Jetzt

Alle sagen, dass es mir viel besser geht. Ich spreche noch nicht, aber man scheint zu glauben, dass es bald so weit sein wird. Die Besuche bleiben gleich: Sam kommt fast jeden Tag, die Kinder zwei- bis dreimal die Woche, Liv am Wochenende. Mein Vater hat mich auch besucht, und es tat mir leid für ihn, dass er nach dem anstrengenden Nachtflug meine Stummheit ertragen musste. Zu Anfang sprach er so laut und selbstsicher zu mir wie anfänglich alle, aber nach einer Weile schwieg auch er. Ich brauchte nicht hinzuschauen, um zu wissen, dass er die Stirn runzelte und die Lippen zusammenpresste; so sah er aus, wenn er das Weinen unterdrückte. Ich wusste, dass er an meine Mutter dachte und an meine zauberhafte unbelastete Kindheit, und bestimmt fragte er sich, wie ich nach einem so wunderbaren Anfang hierhin geraten war. Das frage ich mich selbst auch.

Beim zweiten Besuch brachte er mein Lieblingskinderbuch mit und las mir vor. Er begann von Anfang an, als Cassandra im Zwielicht in der Küche zum ersten Mal Tagebuch schreibt. In den Wochen nach dem Tod meiner Mutter hatte ich dieses Buch immer wieder gelesen und kannte deshalb ganze Seiten auswendig. Auch jetzt weiß ich immer noch, wie die Geschichte weitergeht. Und ich sehe natürlich die Illustrationen vor mir, ohne hinzuschauen. Diese wunderschönen Zeichnungen, die mich an dich erinnern. Mein Vater liest mir das ganze Buch vor, bevor er wieder abreist, fünf Stunden lang, und bei der Hälfte ergreife ich seine Hand; ich empfinde eine Art Frieden.

Ich warte immer noch darauf, dass du mich besuchen kommst; es würde schon reichen, wenn ich dich wenige Minuten sehen könnte. Und natürlich hören, dass du mir vergeben hast. Das Wichtigste. Sam, Experte für die Zustände seiner Frau, weiß, wie sehr ich mich nach dieser Vergebung sehne. Er denkt wohl, das sei das Allheilmittel, das mich wieder zum Sprechen bringen würde. Wenn er dich hierherschaffen und mit vorgehaltener Pistole dazu zwingen könnte, diese Worte rauszuwürgen, würde er es tun.

Sam hat mit Greg über alles gesprochen, weshalb der sich in den letzten Gesprächen ausschließlich auf diese verhängnisvolle Nacht mit Jack konzentriert. Es hat echt was Komisches, wie ich da hocke, einem Holzklotz gleich, während Greg versucht, mich in den Zustand besinnungsloser Betrunkenheit zurückzuversetzen.

»Sie hatten etwa fünf Gläser Tequila getrunken und tanzten«, sagt er.

Er erwähnt deinen Namen, mein Liebster, wie so oft in letzter Zeit.

»Lucian saß auf dem Sofa neben Jack. Beide haben Sie beobachtet.«

Greg hält inne, damit die Gefühle zurückkehren können; der Blick aus Jacks blauen Augen, der sich durch den Nebel des Vergessens brennt. Dann schildert Greg, wie du losgefahren bist zu deinem Onkel, und fordert mich auf, das Gefühl des Alleinseins mit Jack wieder wachzurufen.

»Vielleicht hat es Sie ja auch ein bisschen erregt, dass er Sie beobachtet hat. Das wäre nichts Schlimmes. Wir wünschen uns alle, bewundert zu werden, vor allem in unserer Jugend.«

Nach einer weiteren bedeutungsvollen Pause sagt Greg: »Und vielleicht haben Sie sich zuerst angenähert?«

Greg ist, wie gesagt, ein guter Psychiater. Er beherrscht seine Techniken und weiß, wie er seine Ziele erreichen kann. Es hat lange gedauert, aber jetzt hat er Erfolg. All die Bilder, die ich so viele Jahre verdrängen wollte, taumeln mir durch den Kopf. Keine Flucht mehr möglich, kein Verstecken. Ich muss mich meiner Vergangenheit stellen, ihr direkt ins Gesicht schauen.