Kapitel 4

 

In seinen vielen Jahren bei Starfleet hatte Benjamin Sisko mit angesehen, wie Schwefelmonde zerfetzt und Neutronensterne von kosmischer Willkür ins Chaos gestürzt wurden. Als junger Fähnrich hatte er beobachtet, wie ein Roter Riese zur Supernova wurde; als sehr viel älterer und weiserer Commander hatte er das bajoranische Wurmloch nicht nur entdeckt, sondern war auch als erster Mensch hindurchgeflogen. Doch in all den Jahren, bei all den Parsec, die er im Weltall zurückgelegt hatte, war er noch nie Zeuge eines Kometeneinschlags auf einem Planeten der Klasse M geworden.

Bis jetzt.

Noch nicht einmal das Aufflackern eines Kometenschweifs im Sichtfeld der Defiant hatte sie gewarnt. Fünf Minuten, nachdem Gul Hidrets starres Gesicht vom Monitor verschwunden war und Fähnrich Farabaugh schnell wieder das Bild Armageddons auf den Schirm gelegt hatte, zuckte eine blendend weiße Explosion über den Ozean am Nordpol des Planeten. Der grelle Lichtblitz ließ Sisko zurückschrecken, obwohl er wusste, dass die Umlaufbahn der Defiant sich weit über der Stratosphäre Armageddons befand. Er drehte sich instinktiv zur Waffenkonsole um. »Bericht!«

»Die Sensoren haben eine siebzehn Gigajoule starke Explosion an den Koordinaten dreiundsiebzig Komma fünf zu einhundertvierundzwanzig Komma neun festgestellt«, teilte ihm sein Sicherheitsoffizier mit. »Die Strahlungsanalyse zeigt nur normalen Hitzeverfall an, keinerlei ionisiertes Plasma oder Radioaktivität.«

»Das war ein Kometeneinschlag«, stellte O'Brien düster fest. »Und unser Außenteam befindet sich nur ein paar hundert Kilometer davon entfernt im klingonischen Hauptstützpunkt.«

»Vierhundertsiebenundneunzig Kilometer, um es genau zu sagen«, präzisierte Worf in seinem sachlichsten Tonfall. »Aber unsere Geräte zeigen die Lebenszeichen des gesamten Außenteams unverändert stabil an.«

Sisko machte sich nicht die Mühe, Worf zu fragen, warum er Informationen, die eigentlich in den Aufgabenbereich des Wissenschaftsoffizier der Defiant gehörten, auf seiner Pilotenkonsole aufgerufen hatte. Statt dessen sah er verärgert Dax' jungen Stellvertreter an. »Fähnrich Farabaugh, ich bat Sie darum, die gefährlichsten Fragmente des Kometenfeldes ausfindig zu machen. Was ist passiert?«

»Gar nichts, Sir.«

Worf drehte sich an seiner Konsole herum, um den jungen Mann noch wütender anzustarren. »Siebzehn Gigajoule entsprechen der Sprengkraft von neun Photonentorpedos. Würden Sie das als ›gar nichts‹ bezeichnen, wenn Sie dort unten auf dem Planeten wären?«

Farabaughs Augen weiteten sich ein wenig, doch sein ehrlicher Blick wich dem des Klingonen nicht aus. »Die Explosion fand in siebenunddreißig Kilometern Höhe statt, Commander Worf. Meiner Meinung nach hat unser Außenteam noch nicht einmal ein Donnergrollen gehört.«

»Dann hatten sie Glück«, fand O'Brien. »Und wir auch. Dass gerade der Komet, den wir übersehen haben, vorzeitig explodiert ist …«

»Wir haben diesen Kometen gar nicht übersehen«, sagte Farabaugh leicht überrascht. »Der Computer hat seine Flugbahn schon vor zehn Minuten bestimmt, als der Captain noch mit Gul Hidret sprach. Er hat bloß keinen Alarm ausgelöst.«

Sisko sah seinen jungen Wissenschaftsoffizier erstaunt an. »Sie wussten schon vorher, dass dieses Bruchstück in zu großer Höhe explodieren würde, um Schaden anzurichten? Wie das?«

»Relative Geschwindigkeit, Sir.« Farabaugh gab eine Reihe von Befehlen in seine Konsole ein, und das verblassende Nachglühen der Kometenexplosion über Armageddon verschwand vom Bildschirm. Sisko erkannte am sternenlosen schwarzen Monitor, dass er nun keine echte Sensoraufnahme mehr betrachtete, sondern eine Computersimulation. Bunte Streifen wirbelten wie ein chaotischer Fischschwarm über den dunklen Hintergrund und zogen blasse Leuchtspuren hinter sich her. »Nachdem ich aus dem Kometenfeld diejenigen herausgesucht hatte, die am wahrscheinlichsten mit Armageddon zusammenstoßen würden, habe ich für jeden einzelnen eine Einschlagsimulation ablaufen lassen. Sie können an den weißen und blauen Streifen erkennen, dass die meisten Eisbrocken sich im Verhältnis zur Drehgeschwindigkeit Armageddons sehr schnell bewegen.«

»Und das sind die gefährlichsten?«, vermutete O'Brien.

»Ganz im Gegenteil, Sir. Alle Kometen, die sehr schnell in die Atmosphäre eindringen, werden extremem Druck ausgesetzt. Dank der geringen Dichte von Kometeneis explodieren fast alle schnell fliegenden Bruchstücke schon hoch in der Stratosphäre. Nur solche, die über siebzig Kilometer Durchmesser haben, überleben lange genug, um Schäden auf der Oberfläche des Planeten zu hervorzurufen.« Farabaugh gab einen weiteren Befehl in den Computer ein, und ein paar Dutzend Kometen leuchteten rot und gelb auf. »Das sind die gefährlichen Bruchstücke. Sie sind entweder so groß oder langsam, dass sie den Weg durch die Atmosphäre überstehen können. Das sind die, um die wir uns Sorgen machen müssen.«

»Werden sie auch ohne Vorwarnung einschlagen?«, fragte Worf.

»Kometen sind keine klingonischen Krieger, Commander«, erwiderte Odo höhnisch. »Sie können kaum von ihnen erwarten, dass sie vor einem Angriff eine ordnungsgemäße Herausforderung aussprechen.«

»Wohl kaum«, stimmte Worf zu. Trotzdem hatte Sisko das Gefühl, der Klingone würde besonders grimmig auf seinen Monitor starren, als könne er so die Kometen zu ehrbarerem Verhalten bewegen.

»Wie lange vor einem Einschlag werden wir gewarnt, Mr. Farabaugh?«, fragte Sisko.

»Ich habe den Computer darauf programmiert, eine halbe Stunde vor einem Einschlag Alarm zu geben.« Der junge Offizier sah den Captain unsicher an. »Wird das reichen?«

»Das kommt darauf an, welche vorsorgenden Maßnahmen wir treffen«, sagte Odo und richtet sich an Sisko. »Worüber wir, glaube ich, gerade sprachen, als uns dieser ungehobelte Cardassianer unterbrach.«

»Da gibt es eigentlich nicht mehr viel zu bereden.« Sisko lehnte sich in seinem Sessel zurück und faltete die Hände. »Die Phaser sind bereit, und die Luft ist rein. Welchen Kometen sollen wir zuerst abschießen, Mr. Farabaugh?«

»Also … genaugenommen wollte ich Ihnen dazu noch etwas sagen, Captain.« Der junge Offizier räusperte sich schüchtern. »Mir wäre es lieber, wenn wir keinen einzigen davon abschießen, falls Ihnen das nichts ausmacht.«

Sisko sah, wie Worf den bedrängten Fähnrich wieder wütend anstierte, und wies den Klingonen mit einer Handbewegung an, ruhig zu bleiben. »Na schön, Mr. Farabaugh. Klären Sie uns auf.«

»Ich glaube, ich weiß, was er sagen will«, warf O'Brien ein, bevor Farabaugh sich wieder gesammelt hatte. »Ich habe es an der Akademie im Fach Planetenmechanik gelernt. Wenn man einen Kometen in die Luft sprengt, vergrößert man nur den Umkreis der Vernichtung. Man macht aus einem einzelnen schweren Einschlag eine ganze Reihe von mittelschweren.«

»Genau«, sagte Farabaugh erleichtert. »Der Zerstörungsquotient erhöht sich um das vier- bis zehnfache, je nach Anzahl der Bruchstücke und ihrer Flugbahnen. Und da Phaserstrahlen sich hauptsächlich in den Rissen und Sollbruchstellen der Kometen brechen würden, ergeben sich fast schon zwingend größere Bruchstücke.«

Worfs zorniger Blick verblasste zu einem nachdenklicheren Stirnrunzeln. »Und wenn wir die Streuung der Phaser erhöhen und die Intensität senken? Dann müsste der ganze Komet verdampfen, auch wenn er vorher auseinanderbricht.«

»Es würde aber auch eine Impulswelle erzeugen, die andere Kometen in der Wolke aus ihrer Umlaufbahn bringen kann«, stellte O'Brien fest. »Wodurch wir für jede Bedrohung, die wir aus der Welt schaffen, ein oder zwei neue erzeugen könnten.«

»Und um das herauszufinden, müsste man die Flugbahnanalyse nach jedem einzelnen vernichteten Kometen komplett neu ablaufen lassen«, fügte Farabaugh hinzu.

»Das ist zu riskant. Am Ende stoßen wir noch einen Kometen auf den Planeten, bevor wir überhaupt bemerken, was wir getan habe.« Sisko legte die gefalteten Hände ans Kinn und dachte über die schwindenden Alternativen nach, die sich ihm boten. »Wir sind uns ja wohl trotzdem noch immer einig, dass wir nicht einfach nur hier herumsitzen und auf die Katastrophe warten können. Wir müssen uns also etwas einfallen lassen, was besser funktioniert.« Er sah seinen Chefingenieur erwartungsvoll an. »Sie müssen bei diesem Kurs über Planetenmechanik doch noch mehr gelernt haben, Chief. Was wurde gegen unmittelbar bevorstehende Kometeneinschläge empfohlen?«

»Ablenkung durch modulierten Beschuss mit Photonentorpedos«, erwiderte O'Brien wie aus der Pistole geschossen. »Damit will man ihn nicht zerbrechen, sondern nur so weit von seiner Bahn abbringen, dass aus einem Treffer ein Fehlschuss wird.«

»Und die Explosion des Torpedos reißt wahrscheinlich gerade so viel vom Staubmantel des Kometen weg, dass eine Schicht des inneren Eises verdampft«, vermutete Farabaugh. »Das entweichende Gas würde den Kometen in die andere Richtung lenken.«

»Genau.« O'Brien deutete vage auf die unzähligen bunten Streifen auf dem Hauptmonitor. »Dummerweise sind da oben sehr viel mehr rote und gelbe Flecken, als wir Torpedos zur Verfügung haben. Und selbst Quantentorpedos sind nicht stark genug, um mehr als einen oder zwei Kometen gleichzeitig zu erreichen.«

»Können wir denselben Effekt nicht auch mit modulierten Phasern erreichen?«, erkundigte sich Worf.

Der Chefingenieur schüttelte den Kopf. »Wir müssten die Modulation für jeden Schuss ändern, und Sie wissen ja selbst, wie lange das dauert.«

»Ganz zu schweigen davon, dass uns die Phaser dann nicht zu Verteidigungszwecken zur Verfügung stehen«, bemerkte Odo. »Und angesichts der Tatsache, dass ich gerade die Ionenspur eines getarnten Schiffes bemerkt habe, das in das System eingeflogen ist …«

»Position, Geschwindigkeit, geschätzte Größe?«, fragte Sisko. Trotz des Vertrauens, das er in Odo und Kira setzte, wünschte er sich manchmal doch, dass die beiden eine Starfleet-Ausbildung erhalten hätten. »Vorausberechnetes Ziel?«

Odo las die Anzeige ab. »Das getarnte Schiff befindet sich derzeit 250 000 Kilometer vom Zentrum des Systems entfernt, bewegt sich mit fünfundsiebzigprozentiger Impulsgeschwindigkeit und bremst zügig ab. Es sah kurz nach einem Schiff der Jfolokh-Klasse aus, aber da die Ionenspur sich abschwächt, je langsamer es wird, kann der Computer das nicht mit Sicherheit bestätigen. Vorausberechnetes Ziel ist ein äquatorialer Orbit um Armageddon.« Er blickte auf und sah Sisko an. »Wenn Sie meine Meinung hören wollen, würde ich sagen, die klingonische Blockade ist wieder da.«

»Mr. Worf, teilen Sie dem Außenteam mit, dass jegliche Kommunikation von jetzt an nur noch auf sicheren Kanälen stattfinden darf. Und sagen Sie ihnen, dass sie entweder jetzt sofort oder erst sehr viel später hochgebeamt werden können.« Er wandte sich an seinen Chefingenieur. »Es ist mir egal, wie Sie das bewerkstelligen, aber ich will, dass die Emissionen der Defiant in den nächsten paar Stunden so gering wie möglich sind – möglichst bei Null. Die Klingonen dürfen noch nicht einmal ahnen, dass wir hier sind, bis wir die Absturzopfer gefunden haben und in der Lage sind, sie hochzubeamen.«

O'Brien verzog das Gesicht. »Auf Null komme ich bestimmt nicht, Sir. Ich kann die Wärmeabstrahlung des Schiffs umkehren und die Emissionen des Warpkerns mit einem Magnetfeld tarnen. Aber gegen die diffuse Ionisierung an den Schutzschilden kann ich nicht viel ausrichten. Und bei all den Kometen, die momentan unsere Umlaufbahn kreuzen …«

»… können wir die Schilde nicht ausschalten«, beendete Sisko den Satz für ihn. »Aber wir müssten die Übertragungsladung senken können, ohne die Schutzleistung zu mindern. Tun Sie Ihr Bestes, Chief.«

»Jawohl, Sir.« O'Brien stand eilig auf und nahm sich nur noch die Zeit, mit einem raschen Druck auf seinen Kommunikator einen direkten Kanal zum Maschinenraum zu öffnen. »Frantz, schirmen Sie sofort den Warpkern ab. Ornsdorf und Frisinger, leiten Sie von jetzt an unsere Abwärme zur Angleichung an die Umgebung in die Impulsdämpfer.«

»Jawohl, Sir.« Die kompetente Ruhe in dieser Antwort ahmte so offensichtlich O'Briens legendäre Gelassenheit nach, dass Sisko lächeln musste. »Welcher Differenzwert wird für die Abwärme angestrebt?«

»So nah an der Infrarotstrahlung des Planeten wie möglich«, sagte O'Brien. »Ich komme zu Ihnen, um die Schaltkreise der Schutzschilde neu einzustellen, also legen Sie die entsprechenden Leitungen frei, damit ich an sie herankomme.«

»Jawohl, Sir.«

Da er sich nun sicher sein konnte, dass sein Schiff so unsichtbar sein würde, wie es einem funktionstüchtigen Raumschiff überhaupt möglich war, richtete Sisko seine Aufmerksamkeit wieder auf Worf. »Haben Sie schon Antwort vom Außenteam erhalten, Commander?«

Der düstere Blick des Klingonen verriet ihm die Antwort, noch bevor er den Mund öffnete. »Dr. Bashir sagt, er habe noch nicht alle Verwundeten in dem neuen Klingonenlager untersucht, Captain. Auch dort hat es offenbar mindestens drei Einschläge gegeben, wenn auch keiner so unmittelbar und verheerend war wie in der ersten Siedlung. Er hat mich gebeten, Fähnrich LeDonne zu seiner Unterstützung in das neue Lager zu beamen.«

»Ist das klingonische Schiff noch außerhalb der Reichweite der Kurzstreckensensoren?«, fragte Sisko den Sicherheitsoffizier. Als dieser die Frage mit einem Brummen bejahte, gab Sisko Worf nickend seine Zustimmung. »Teilen Sie dem Doktor mit, dass dies die letzte Gelegenheit für ihn ist, seine Mannschaft umzustellen oder verletzte Klingonen zur Behandlung an Bord beamen zu lassen. Wie weit sind die anderen mit ihrer Suche nach den Geiseln gekommen?«

»Commander Dax hat einen vollständigen Bericht über die bislang von ihr und Major Kira geführten Befragungen abgeliefert. Bis jetzt haben sie in dieser Dissidentengruppe aber niemanden gefunden, der wie Gordek mit ihnen zusammenarbeiten will. Sie hat überhaupt nichts Neues über die Identität der Geiselnehmer in Erfahrung bringen können, geschweige denn ihren Aufenthaltsort. Sie hat außerdem sämtliche von ihr gesammelten Daten über den ökologischen Zustand des Planeten für Ihre Akten mitgeschickt.«

»Hmm.« Anstatt ihn zu beruhigen, jagte ihm diese Nachricht einen kalten Schauer über den Rücken. Dax machte sich grundsätzlich nur so viel Mühe, ihn über ihre wissenschaftlichen Entdeckungen auf dem laufenden zu halten, wenn sie befürchtete, nicht zurückkommen und ihm selbst alles mitteilen zu können. »Stellen Sie ständig einen Hochsicherheitskanal für das Außenteam bereit, Mr. Worf. Und behalten Sie den Gesundheitszustand unserer Leute im Auge. Wir wissen immer noch nicht sicher, ob die Verbannten, bei denen sie sich aufhalten, vertrauenswürdiger sind als diejenigen, die das Shuttle der Victoria Adams gefunden haben.«

Worf nickte zustimmend. »Ich habe bereits eine automatische Schaltung zwischen den Schutzschilden und der zentralen Transportersteuerung programmiert. So können wir das Außenteam mit minimaler Einschränkung unserer Sicherheit wieder an Bord holen.«

»Gut gemacht, Commander.« Sisko bemerkte, dass Fähnrich Farabaugh Worf gereizt ansah, und schüttelte warnend den Kopf. Es stimmte zwar, dass Worfs eilige Handlungen teilweise in den Aufgabenbereich des Wissenschaftsoffiziers fielen. Aber nun kam es nur auf das Ergebnis an, nicht auf die Methode. Er lenkte Farabaugh ab, indem er auf den Monitor zeigte. »Da wir gerade eine aktive Computersimulation haben … Wäre es möglich, den vermuteten Kursverlauf der Klingonen einzubauen?«

»Jawohl, Sir. Ich brauche dafür nur die Daten von Mr. Odos Konsole.«

»Ich übertrage sie Ihnen schon. Und damit Sie's wissen, junger Mann, ich heiße nicht Mister Odo.«

»Jawohl, Sir. Entschuldigen Sie bitte, Sir.« Farabaugh beugte sich über seinen Computer, und kurz darauf erschien ein leuchtend grüner Kreis am Rand des Bildschirms. Selbst wenn er nicht gewusst hätte, dass es sich um die Ionenspur eines getarnten klingonischen Schiffes handelte, wäre er Siskos geübtem Auge aufgrund seiner ungewöhnlichen Verlangsamung und seines Slalomkurses durch das Kometenfeld aufgefallen. »Das klingonische Schiff lässt die Kometen nicht abprallen, Captain«, stellte Farabaugh überflüssigerweise fest. »Es weicht ihnen aus.«

»Das sehe ich.« Sisko empfand große Bewunderung für den halsbrecherischen Zickzackkurs des unbekannten Raumschiffs, wenn ihm auch die Klingonen mit schwachem Magen an Bord leid taten. In der ganzen Galaxis gab es keinen Andruckdämpfer, der so abrupte Kursänderungen auffangen konnte. »Wie interpretieren Sie das, Mr. Worf?«

»Ich bin mir nicht sicher, Captain.« Worf blinzelte den Monitor an, als könne er sich so das klingonische Schiff besser vorstellen. »Vielleicht erproben sie Manövertechniken. In diesem Fall sind es aber keine herkömmlichen.«

»Wenn ich es nicht besser wüsste«, bemerkte Odo nüchtern, »würde ich sagen, dass sie ›einen draufmachen‹.«

»Einen draufmachen?«, wiederholte Worf.

»So nennen es die halbstarken Bajoraner, wenn sie sich beim Eissegeln so nah wie möglich an die Felsen wagen. Ich nenne es ›Selbstmordversuche aus Übermut‹.«

Als er mit ansah, wie die grüne Scheibe einen Umweg flog, nur um sich zwischen zwei Kometen hindurchzuzwängen, musste er Odo zugestehen, dass sein Vergleich nicht unpassend war. »Wenn das tatsächlich ein Schiff der Jfolokh-Klasse ist, bewegt es sich empfindlich nah an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Der Pilot ist entweder verdammt gut oder verdammt dumm.«

»Oder beides«, sagte Worf bitter. »Ich kann mir irgendwie kaum vorstellen, dass dieses Schiff geschickt wurde, um das offizielle klingonische Embargo wieder durchzusetzen.«

»Sie wissen nicht, dass wir hier sind«, erinnerte Sisko ihn. »Und sie haben wahrscheinlich ihre besseren Schiffe an die cardassianische Grenze geschickt. Wie auch immer es hierhergekommen sein mag, es zielt genau auf die Umlaufbahn ab, in der ich ein Blockadeschiff erwarten würde.«

»Das stimmt.« Worf warf einen Blick über die Schulter. »In dem Fall würde ich kontinuierliche Überwachung durch unsere Scanner vorschlagen, Sir. So können wir sicher gehen, dass die Klingonen nicht versuchen, jemanden auf den oder von dem Planeten zu beamen.«

Sisko nickte Farabaugh zu. »Tun Sie das. Und überwachen Sie auch ihre Kommunikation. Ich glaube nicht, dass sie viel über offene Kanäle sagen werden, aber es kann nicht schaden, wenn wir aufpassen.«

»Jawohl, Sir.«

Der grüne Kreis, der das klingonische Schiff darstellte, machte einen letzten waghalsigen Schlenker um ein wirbelndes Kometenbruchstück, bevor er sich widerwillig seine Position an der bernsteingelben Kugel suchte, die in der Computersimulation Armageddon darstellte. Sisko nahm erstaunt zur Kenntnis, dass der letzte Komet durch den Rückstoß des klingonischen Warpantriebes seine Flugbahn geändert hatte.

»Ihre Flugbahnanalyse sollten Sie besser neu starten, Mr. Farabaugh«, sagte er. »Nach all den Beinahezusammenstößen mit den Klingonen …« Er verstummte und setzte sich gerade auf. »Das können wir tun!«

Odo warf ihm einen zynischen Blick zu. »Was? Einen Beinahezusammenstoß mit den Klingonen provozieren?«

»Nicht mit denen – aber mit jedem Kometen, der droht, auf den Planeten zu fallen.« Sisko sprang hoch und ging auf und ab, um seine rasenden Gedanken zu ordnen. »Wir werden die Magnetabschirmung um den Warpkern gerade lange genug abschalten, um die Flugbahn des Bruchstücks zu ändern, das wir ablenken wollen. Die andere Möglichkeit wäre, etwas von der Abwärme abzulassen, die im Impulsantrieb gespeichert wird.«

»In beiden Fällen würden wir eine für die Klingonen deutlich sichtbare Spur hinterlassen«, warnte Worf. Er klang jedoch nur nachdenklich, nicht ablehnend. »Wenn wir unseren Kurs geschickt planen, könnten wir allerdings die Schwerkraft des Planeten dazu nutzen, uns mit nur ein bis zwei Sekunden langen Zündungen des Impulsantriebs dem Kometen zu nähern. Dann müssten wir ihn nur mit unserem rekalibrierten Schutzschild streifen, um ihn abzulenken.«

Farabaugh schaute von seiner Wissenschaftskonsole auf. »Können wir einen Kurs wählen, der die anderen Kometen im Feld nicht beeinflusst, Commander? Dann müssten wir die Kollisionssimulation nicht nach jedem Eingreifen neu ablaufen lassen.«

»Das ist möglich, wenn wir jedes Mal warten, bis der Komet gerade in den Einflussbereich der Schwerkraft Armageddons gerät.« Sisko blieb vor dem Bildschirm stehen und zeigte auf den Halo aus leerem Raum, der den Planeten umgab. »Wir müssen lediglich die Geschwindigkeit auf unserer polaren Umlaufbahn entsprechend anpassen, damit wir möglichst nah am berechneten Eintrittspunkt des Kometen sind.«

Odo schien nicht überzeugt zu sein. »Glauben Sie nicht, dass es den Klingonen auffallen wird, wenn ein Komet plötzlich vom leeren Raum abprallt?«

»Nicht, wenn sie sich zu diesem Zeitpunkt auf der anderen Seite des Planeten befinden«, sagte Worf.

»Aber dieser Plan erfordert die Lösung einer ganzen Reihe von komplizierten orbitmechanischen Gleichungen …« Sisko blieb im Zentrum der Brücke stehen. Wieder machte ihm Dax' Abwesenheit einen Strich durch die Rechnung. Er konnte von einem Menschen mit nur einem Gehirn unmöglich erwarten, gleichzeitig zu beobachten, Modelle zu erstellen und Daten zu erfassen. Für seinen Trill-Wissenschaftsoffizier wäre das gar kein Problem gewesen. »Mr. Farabaugh, wer auf der Defiant ist sonst noch zum Wissenschaftsoffizier ausgebildet?«

»Tja … also, ich bin mit Fähnrich Osgood von der Waffenabteilung zur Akademie gegangen. Sie hat in den Kursen über Himmelskörpermechanik durchweg hervorragend abgeschnitten. Und dann ist da noch ein Techniker im Maschinenraum namens Thornton, der eine Zeitlang auf einem Forschungsschiff gedient hat. Er ist außerdem ein Experte für Sensorsysteme.«

»Gut. Nehmen Sie Kontakt mit Thornton auf und bitten Sie ihn, Ihre Position zu übernehmen. Seine Aufgabe wird es sein, die Klingonen zu überwachen und Ihnen jede Änderung ihrer Umlaufbahn mitzuteilen. Sie und Osgood besetzen eins der Wissenschaftslabors und einen Sektor des Hauptcomputers und erstellen ein umfassendes Modell des Kometengürtels. Ich will nicht nur von jedem einzelnen Kometen wissen, wann er auf diesen Planeten treffen wird, ich will es auch früh genug wissen, um unsere Umlaufbahn anzupassen, damit wir ihn einholen und ablenken können, solange er noch im toten Winkel der Klingonen ist. Haben Sie das verstanden?«

»Jawohl, Sir!«

»Ich will Ihren ersten Bericht um …« Sisko sah auf die Uhr, um einen vernünftigen Zeitrahmen vorzugeben. Da erst fiel ihm auf, warum seine Augen sich so anfühlten, als würde er durch Sand blinzeln. Seit sie gestern Deep Space Nine verlassen hatten, war er siebzehn Stunden ununterbrochen im Dienst gewesen. Dasselbe galt für den Rest seiner ursprünglichen Brückenbesatzung, mit Ausnahme von Odo, der sich vor einigen Stunden eine Zeitlang zum Regenerieren in seine Kabine hatte zurückziehen müssen. »Drei Uhr morgens. Odo, übernehmen Sie das Steuer. Commander Worf, bitte lassen Sie sich und Chief O'Brien ablösen.«

Er erhielt die unwillige Reaktion, die er von dem Klingonen erwartet hatte. »Captain …«

»Ohne Widerrede, Mr. Worf. Ich weigere mich, die Defiant mit Kometen Tango tanzen zu lassen, wenn der Pilot nicht ausgeschlafen ist. Melden Sie sich um vier Uhr wieder auf der Brücke zurück. Ich nehme an, dass wir vorher keine Kometen ablenken werden müssen, Mr. Farabaugh?«

»Nein, Sir.«

»Es sei denn, die Klingonen fangen mit ihren eigenen Schießübungen an.« Odos Fähigkeit, die Gewitterwolke an jedem Sommerhimmel zu finden, wäre amüsant gewesen, hätte der Sicherheitschef nicht so deprimierend oft recht gehabt.

»Wir wollen hoffen, dass das nicht geschieht, Constable.« Sisko sah hintersinnig zum Monitor auf. »Und wenn unsere Freunde doch noch einen draufmachen wollen und anfangen zu schießen, können wir immer noch hoffen, dass sie zu betrunken oder zu seekrank sind, um etwas zu treffen.«

 

Kira drehte sich so hektisch nach dem plötzlichen, dumpfen Geräusch um, dass sie fast von der hohen Wurzel gefallen wäre, auf der sie saß. Eine Staubwolke – oder war es etwa Dampf? – stieg wie Vulkanasche aus dem vor ihr liegenden undurchdringlichen Pflanzenmeer auf. Ein etwas entfernt stehender Baum von der Art, auf der sie es sich bequem gemacht hatte, erzitterte. Das nächste gedämpfte Beben spürte sie bis in die Knochen, und sie hielt sich an der Wurzel fest. Eine Gruppe stummer, graugrüner Primaten flüchtete vor dem Grollen wie ein aufgeschreckter Taubenschwarm.

Sie dachte kurz darüber nach, eine Warnung zu rufen. So etwas hatte sie noch nie gehört. Der beste Vergleich, den ihr Gedächtnis ihr anbot, waren die cardassianischen Bergbaudrohnen, die sich ihren Weg durch alles bissen, was nicht das von ihnen gesuchte Erz war. Aber hier gab es kein Erz, und wahrscheinlich auch keine Cardassianer, also sprang ihr Verstand zu dem einzigen, was diese fremde Umwelt zu bieten hatte: Kometen.

Die schiere Lächerlichkeit dieses Gedankensprungs ließ auch ihre restlichen Ängste verstummen. Hinter ihr, auf der Lichtung, schleppten sich dunkle klingonische Gestalten bedrückt von Ort zu Ort. Sie erwarteten mit verbitterter Ruhe ihren Untergang und sahen dies sicherlich als klingonische Form von würdevollem Verhalten an. Ihr ruhiges Betragen bestätigte zwar Kiras Vermutung, dass unmittelbar mit keinem mörderischen Eisregen zu rechnen war, doch es verursachte insgeheim auch ein Gefühl von Abscheu in ihr.

In den Jahren, seit Bajor die Unabhängigkeit von Cardassia gewonnen hatte, hatte Kira sich sehr bemüht, ihren unvermeidbar scheinenden Rassismus zu besiegen. In ihrer Jugend hatte nur kompromissloser Stolz auf ihre bajoranische Herkunft das Ausmaß an Gewalt und Blutvergießen gerechtfertigt, das ihr Leben als anticardassianischer Terrorist ausgemacht hatte. Erst seit sie täglich eng mit Menschen, Trills, Ferengi und Vulkaniern zusammenarbeiten musste, wurde ihr klar, wie sehr ihr Hass auf Cardassianer zum Hass auf alles Nichtbajoranische geworden war.

Diese Erkenntnis hatte sich als überraschend schmerzhaft herausgestellt. Ekel und Abscheu gegenüber der Rasse, die ihr Volk fast komplett ausgerottet hatte, war schließlich nur recht und billig gewesen. Vergeben war der erste Schritt auf dem Weg zum Vergessen, und Vergessen hätte das Andenken von Millionen unter cardassianischer Herrschaft gefallener Bajoraner geschmäht. Sie hatte Rechtfertigung in einer Warnung der Propheten gefunden: Hass vergiftet den Boden, so dass nur neuer Hass dort wachsen kann. Ihr Hass war anders. Ihr Hass war gerechtfertigt.

Und ihre Ungeduld mit den Menschen? Ihr Misstrauen gegenüber den Ferengi? Ihre Zweifel an der Aufrichtigkeit der Vulkanier? Ihr unterschwelliger Glaube, dass die Trills etwas Unmoralisches taten, wenn sie ihren Körper mit einem Symbionten teilten? Erst nach Monaten konnte sie sich eingestehen, dass ihre Ängste, Abneigungen, Verdächtigungen und ihre Geringschätzung nur die Früchte waren, die auf dem von ihrem gerechtfertigten Hass vergifteten Boden gewachsen waren. Erst danach konnte sie den langen Weg zur Läuterung antreten. In ihrer Eitelkeit hatte sie sich sogar eingeredet, dass sie in der Akzeptanz fremder Welten und Kulturen schon geradezu wunderbare Fortschritte gemacht hatte.

Bis zu diesem Tag.

Sie hatte den Großteil der letzten beiden Stunden damit verbracht, sich daran zu gewöhnen, dass Anrempeln, Spucken und Fauchen bei Klingonen einfach nur zum guten Ton gehörten. Nicht, dass sie ein Experte für diese Kultur gewesen wäre. Und ihre Instinkte konnten sich einfach nicht an die Konventionen einer Gesellschaft gewöhnen, die komplett auf Aggression zu basieren schien.

Und ich dachte immer, ich sei schon barbarisch, gestand sie sich seufzend ein. Sie kletterte vorsichtig an der rauen Rinde des Baums hinauf, fand Halt über der höchsten Wurzelverzweigung und zog sich fast einen ganzen Meter höher, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Mein Problem ist, dass ich meine Gefühle nicht verleugnen kann. Dax' sorgfältige, rationale Erklärungen in allen Ehren; ihr fiel es doch recht schwer, ihren Instinkten zum Trotz vorzutäuschen, dass sie eine Gesellschaft respektierte, deren einzige Legitimation Einschüchterung und Drohgebärden zu sein schienen. Ihr Bemühen um Verständnis wurde davon torpediert, dass jeder der Gesprächspartner, den sie und Dax befragt hatten, sie so angeschrien und angeknurrt hatte, als wollte er einen Streit provozieren. Hätte Dax nicht vorgeschlagen, dass Kira sich eine Weile allein ausruhen sollte – ›um sich abzukühlen‹ –, hätte die Bajoranerin womöglich noch einen politischen Zwischenfall heraufbeschworen.

Im Gebüsch zu ihrer Linken kam ein krachendes, knirschendes Grollen immer näher. Kira stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf die Kronen des Laubwerks zu werfen. Sie erhielt statt dessen einen nach Methangas stinkenden, klebrigen Rülpser mitten ins Gesicht, als das Wesen, das auf sie zukam, endlich träge aus dem Unterholz brach.

Als ihr Gehirn nicht mehr ausschließlich damit beschäftigt war, so schnell wie möglich den Baum emporzuklettern, befand sie sich zwei Meter höher über dem Boden der Lichtung als zuvor. Sie blinzelte hinunter – aber nur ein bisschen – und betrachtete den friedlichen Koloss, der nun die Rinde von den Pflanzen abnagte, die er eben noch niedergetrampelt hatte.

Es war keine cardassianische Bergbaudrohne, stand einer solchen in Größe und Gewicht aber nicht viel nach. Das Tier hatte eine Schulterhöhe von gut vier Metern und einen riesigen, flachen Kopf, der es wie einen Verteidiger beim Crashball aussehen ließ. Eine vorstehende Knochenplatte umgab den hinteren Teil des Schädels wie eine Tiara. Sie war so angewinkelt, dass sie fast nahtlos in die panzerartige Haut überging, die den klobigen Körper umgab. Diese war sicherlich zum Schutz gegen die unwirtliche und dornige Vegetation dringend nötig, vor der Dax und Kira widerstrebend hatten kapitulieren müssen, als sie versuchten, sich einen Weg hindurch zu bahnen. Der Blick, mit dem das Tier Kira ansah, war sanftmütig und dumm, und es schenkte ihr keine weitere Beachtung, nachdem es ihren Fuß mit der Spitze seiner beweglichen Oberlippe liebkost hatte, um sich dann wieder an den Verzehr genießbarerer Teile im Blattwerk des Baums zu machen.

»Keine Sorge – sie ist harmlos.«

Kira drehte sich mühsam nach der Stimme um und bemühte sich, eher verärgert als verlegen zu wirken. »Ich bin nur hier hochgeklettert, um besser sehen zu können.« Da erst fiel ihr auf, wie verkrampft sie sich an einen Ast klammerte, der eigentlich zu dünn war, um ihr Gewicht zu tragen. Sie konnte ein Erröten nicht unterdrücken. »Ich habe wohl keinen Besuch erwartet«, brachte sie schließlich hervor.

Das klingonische Mädchen lächelte, und bemerkenswerterweise fehlte in diesem Lächeln die typisch klingonische Geringschätzung. Doch es währte nur so lang wie eine Sternschnuppe. Dann warf es sich eine Schlaufe aus geflochtenen Pflanzenfasern über die Schulter und kletterte fast so geschickt wie die stummen Primaten über die Wipfel des Buschwerks. Auch die blutige Bandage um den Oberschenkel schien das Mädchen nicht nennenswert zu behindern. Es war mit Abstand die jüngste Klingonin, die Kira hier im Lager der Vrag gesehen hatte. Ihre Pubertät hatte vielleicht vor ein oder zwei Jahren begonnen, sie entsprach einer vierzehnjährigen Bajoranerin. Ihr Haar war zu einem noch strengeren Zopf zusammengebunden als das Worfs, doch diese Härte glich sie durch einfache, anschmiegsame Kleidung aus, die noch nicht einmal mit einer Andeutung der Rüstungselemente versehen war, die sonst sogar zu legerer klingonischer Garderobe gehörten. Als sie an dem riesigen Tier vorbeiging, strich sie mit der Hand an seinem Rumpf entlang. Diese Geste erinnerte Kira an die bajoranischen Bauern in ihrer Kindheit, die beim Gang durch ihre Herden hier und da Berührungen fallen ließen, damit die tollpatschigen Tiere ja nicht vergaßen, dass ein zerbrechlicher Humanoide unter ihnen war.

»Zu überhören war sie ja eigentlich nicht«, bemerkte das Mädchen, als es sich von den Gebüschwipfeln zu Kiras Baum hangelte und der Bajoranerin die Hand reichte. »Banchory können sich nicht besonders gut anschleichen.«

Kira war überrascht, das klingonische Wort für ›Panzer‹ zu erkennen. Sie warf einen nervösen Blick auf das Untier, das gerade seelenruhig einen Ast von der Dicke ihres Oberschenkels zerkaute. Sie stellte fest, dass ›Panzer‹ gar keine so unzutreffende Bezeichnung für diese Kreaturen war.

Sie senkte den Fuß vorsichtig auf die Räuberleiter, die das Mädchen für sie machte, und versuchte, dabei wenigstens halbwegs anmutig auszusehen. »Habt ihr diese …« Sie versuchte, sich an die genaue Aussprache des Mädchens zu erinnern. »… diese Banchory von Qo'noS mitgebracht?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Es führte Kiras anderen Fuß auf seine Schulter, bevor der Major das Gleichgewicht verlieren konnte, und brachte sie mit einer Kraft, die für ein bajoranisches Mädchen ihres Alters sehr ungewöhnlich gewesen wäre, in die relative Sicherheit der Wurzeln. »Nein, die Banchory sind auf Cha'Xirrac heimisch. Früher gab es Tausende davon.« Sie sah dem Banchory dabei zu, wie es ein langes Stück Rinde von einem anderen Baum abschälte, es umdrehte und wendete, wobei es nur die geschickten Lippen und die Zunge benutzte. Ein Anflug von Zorn schien über das Gesicht des Mädchens zu huschen. »Früher haben sie diese Lichtung im tuq'mor oft zum Übernachten besucht, doch nun gehen sie uns meist aus dem Weg.«

Kira hatte mittlerweile begriffen, dass mit tuq'mor jenes undurchdringlich dichte Gebüsch aus Schlingpflanzen, Büschen, Bäumen und Farnen gemeint war, das jeden Zoll des Festlands auf Armageddon zu bedecken schien. Es hätte Kira früher schon auffallen sollen, dass selbst die Klingonen eine Lichtung dieser Größe nicht ohne Hilfe gerodet haben konnten.

Kira zwang sich dazu, ruhig sitzen zu bleiben, als das Banchory sich umdrehte, um die andere Seite der von ihm selbst geschaffenen Lichtung zu untersuchen, und sie dabei um ein Haar mit dem Stummelschwanz gestreift hätte. »Und warum halten sie sich jetzt von euch fern?«, fragte sie, eher um sich abzulenken, als aus echtem Interesse. Sie erinnerte sich an den Kadaverhügel am Meer. »Weil Ihr sie jagt?«

»Weil Gordek und die anderen Männer sie jagen.« Die Verbitterung in der jungen Stimme erschreckte Kira. Das Mädchen packte das Seil über der Schulter wie ein wertvolles Bat'leth und sah Kira trotzig an. »Großmutter findet, dass wir machen können, was wir wollen, weil schon bald niemand mehr auf Cha'Xirrac leben wird. Gordek findet, dass wir machen können, was wir wollen, weil wir es können.« Eine ausgemacht kindliche Enttäuschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Ich dachte immer, bei Ehre geht es um mehr als nur darum, ob jemand sich daran erinnert, was man getan hat, oder wozu man andere zwingen kann.«

Kiras Kommunikator piepte, bevor ihr eine angemessene Antwort auf diese Aussage einfiel. »Dax an Kira.« Die Stimme der Trill klang steif und frustriert. »Könnten Sie sich mir und Epetai Vrag anschließen?«

»Ich komme sofort.« Sie drückte auf den Kommunikator, um ihn auszuschalten, lächelte das Mädchen dann an und war überrascht, wie leicht ihr das fiel. »Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen …«

»K'Taran.« Sie hielt ihr mit entwaffnend menschlichem Überschwang die Hand entgegen, verriet aber mit einer gewissen Tollpatschigkeit, dass sie so etwas noch nie zuvor getan hatte. »Die Freude war ganz meinerseits«, sagte sie vollkommen aufrichtig. »Die Erwachsenen sagen, dass Sie den Arzt mitgebracht haben, um unser Leiden zu lindern, während wir das Ende erwarten.«

»Ja, das stimmt.« Plötzlich kam Kira sich sehr töricht vor. Sie saß da und unterhielt sich über die örtliche Tierwelt, während gleichzeitig nahezu jeder und alles im Haus des Vrag ärztlichen Beistand benötigte. »Er war eben im Kinderhort, aber er hat bestimmt Zeit, sich um dein Bein zu kümmern.« Sie zeigte unnötigerweise auf die drei Erdhöhlen, in denen sie Bashir zuletzt gesehen hatte, als wisse K'Taran nicht genau, was sie gemeint hatte. »Er ist schlank und dunkelhäutig, mit schwarzen Haaren.«

»Danke.« Kurz sah es so aus, als wolle sie noch einen Handschlag versuchen, doch dann gab sie sich mit der klingonischen Entsprechung zufrieden, einer auf der Brust geballten Faust. »Ihre Sorge um mein Volk zeugt von großer Ehre.«

Kira sah ihr nach, als sie quer über das tuq'mor kletterte, und dachte darüber nach, wie unterschiedlich das Wort ›Ehre‹ von verschiedenen Leuten benutzt wurde. Die unterschiedlichen Formen klingonischer Höflichkeit waren kaum weniger überraschend.

Die unterirdische Baumhöhle, in der gerade der Vrag-Familienrat abgehalten wurde, sah noch so aus wie vor einer Stunde, als Kira ihn fluchtartig verlassen hatte. Noch immer zu dunkel, zu feucht und überfüllt mit fauchenden, keifenden Klingonen, die sich um eine feine Abstufung in der Auslegung des Begriffs ›Ehre‹ stritten. Durch die Wände brach ein so dichtes Wurzelgeflecht, dass man unmöglich noch feststellen konnte, welche Aushöhlungen die Klingonen vorgenommen hatten und welche vom Wasser ausgewaschen waren. All ihre Bemühungen, dem klammen, unförmigen Ort Profil zu geben, all ihre Wandteppiche, Skulpturen und grobschlächtigen Möbel unterstrichen den dunklen, erbärmlich schmutzigen Charakter dieses Lochs nur noch.

»Kira …«

Dax schien aus dem Nichts zu kommen. Bei der leisen Begrüßung schmolzen ihre Umrisse aus den Schatten gleich hinter dem Höhleneingang. Sie stand neben einem wackligen Tisch, spielte mit dem Henkel eines schlichten Wasserkruges und sah den Klingonen beim Streiten zu. »Wir haben ein Problem.«

Kira nickte. »Noch eins außer der Schiffsladung verschollener Starfleet-Veteranen und den Eisbrocken von der Größe von Raumstationen, die uns auf den Kopf fallen?«

Der Humor schien Dax aus ihrem Grübeln zu holen, und sie wandte sich mit einem verkniffenen Lächeln von der Diskussion ab. »Außer alledem, ja.« Sie senkte die Stimme auf verschwörerische Lautstärke. »Das klingonische Blockadeschiff ist zurück. Captain Sisko wird die Defiant tarnen, um nicht entdeckt zu werden.«

Kiras Magen verkrampfte sich leicht. »Was ist mit dem Außenteam? Können wir uns hochbeamen?«

»Nur, wenn wir jetzt aufbrechen. Wenn die Defiant erst einmal entdeckt worden ist, wird's schwierig.«

Weil das Schiff dann die Schutzschilde aufbauen musste und man nicht abschätzen konnte, wann sie wieder gesenkt werden konnten. Kira ging unruhig im Kreis und rieb sich die Augen. »Dann würden wir die Leute von der Victoria Adams zurücklassen müssen.« Bei den Propheten, wie spät es wohl auf der Defiant war? Sie hatte das Gefühl, seit Wochen nicht geschlafen zu haben. »Und Bashir müssten wir an den Haaren wegzerren. Er wird nicht mitkommen, solange es noch Verletzte gibt.«

»Aber wenn wir jetzt nicht gehen«, stellte Dax kühl und sachlich fest, »kommen wir vielleicht gar nicht mehr hier weg.«

»Dann ergeht es Ihnen eben wie uns allen.«

Kira drehte sich überrascht um. Der eben noch so apokalyptisch wirkende Streit hatte sich nun soweit beruhigt, dass es Rekan gelungen war, sie zu belauschen. Die anderen scharten sich abwartend um sie. Kira konnte schlecht einschätzen, ob ihre bösen Blicke eher ihr oder der Epetai galten. »Das lässt sich nicht vergleichen. In einer Hinsicht unterscheiden wir uns.« Kira drehte sich um und sah die Gruppe selbstbewusst an. Sie würde auf keinen Fall hier jemandem den moralischen Sieg zugestehen – erst recht nicht einem Haufen lebensmüder Klingonen. »Wir wollen überleben.«

Epetai Vrag öffnete den Mund zu einem – allerdings gesitteten – Knurren. »Es trägt nicht zur Ehre bei, sinnlose Schlachten zu kämpfen. Es kommen jeden Tag mehr Kometen. Je länger Sie hier sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie einen schweren Einschlag miterleben.« Sie wischte mit fast oberlehrerhafter Strenge Dax' Hand von dem Krug, mit dem die Trill gespielt hatte. »Sie hätten mehr davon, das Unausweichliche zu akzeptieren und ihren Geist auf den Übergang ins Jenseits vorzubereiten. Oder aber, Sie nehmen den einen Soldaten, den Sie gefunden haben, und machen sich auf den Weg.«

Kira unterdrückte den Drang, den Krug auf den Boden zu schmettern. »Ich bin noch nicht bereit, all unsere Möglichkeiten zu verwerfen.« Sie sah Dax eindringlich an. »Da das Blockadeschiff zurückgekehrt ist, können wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass die Defiant die Kometen von dem Planeten abhält.«

»Aber die Geiseln, die sich in der Gewalt der Klingonen befinden …«

»Denen können wir auch nicht helfen, wenn wir die Tarnung fallenlassen und von den Klingonen da oben angegriffen werden. Wir müssen mit weiteren Kometen rechnen. Wenn es dunkel wird, werden wir sie nach Eintritt in die Atmosphäre hoffentlich besser sehen und uns vielleicht einen Eindruck von ihrer Größe und Häufigkeit machen können.«

»Leider«, seufzte die Wissenschaftsoffizierin, »sagt uns das auch nichts über die Einschlagsorte.« Dax hob die Augen nur ein wenig, doch Kira wusste, dass sie Blickkontakt mit der klingonischen Matriarchin hergestellt hatte, die immer noch hinter der Bajoranerin lauerte. »Wir wären weniger gefährdet, wenn wir tiefer ins Landesinnere gehen würden. Ein ins Meer stürzender Komet könnte dieses Lager überfluten.«

Kira konnte ein ungläubiges Lachen nicht unterdrücken. »Wir sind doch fünfzig Kilometer von der Küste entfernt!«

»Wenn wir einmal die Zeit dazu haben, muss ich Ihnen unbedingt erzählen, wie im zwölften Jahrhundert der Geschichte des Planeten Caladaan Flutwellen fast alle kleineren Kontinente dort verschwinden ließen«, sagte Dax freundlich.

Kira konnte darauf verzichten, die ganze Geschichte zu hören – die Tatsache, dass dieses Beispiel existierte, war schon schlimm genug. »Wie steht es mit einer Suchaktion nach den Geiseln? Haben wir bei unseren Gesprächen etwas Brauchbares in Erfahrung gebracht?«

Dax schüttelte seufzend den Kopf. »Selbst wenn wir genau wüssten, wo wir suchen müssen, kämen wir nur mit Phasern durch diesen Urwald. Und dafür fehlt uns einfach die Zeit.«

»Warum benutzen wir nicht die Banchory?«

Kira hatte mit dieser Frage die Diskussion beleben, nicht das genaue Gegenteil bewirken wollen. Doch die Klingonen verstummten plötzlich wie vom Donner gerührt, jeder einzelne von ihnen. »Die Panzer?«, fragte Dax. »Kira, wovon sprechen Sie?«

»Das sind einheimische Tiere, die vier oder fünf Meter groß und wie ein kleines Raumschiff gebaut sind. Ich habe draußen eins davon gesehen.« Sie deutete hinter sich, durch den Ausgang und ungefähr in Richtung ihrer Begegnung mit dem Koloss. »Dax, Sie können sich nicht vorstellen, wie diese Tiere durch das Unterholz brechen. Mit ihrer Hilfe könnten wir in einer Stunde mehrere Kilometer zurücklegen.«

Dax sah fragend zu der Matriarchin hinüber. »Epetai Vrag …?«, forderte sie die alte Klingonin auf.

Rekan antwortete, ohne dabei von den Händen aufzusehen, deren Muskelstränge und Venenmuster sie plötzlich ungemein interessant zu finden schien. »Hat jemand dieses Tier begleitet, das Sie gesehen haben?«

»Ja, ein Mädchen.« Kira versuchte, den Gefühlsreigen zu deuten, der sich auf dem Gesicht der klingonischen Greisin abspielte. Sie gelangte aber nur zu dem Ergebnis, dass für Bajoraner wohl jede klingonische Gefühlsäußerung wie Wut aussah. »Es nannte sich K'Taran.«

Ein Klingone, der so alt war, dass seine Stirnhöcker schon ganz knorrig waren, keuchte ein bitteres Lachen. »Noch eine der widerspenstigen Vrag-Töchter.«

Rekan fauchte etwas, wobei es sich um eine klingonische Drohung oder einen animalischen Zornesschrei handeln konnte. Das wilde Geräusch weckte in Kira die Erinnerung an eine kindliche Stimme, die Großmutter meint, wir können machen, was wir wollen!, sagte. Plötzlich fiel ihr auf, wie ähnlich sich zwei Gesichter sehen konnten. »Epetai Vrag«, hörte Kira sich fast schon besänftigend sagen, »ist K'Taran ihre Enkeltochter?«

Rekan beantwortete die Frage schon, bevor Kira ausgeredet hatte. »Ich habe keine Enkeltochter.«

»Sie hören nicht auf zu existieren, nur weil Sie es gern so hätten.« Der ältere Klingone, der schon zuvor gesprochen hatte, schüttelte die warnende Hand eines weiteren Greises ab, und holte zum Schlag nach einem dritten aus.

Die Epetai setzte eine gefasste Miene auf, die beinahe überzeugend gewesen wäre, hätte in ihren Augen nicht so viel Schmerz gestanden. »Die Jungen, die uns verlassen haben, leben und sterben nun nach ihrem eigenen Willen. Sie haben einen Weg ohne Ehre gewählt und betreffen dieses Haus nicht mehr.«

»Aber sie betreffen uns, wenn sie es sind, die unsere Kameraden gefunden haben.« Etwa zum fünfzigsten Mal, seit sie sich auf Armageddon gebeamt hatten, fragte Kira sich, wie es Dax gelang, immer so neutral und höflich zu bleiben. Sie selbst wollte eigentlich nur noch den klingonischen Dickschädeln den Kopf abreißen. »Sagen Sie es uns bitte, wenn Sie wissen, wo sie sich aufhalten, damit wir mit ihnen reden und vielleicht Ihnen allen das Leben retten können.«

Rekan funkelte Dax herausfordernd an, ließ sich aber ansonsten nicht anmerken, dass sie die Bitte überhaupt vernommen hatte. »Die Ehre schreibt vor, dass dieses Haus zerstört werden muss«, sagte sie statt dessen. »Das ließ sich nicht vermeiden, doch war es niemals meine Entscheidung. Wir sind in dieser Lage, weil uns die Ehre keine andere Wahl gelassen hat.«

»Und weil Sie sich mit dem Tod abgefunden haben, müssen alle anderen hier mit Ihnen sterben?« Selbst Dax konnte man nun einen wütenden Unterton anhören.

»Sie weiß nicht, wo sie sind.« Der alte Mann rümpfte die Nase, als sei ihm ein Geruch unangenehm. »Keiner von uns weiß das. Sie sind hier heimisch geworden. Sie wandern durchs tuq'mor wie Tiere. Wir bekommen von ihnen höchstens noch die Spuren ihrer Banchory zu Gesicht.«

»Aber Sie haben doch gesagt, K'Taran sei gerade noch hier gewesen?«, fragte Dax ihre Kameradin.

Kira nickte. »Sie hat uns dafür gedankt, dass wir einen Arzt mitgebracht haben, und sagte …« Sie hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als deren Bedeutung ihr einen Schlag in die Magengrube versetzte. Sie drehte sich ein Stück von Dax und den anderen weg und schlug so fest auf den Kommunikator, dass sie damit rechnen musste, einen Bluterguss auf der Hand davonzutragen. »Kira an Bashir.«

Als zur Antwort nur Stille durch den Subraum hallte, ärgerte sie sich über ihre eigene Dummheit und ihre Scham.

»Kira an Bashir!«

Nichts. Kein Arzt, keine eigenwillige Klingonin, nicht einmal ein offener Kanal als Zeichen, dass es Bashirs Kommunikator überhaupt noch gab. Der Arzt war verschwunden.

Rekan Vrag durchbrach die Stille als erste, und obwohl in ihrer Stimme Triumph lag, ließ der eisige Ton Kira doch spüren, dass sie auf diesen Triumph nicht stolz war. »Sie haben ihnen eine weitere Geisel gegeben«, sagte sie vorwurfsvoll. »Verstehen Sie jetzt langsam, was für ein Unding ein Klingone ohne Ehre ist?«