen. Man muss ja auch seine eigenen Ideen gegen andere durchsetzen. Ich fand die Medienlandschaft ziemlich aggressiv und wusste nicht, ob ich die Richtige dafür bin.«
»Aber als wir damals zusammen waren, hattest du jede Menge Selbstvertrauen, weißt du nicht mehr? Was ist daraus geworden?«
Catherine lächelt freudlos. »So ist man eben mit neunzehn«, sagt sie.
Während ich ihr gegenübersitze, höre ich natürlich nicht nur zu, sondern sehe sie an, ihren zarten Hals, das bezaubernde Dekolleté mit dem C an einer Silberkette, und ich stelle mir vor, wie meine Lippen langsam über ihre Haut wandern, bis zu den Brüsten mit den blassrosa Nippeln, die unter meiner Zunge sofort steif werden.
Später lassen wir uns mehr Zeit beim Sex. Ich entkleide Catherine, schiebe ihre Hände weg, als sie sich selbst ausziehen will, und als sie ganz nackt ist, drücke ich sie behutsam an die kühle Wand und betrachte den wunderbaren Körper. Ich will es genießen, auskosten, und nachdem ich sie lange genug angesehen habe, ziehe ich sachte mit den Fingerspitzen Kreise über ihren Hals, ihre Schultern, ihr Dekolleté. Sie zittert, aber ich weiß jetzt, dass sie warten wird. Hände, dann Lippen, dann Zunge, denke ich. Ich will, dass sie wieder meinen Namen schreit, das ist jetzt mein größter Wunsch.
Doch dieses zweite Mal, die Erfüllung unserer nackten Körper, die fast gewalttätige Heftigkeit, die Leidenschaft, die Catherine fast noch mehr mitreißt als mich, macht es uns noch schwerer, Abschied zu nehmen. Wir schweigen, als wir zu Livs Haus fahren, aber ich bin sicher, dass Catherine dasselbe denkt wie ich. Diese ganze Sehnsucht, die sich jetzt entladen hat … Wie sollen wir uns jemals wieder trennen? Ich warte, dass Catherine irgendetwas sagt, aber sie hüllt sich in Schweigen. Schweigen ist ihr Schutz.
Wir betreten das viktorianische Reihenhaus in Clapham, in dem Liv wohnt. Es ist ganz in Weiß gehalten, aber mit starken Farbakzenten: drei zitronengelbe Vasen, ein Sofa in knalligem Pink, Bodenkacheln in grellem Seventies-Orange. Liv sitzt in Joggingklamotten am Küchentisch, vor sich ihr Laptop.
»Aha«, sagt sie grinsend und steht auf, als wir reinkommen. »Das sieht ja mal interessant aus.«
Die beiden Frauen umarmen sich, und Liv wirft mir über Catherines Schulter einen fragenden Blick zu. Ich wiege leicht den Kopf als Zeichen für so lala.
»Ich habe Catherine gefragt, ob sie vielleicht für einen Tag oder auch nur für ein paar Stunden mitkommen will nach Somerset. Aber sie ist offenbar nicht scharf drauf.«
»Tee?«, fragt Liv.
Ihre Sportklamotten erinnern mich ein bisschen an die Einrichtung: knallgelbe Adidas-Weste, geblümte lila Leggings, die Sneakers limonengrün und violett. Ich finde Liv herzerwärmend mit ihrer kraftvollen Ausstrahlung. Auch Catherine wirkt gleich fröhlicher, als sie Becher aus dem Schrank holt und Milch in ein Kännchen gießt, und erzählt von dem Sushi-Restaurant. Die Sexszenen bleiben natürlich unerwähnt, vorher, nachher, Sex, bei dem man gut und gerne auch zum Sterben bereit wäre. Aber an Livs Blicken sehe ich, dass sie das spürt, und auch, dass sie darüber nachdenkt, wie es weitergehen soll.
»Hast du mit Sam gesprochen?«, fragt sie Catherine.
»Zuletzt heute Morgen. Er hat mich gebeten, ihn für ein paar Tage nicht anzurufen. Meint, wir bräuchten ein paar Tage Auszeit.«
»Das ist sicher richtig.«
»Sie sind ja jetzt ohnehin in Cornwall, da geht’s den Kindern immer gut.«
»Schön. Vermissen werden sie dich trotzdem.«
All das Unausgesprochene zwischen den beiden vertrauten Freundinnen, das trotzdem verstanden wird, erinnert mich an Rachel und Alexa. Vielleicht funktioniert das nicht nur zwischen Frauen so, sondern auch bei mir, Jack und Harry, wenn man hinter die zynischen Sprüche und die Posen schaut; vielleicht ist dieses Verstehen des Nichtgesagten die Basis guter Freundschaften.
Liv sagt: »Wär doch vielleicht nicht schlecht, wenn du mit nach Somerset fahren würdest. Ihr wärt dort allein, oder wären deine ganzen Freunde da?«, fragt sie mich.
Die beiden werfen sich einen Blick zu. Meine Freunde sind also der Hinderungsgrund.
»Jack und Harry wohnen in der Nähe, die Mädels sind in London und kommen am Wochenende. Aber wir müssen niemanden sehen, falls es darum geht.«
»Ja, darum geht es«, sagt Catherine und fügt dann hinzu: »Ich weiß nicht, wie das mit Sam und mir weitergeht, und ich möchte mich nicht dazu äußern müssen.«
»Hör mal, ich will keinesfalls, dass du dich bedrängt fühlst. Aber wir würden das Haus ganz für uns allein haben, nur Mary und ein paar Gärtner, die man nie zu Gesicht kriegt, sind da. Wir könnten tun und lassen, worauf wir Lust haben. Zum Beispiel im See schwimmen, wie früher, weißt du noch?«
»Das war wunderbar«, sagt Catherine. »Eines der schönsten Wochenenden meines Lebens.«
»Mach es, Catherine«, sagt Liv und ergreift die Hände ihrer Freundin. »So eine Chance gibt es vielleicht nie wieder. Es muss ja keiner wissen, dass du dort bist.«
»Und die Kinder? Was soll ich denen sagen? Ich kann sie doch nicht anlügen.«
»Denen musst du gar nichts sagen. Sie werden bestimmt nicht fragen, wo du bist.«
»Das ist aber viel schlimmer als alles, was Sam getan hat«, wendet Catherine ein, und Liv nickt.
»Ich weiß.«
»Kannst du mir hundertprozentig versprechen, dass wir deinen Freunden nicht begegnen?«, fragt mich Catherine jetzt. »Das könnte ich nicht ertragen.«
»Versprochen. Keine Freunde. Nur wir beide.«
»Okay, dann komme ich für ein Weilchen mit«, sagt sie und legt unwillkürlich die Hand aufs Dekolleté. Und ich denke an ihr Herz, das dort in ihrer Brust pocht und pulsiert.