Vor fünfzehn Jahren
Zu Anfang bildeten wir eine Art Quartett, du, ich, Jack und Alexa. An den meisten Abenden kamen Alexa und ich zu euch nach Hause, und wir ließen Essen bringen oder kochten und gingen zu Partys. Alkohol spielte damals eine große Rolle, und ich trank nicht weniger als die anderen: Chablis, Bordeaux, Champagner, teuren russischen Wodka, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Obwohl du und ich die ersten Wochen weitgehend im Bett verbrachten, stand ich doch morgens immer pünktlich auf, ging zu meinen Seminaren und arbeitete in der Bibliothek. Ich war seit jeher ein Arbeitstier. Du dagegen hattest diese lässige Intelligenz, konntest einen Text flüchtig lesen und ohne weitere Recherche einen originellen scharfsinnigen Kommentar abgeben, der den Prof immer verblüffte.
Als ich eines Freitags wieder in der Bibliothek am Büffeln war, flatterte ein Blatt Papier auf meine Bücher. Ich schaute auf und sah dich grinsend über die Wand der Kabine spähen.
»Hallo«, sagtest du, viel zu laut für die Bibliothek.
»Hallo«, flüsterte ich.
Eine Tuschezeichnung von einem prachtvollen Anwesen mit Säulen, Türmchen und drei Reihen hoher Fenster. Mein Herz schlug höher. Ich wusste sofort, dass das Shute Park, das Anwesen deines Onkels, sein musste, das ich liebend gern mal gesehen hätte. Über der Zeichnung stand: Lust auf einen Ausflug?
»Echt? Wann denn?«, fragte ich.
»Jetzt. Jack fährt hin, und wir haben noch Platz im Auto.«
Jacks Wagen war eine echte Studentenkarosse, ein betagter flaschengrüner Golf, der nach kaltem Zigarettenrauch und Bier stank. Alexa saß vorn neben Jack, und als wir hinten einstiegen, ließ sie einen Korken knallen.
»Da ist sie ja!«, rief Jack. »Ab ins Wochenende!«
Er nahm eine CD aus dem Player, warf sie nach hinten und legte stattdessen die rot-gelbe Screamadelica ein.
»Und ab die Post!«, schrie er und gab Gas. Wir schossen an einer Gruppe ernst blickender Studenten vorbei, die unterwegs zur Bibliothek waren.
»Es ist Freitag, ihr Streber!«, schrie Jack zum Fenster raus.
Die Fahrt schien mir nur Minuten zu dauern, aber das lag wohl am Champagner. Im einen Moment waren wir noch in Bristol, im nächsten fuhren wir zwischen zwei hohen Steinsäulen hindurch, und mir wurde vor Aufregung flau im Magen.
Wir gondelten eine lange Allee entlang, und ganz plötzlich nach einer Kurve kam das Anwesen in Sicht, und ich stieß einen Ruf des Erstaunens aus. Das Haus sah noch imposanter und märchenhafter aus als auf der Zeichnung.
Alexa lachte. »Zauberhaft, oder?«, sagte sie.
Was hatte ich in einer Beziehung mit jemandem verloren, der in so einem Haus leben würde?
»Eines Tages, mein Kind, wird das alles dir gehören«, sagte Jack mit gespielter Greisenstimme.
Es kam mir vor, als habe er meine Gedanken gelesen. Angesichts dieser Pracht kam ich mir wie eine Hochstaplerin vor, und Jack spürte das.
Vor dem Anwesen bremste er abrupt und drückte auf die Hupe, um uns anzukündigen. Jacks Selbstsicherheit und Lässigkeit beeindruckten mich damals maßlos.
Die Tür ging auf, und eine kleine dunkelhaarige Frau trat heraus, die du als Mary vorstelltest.
»Guten Tag«, sagte sie. »Ihr Onkel erwartet Sie in der Bibliothek.«
Im Flur schnüffelten Jack und du neugierig.
»Mary«, sagte Jack, »haben Sie wahrhaftig die Hühnerpastete gebacken, Sie wundervolles Wesen?«
Mary lachte. »Ja, natürlich gibt es Hühnerpastete.«
Noch bevor wir die Bibliothek betraten, hörte ich Musik: Blood on the Tracks von Bob Dylan, was du auch ständig hörtest. In der Bibliothek befanden sich keine Bücher, nur Ledersofas an einem gewaltigen offenen Kamin, ein Sideboard mit Karaffen voll goldgelber und brauner Flüssigkeiten sowie Gin- und Wodkaflaschen und eine riesige Plattensammlung. Dein Onkel lag auf einem der Sofas, ein Glas auf dem Bauch, aber als wir hereinkamen, stand er sofort auf. Er war groß, schlank und sah sehr gut aus, was ich aus unerfindlichen Gründen nicht erwartet hatte. Bekleidet war er mit Jeans, blauem Paisleyhemd und bestickten Samtschuhen.
»Da ist ja die ganze Bande. Prächtig. Wurde auch Zeit.«
Er umarmte zuerst dich, dann Alexa und Jack, und streckte mir schließlich die Hand hin.
»Sie sind also Catherine. Ich fing schon an mich zu fragen, ob mein Neffe vielleicht Wahnvorstellungen hat.«
Dieses Wochenende war traumhaft. Dein Onkel behandelte uns wie ihm ebenbürtige Erwachsene, was ich noch nie zuvor erlebt hatte. Ich entspannte mich sofort in seiner Gegenwart. Beim köstlichen Abendessen in der Küche wurde über Musik, Gemälde und Partys gesprochen. Dein Onkel war Kunstsammler. Er führte mich in den Salon, einen altmodischen Raum mit Blümchentapete und glänzenden Möbeln. An der Wand hing ein Gemälde, auf dem sich ein nackter Mann mit Queue in der Hand über einen Billardtisch beugt. Die offensive Nacktheit hatte etwas Schockierendes, aber in der Gesamtkomposition war das Gemälde genial.
»Francis Bacon«, sagte ich.
»Ich mag Hässlichkeit in der Kunst«, sagte dein Onkel. »Und Sie?«
Wir saßen bis nachts in der Bibliothek und hörten Musik, und ich verstand, dass deine Liebe zu Blues und Rockmusik auf den Einfluss deines Onkels zurückging. In dieser Nacht hörten wir bestimmt drei Rolling-Stones-Scheiben durch – Exile on Main Street, Black and Blue und Sticky Fingers –, aber auch Elvis und Leonard Cohen, und zwischendurch sorgte Alexa für musikalische Überraschungen. Ich weiß noch, dass sie Piece of My Heart von Janis Joplin spielte, was dein Onkel hinreißend fand. Seit damals denke ich immer an ihn, wenn ich diesen Song höre.
»Diese Frau hat Geschmack«, sagte er damals zu Alexa. »Nichts anderes hatte ich erwartet.«
Die Vertrautheit zwischen dir und deinem Onkel faszinierte mich, und ich versuchte, trotz Alexas dauerndem Geschnatter und der lauten Musik, eure Gespräche mitzuhören. Dein Onkel erzählte, dass sein Liebster und er sich getrennt hatten, nun aber wieder zusammen waren, und wollte offenbar deine Meinung dazu hören.
»Du bist glücklicher, wenn er bei dir ist«, sagtest du. »Er tut dir gut.«
»Dasselbe könnte ich dir sagen. Höchst erfreulich, dein Mädchen.«
Du hast gelacht und zu mir herübergeschaut, und ich fand es ungeheuer aufregend, Quell deines neuen Glücks zu sein.
Ich freute mich damals, dass es noch jemanden gab, der dich liebte, außer mir und deinen Freunden. Das erschien mir wichtig.
Am nächsten Tag war es heiß, und wir lagen auf Decken im Garten, lasen Zeitung und tranken Marys selbst gemachte Limonade. Jack hatte im Dorf ein Boulevardblatt gekauft und las uns die bizarrsten Geschichten vor.
»Hört mal zu«, sagte er, und wir schauten alle auf. An diesem Wochenende wurde mir bewusst, wie sehr Jack deine Zuwendung brauchte. Alles, was er tat, war letztlich auf dich ausgerichtet. Er tat mir deshalb sogar ein bisschen leid, denn das musste sehr anstrengend sein.
Jack war es auch, der auf die Idee kam, schwimmen zu gehen.
»Nicht im Pool«, sagte er. »Lasst uns im See schwimmen.«
»Viel Spaß«, sagte dein Onkel. »Der See ist eiskalt und voller Algen. Das haltet ihr bestimmt nicht länger als fünf Minuten aus.«
Wir packten Decken und Handtücher zusammen, und Mary gab uns ein Picknick mit: selbst gemachte Scotch Eggs mit leuchtend gelben Dottern und Sandwiches mit Geflügelsalat. Dein Onkel steuerte Champagner bei.
»Das einzig passende Getränk zum Picknick«, sagte er, und das war nicht ironisch gemeint.
Der See am Rande des Grundstücks, umgeben von Pappeln, wirkte wie ein verwildertes Geheimversteck. An einem kleinen Holzsteg war ein Ruderboot vertäut.
»Wir könnten doch auch mit dem Boot fahren«, schlug ich vor, aber Jack schüttelte den Kopf. »Netter Versuch, Catherine. Wir gehen schwimmen.«
Keiner von uns hatte Badekleidung dabei, und nach dem Picknick zogen sich Jack und Alexa, vom Champagner beflügelt, splitterfasernackt aus und liefen ungeniert ins Wasser, wobei Alexa wegen der Kälte laut kreischte.
»Ich will mich nicht komplett ausziehen«, sagte ich bittend zu dir.
Du hast dich zu mir gebeugt und mich geküsst.
»Kein Problem. Dann lass doch deine Unterwäsche an.«
Dennoch war es mir peinlich, nur in BH und Höschen in den See zu steigen; wohl aus Solidarität hattest du auch deine Boxershorts angelassen.
»Ihr seid ja prüde!«, schrie Jack. »Beeilt euch! Es ist scheißkalt!«
Alexa strampelte mit den Füßen und spritzte uns nass.
Das Wasser war schneidend kalt, doch nach ein paar Minuten hatten wir uns daran gewöhnt und konnten uns alle vier auf dem Rücken treiben lassen. Als ich zum strahlend blauen Himmel hinaufschaute, fühlte ich mich endlich von deinen Freunden angenommen, und unsere restlichen Studienjahre erschienen mir in diesem Moment wie ein verheißungsvolles Paradies. Ich konnte ja nicht ahnen, was dann passieren würde.