Kapitel 9

 

»Verbinden Sie mich mit Kor. Sofort.« Sisko war sich eigentlich nie bewusst, wie seine Stimme klang, und ganz bestimmt nicht in einer brenzligen Situation. Doch schon der Eifer, den seine Offiziere in Augenblicken wie diesen an den Tag legten, ließ ihn annehmen, dass sie irgendwie anders klingen musste. Sie machten sich an die Arbeit, als säßen ihnen Furien im Nacken und heizten ihnen mit ihrem Feueratem ein. Nicht einmal Worf war gegen diesen Effekt gefeit, auch wenn seine steife Haltung ausdrückte, dass er sich notfalls dieser autoritären Aura hätte widersetzen können, sollten seine Instinkte als Offizier ihm dazu raten. Sisko vermutete, dass er selbst so ähnlich ausgesehen haben musste, als er vor ein paar Stunden der stahlharten Stimme Admiral Nechayevs gelauscht hatte.

»Hervorragende Arbeit, Captain«, hatte die Admiralin gesagt. Das Leuchten in ihren eisblauen Augen war trotz der Störungen, die die Kometen in der Hochsicherheitsübertragung erzeugten, deutlich zu sehen. »Der Verlust der Victoria Adams, vielleicht sogar der ihrer Passagiere, war nicht umsonst, wenn wir dadurch in Erfahrung bringen konnten, dass die Cardassianer Drevlocet von dem Planeten Armageddon schmuggeln wollten. Sie haben vielleicht gerade Millionen von Leben gerettet.«

»Vielen Dank, Admiral«, sagte Sisko knapp. »Aber bitte schalten Sie noch keine Todesanzeigen. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, die Überlebenden und mein Außenteam zu retten.«

Nechayev sah ihn überrascht an. »Haben Sie nicht gesagt, dass Sie sich wieder getarnt in einem Orbit treiben lassen müssen, um der klingonischen Blockade zu entgehen? Wie wollen Sie den Planeten dann vor Kometeneinschlägen beschützen?«

Sisko verzog das Gesicht. »Das weiß ich nicht.« Sie waren Kors betrunkener Treibjagd entkommen, indem sie den Warpantrieb abrupt abgeschaltet und ihre Emissionen und Schilde wieder der Umgebung angepasst hatten, um sich im Magnetfeld des Planeten zu verbergen. Erst danach war ihm klar geworden, dass er sich wieder einmal zur Untätigkeit verdammt hatte. »Ich werde mir etwas einfallen lassen.«

»Vielleicht könnten Sie mit Dahar-Meister Kor verhandeln«, schlug Nechayev vor.

Sisko musterte seine Vorgesetzte misstrauisch. Er hatte die Admiralin noch nie scherzen hören, ganz bestimmt nicht in einer derart angespannten Lage. Aber das konnte sie unmöglich ernst gemeint haben. »Was verleitet Sie zu der Annahme, dass sich die Verhandlungsbereitschaft der Klingonen verbessert hat, seit sie die Victoria Adams abgeschossen haben?«

»Weil Sie ihnen nun mitteilen können, dass es auf diesem Planeten eine natürliche Drevlocet-Quelle gibt«, sagte sie schmeichelnd.

Auf diese Bemerkung hin richtete Worf sich von seiner konzentrierten Arbeit an der Pilotenkonsole auf. »Der Hohe Rat der Klingonen hat geschworen, die Militärkonvention zu achten, die den Einsatz von Drevlocet verbietet!«, knurrte er. »Bei Imperator Kahless' Ehre! Sie würden es niemals einsetzen.«

»Dessen bin ich mir bewusst, Commander«, erwiderte die Admiralin. »Genaugenommen hält nur das mich davon ab, das ganze System sofort von fünf Raumschiffen abriegeln zu lassen. Ich verlasse mich darauf, dass die Klingonen Armageddon angemessen bewachen werden, wenn sie erfahren, wie gefährlich dieser Planet wirklich ist.«

»Deswegen möchten Sie, dass ich mit Kor rede«, erkannte Sisko. »Damit er den wahren Grund erfährt, warum die Cardassianer den Konflikt zwischen uns angestachelt haben.«

»Ganz genau.« Die Admiralin richtete ihren stählernen Blick wieder auf Sisko. »Es geht jetzt um sehr viel, Captain. Was auch immer Sie und Kor entscheiden, die Cardassianer dürfen in diesem System nicht mehr den geringsten Einfluss haben. Und das«, fügte sie hinzu und klopfte zur Unterstreichung mit ihrem Ring der Starfleet-Akademie auf den Schreibtisch, »ist ein Befehl.«

Sisko stimmte zähneknirschend zu. Es war nicht zu übersehen, dass Nechayev es diesmal ernst meinte. Und unmittelbar nach diesem Gespräch hatte er den Befehl erteilt, den geständigen Verräter Gordek auf Kors Schiff verlegen zu lassen. Das schien das erfolgversprechendste Mittel zu sein, den Dahar-Meister dazu zu bringen, eine Evakuierung Armageddons zu dulden. Wenn Kor nicht auf eine Warnung reagierte, die Millionen von Klingonen das Leben retten konnte, würde er auf gar nichts reagieren.

Doch nach einer Stunde des Schweigens sah es leider genau danach aus.

»Kor regiert nicht auf unseren Ruf, Captain.« Thornton wirkte frustriert, als wäre die Dickköpfigkeit des Klingonen sein persönliches Versagen. »Ich habe die Botschaft als höchste Dringlichkeitsstufe ausgewiesen, aber die Klingonen antworten einfach nicht.«

»Blocken Sie unser Signal auch ab?«

»Nein, Sir. Sie verweigern nur die Annahme.«

»Vielleicht verhört Kor Gordek noch«, sagte O'Brien zweifelnd. »Nur weil er Odo all die unschönen Einzelheiten über seine Geschäfte mit den Cardassianern gestanden hat, muss er sich bei Kor nicht genauso kooperativ verhalten.«

»Unwahrscheinlich«, entschied Worf. »Wir haben den verbannten Kollaborateur vor über drei Stunden zu ihm gebeamt. Kor muss ihn mittlerweile entweder zur Aussage gebracht oder getötet haben.«

»Oder beides«, bemerkte Odo trocken.

Sisko strich sich über den Bart. Er behielt stets die gefährliche Kometenwolke im Blick, die den Horizont Armageddons umhüllte. »Fähnrich Osgood, wie viel Zeit bleibt uns bis zum nächsten planmäßigen Kometeneinschlag auf dem Planeten?«

Die Wissenschaftsoffizierin sah besorgt von der Anzeige der Computersimulation auf ihrem Monitor auf. »Knapp fünfundvierzig Minuten, Sir. Aber es handelt sich nicht um einen einzelnen Kometen, sondern um eine Traube, die sich über zwei Grad im Bogenmaß verteilt. Wenn wir nicht bald aufbrechen, bin ich mir nicht sicher, ob wir alle Trümmer aufhalten können.«

»Dann können wir nicht warten, bis Kor sich bequemt, uns zu antworten.« Sisko schoss wie eine von Wut angetriebene Rakete aus seinem Sessel. Er war zu lange zur Passivität gezwungen worden. »Nachdem er gesehen hat, wie wir auf die Bruchstücke des Kometen geschossen haben, den er in die Luft gesprengt hat, muss er sich denken können, was wir zum Schutz des Planeten unternommen haben. Vielleicht weiß er sogar, mit welchen Manövern wir es bewerkstelligt haben. Ich bezweifle nur, dass er momentan weiß, welche Bruchstücke wir abwehren müssen.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher, Captain«, warf Thornton ein. »Ich habe in den letzten drei Stunden vom Schiff der Klingonen eine Vielzahl diffuser Scannertätigkeiten registriert. Es sieht ganz so aus, als hätten auch sie nun die gesamte Kometenwolke unter Beobachtung.«

»Kor versucht, unseren nächsten Zug im Voraus zu erkennen.« Sisko schlug im Vorbeigehen mit der flachen Hand auf die nutzlose Waffenkonsole. Thornton und Osgood schauten erschrocken auf. Odo sah ihn einfach nur fragend an. »Wenn wir uns also um diese Kometen kümmern …«

»… wird Kor uns vernichten«, vollendete Worf düster den Satz.

Sisko stapfte verbittert weiter über die Brücke. »Wir brauchen etwas, womit wir die klingonische Blockade so lange ablenken können, bis wir diese Kometentraube abgewehrt haben. Das Problem ist: Wäre ich Kor, würde ich diese Trümmer keine Sekunde aus den Augen lassen. Wovon würden ich und meine gesamte Besatzung sich ablenken lassen?«

»Höhere Gewalt?«, schlug O'Brien vor. »So etwas wie ein Ionensturm oder eine Sonneneruption?«

Sisko schüttelte den Kopf. »Das lässt sich in einer Stunde nur schwer vortäuschen. Was sonst?«

»Eine Abberufung durch den Imperator oder Kanzler Gowron?«, bot Odo an.

»Constable, würden Sie den Befehl für authentisch halten, riefe Starfleet uns ausgerechnet jetzt von Armageddon ab?«

»Nein«, gab Odo zu.

»Ich auch nicht. Weitere Vorschläge?«

Diesmal folgte seiner Frage eine lange Stille. Das Geräusch, das die Stille beendete, hatte Sisko so gut wie noch nie auf der Brücke der Defiant gehört.

Worf lachte.

Es war das laute Grölen klingonischer Heiterkeit, das kaum von ihren Kriegsschreien zu unterscheiden war. Es ließ Odo zusammenzucken und O'Brien fluchen, während Sisko sich ungläubig nach seinem taktischen Offizier umdrehte und neue Hoffnung in sich keimen spürte. »Was?«, fragte er. »Was ist Ihnen eingefallen?«

»Das Batlh Jaj!« In Worfs Augen tanzten die roten Funken, die sowohl Gefahr als auch Freude in ihm entzünden konnten. Er bemerkte Siskos verwirrten Blick und schüttelte so heftig den Kopf, dass ihm der Zopf gegen beide Schultern schlug. »Das Batlh Jaj, Captain. Der klingonische Tag der Ehre. Er wird heute begangen!«

»Was?« Zwei lange Schritte brachten Sisko zur nächsten Konsole, was in diesem Fall die von Osgood war. Sie sah ihn neugierig an, als er sich über ihre Schulter lehnte, doch es war nicht die Computersimulation der Kometenflugbahnen, die ihn interessierte. Er wollte lediglich einen Blick auf die Zeit- und Datumsanzeige in der Ecke des Monitors werfen. »Heute ist der Tag der Ehre?«

»Da der klingonische Kalender nicht mit dem der Föderation übereinstimmt, ändert sich das von Jahr zu Jahr«, erklärte Worf ihm. »Aber wir haben Deep Space Nine am wa'ChorghDIch verlassen, dem ersten Tag des neunten Monats. Der Tag der Ehre wird drei Tage später begangen.«

»Ich kenne mich zwar mit dem wa'ChorghDIch nicht aus«, mischte O'Brien sich ein, »aber es ist fast genau drei Standardtage her, dass wir die Station verlassen haben.«

Die Aufregung und ein ungutes Gefühl jagten einen Adrenalinstoß durch Siskos Blutkreislauf. »Mal sehen, ob ich mich noch daran erinnere, was ich über klingonische Geschichte gelernt habe«, sagte er nachdenklich. »Am Tag der Ehre behandeln die Klingonen selbst ihre erbittertsten Feinde wie blutgeweihte klingonische Krieger, mit allen Privilegien, Rechten und zeremoniellen Pflichten, die das mit sich bringt.« Er warf seinem taktischen Offizier einen aufmunternden Blick zu. »Denken Sie das gleiche wie ich?«

Worfs wildes, funkelndes Lächeln beantwortete wortlos seine Frage.

»O nein.« In Odos Stimme schwang üble Vorahnung mit. »Commander, Sie werden uns doch nicht wieder zu einem dieser rituellen Nahkämpfe zwingen?«

»Das Suv'batlh ist eigentlich kein Ritual«, belehrte Worf ihn. »Es ist ein Kampf bis zum Tod, um die beleidigte Ehre eines Kriegers zu verteidigen.«

»Und am Tag der Ehre müssen die Kämpfenden keine blutgeweihten Klingonen sein«, stellte Sisko überaus zufrieden fest. »Es können sogar Starfleet-Offiziere sein.«

»Das stimmt«, sagte Worf.

Sisko drehte sich wieder zu Thornton um. »Können Sie eine Verbindung mit den Klingonen herstellen? Ist es möglich, gar nicht erst ihre Antwort abzuwarten, sondern die Nachricht direkt auf ihren Bildschirm zu projizieren?«

Der junge Techniker grinste ihn an. Die zügellose Energie des Captains schien ansteckend zu sein. »Ich kann sie direkt durch die Schaltkreise ihrer Sichtsensoren senden, so dass sie die Anzeige ihrer externen Aufnahmen ersetzen wird. Aber wenn sie wollen, können sie die Verbindung innerhalb weniger Minuten blockieren.«

»Das werden sie nicht. Geben Sie mir einfach eine Minute, bevor wir auf Sendung gehen, Bescheid.« Sisko sah wieder zu Worf hinüber. »Wir werden das Suv'batlh auf dem Schiff der Klingonen abhalten müssen, um sie abzulenken, während die Defiant die Kometen abwehrt.«

»Einverstanden. Aber erlauben Sie mir die Feststellung, Sir, dass wir im Fall eines Sieges nicht nur unsere Ehre verteidigt haben.« Worfs dunkle Augen versprühten wieder Funken. »Wir können Kor dann auch verpflichten, uns jeden Wunsch zu erfüllen, den wir an diesem Tag an ihn richten.«

»Jeden Wunsch?«, fragte Sisko. »Auch, dass er mit uns zusammenarbeitet, um die Cardassianer von Armageddon fernzuhalten?«

»Jawohl, Sir.«

Sisko pfiff durch die Zähne, als er ihre Aussichten im Kopf abwägte. »Es ist ein Glücksspiel«, sagte er schließlich. »Aber es könnte gelingen. Und wenn wir versagen, haben wir die Klingonen zumindest ohne offene Kriegshandlungen abgelenkt.«

»Eigentlich hatte ich für meinen offiziellen Nachruf von Starfleet mit etwas anderem gerechnet«, bemerkte O'Brien.

»Keine Sorge, Chief«, beruhigte Sisko ihn. »Sie werden nicht mitgehen. Sie müssen an ihre Familie zu Hause denken …«

»… und außerdem wollen Sie sich bei dieser Sache nicht alle Chancen vermasseln«, fügte der Ingenieur resigniert hinzu. »Vielen Dank, Sir. Wen nehmen Sie denn mit?«

»Worf«, sagte Sisko und sah dann fragend zur Waffenkonsole hinüber. Er erhielt nur ein widerwilliges Nicken des Gestaltwandlers zur Antwort, doch der stahlharte Blick des Constable verriet ihm, dass sein Instinkt richtig gewesen war. »Und Odo. Auf diese Weise …«

»Ich habe die Sensoren der Klingonen übernommen, Captain«, unterbrach Thornton ihn. Seine Stimme war trotz der hektischen Bewegungen seiner Finger auf dem Computer vollkommen ruhig. »Das Kommunikationssignal wird in zehn Sekunden auf ihrem Bildschirm sein. Acht … sieben …«

Sisko holte tief Luft und starrte unbeweglich auf das unaufdringliche Bild Armageddons auf dem Monitor. Er würde keine Antwort auf diesen unverlangten Ruf bekommen, zumindest nicht sofort.

»… drei … zwei … Sendung.«

»Kor, heute ist Batlh Jaj«, sagte Sisko und kam so mit klingonischer Unverblümtheit sofort auf den Punkt. »Sie dürfen eine Herausforderung nicht ablehnen, auch nicht von einem Starfleet-Offizier, der Ihre Blockade missachtet hat. Ich fordere Sie zur Verteidigung meiner beleidigten Ehre zum Suv'batlh heraus, drei gegen drei.« Er bemerkte Worfs anerkennendes Nicken, war aber nicht sicher, ob seine Wortwahl oder seine Aussprache der klingonischen Vokabeln gelobt wurde. »Hier und jetzt, Kor. Suv'batlh.«

Eine nervenzerreißend lange Zeit erhielten sie keine Antwort. Sisko starrte auf Armageddons rauch- und wolkenverhangenen Himmel, in dem gerade wieder die stachelige Explosion eines Kometen in der oberen Atmosphäre aufblühte – ein Vorgeschmack auf die Katastrophe, die knapp außerhalb des Schwerkraftfeldes des Planeten lauerte. Dann kräuselte sich die Anzeige, und Kors breitschultrige Gestalt erschien auf dem Monitor. Er saß in seinem kahlen Kommandosessel. Das faltige Gesicht des alten Klingonen strahlte vor Überraschung, Respekt und Gelächter.

»Ein ehrenvoller Versuch, Sisko!« Kor applaudierte auf klingonische Art, indem er sich mit der Faust auf die Brust schlug, während die Krieger um ihn herum zusahen und amüsiert glucksten. »Tragisch, aber ehrenvoll.«

Sisko kniff die Augen zusammen und schenkte dem unguten Gefühl in seiner Magengrube keine Beachtung. »Was soll das heißen … ›tragisch‹?«

»Tragisch, weil Ihre Herausforderung nur ein wenig zu spät kommt.« Kors Lächeln entblößte fleckige und abgenutzte Zähne, doch seine Ehrlichkeit stand außer Frage. »Sie haben den klingonischen Kalender zwar richtig auf Föderationstage umgerechnet, aber die Länge des klingonischen Tages nicht bedacht. Batlh Jaj – was Sie den Tag der Ehre nennen – ist vor zehn Minuten zu Ende gegangen.«

 

Die Verwüstung auf der Oberfläche Armageddons schien kein Ende zu nehmen. Kira hatte die Hoffnung aufgegeben, unter den verbrannten Trümmern noch irgend etwas Lebendiges zu finden. Asche hatte sich wie ein seidiges Leichentuch auf die Überreste des tuq'mor gelegt, und der Schlamm dampfte und brodelte nicht mehr. Eine konturlose schwarze Rußwolke war vom Ozean über das Festland gekrochen und hatte den Himmel zu einem bernsteinfarbenen Glimmen verdunkelt. Nur das Zischen und Knistern der verlöschenden Glut begleitete Kira und Dax, als sie durch den finsteren Tunnel trotteten, der einmal der Banchory-Pfad gewesen war. Das und das leise, hohle Krachen der Kometen, die nicht annähernd weit genug entfernt explodierten.

Kira konnte sich nicht erinnern, wann ihr ganzer Körper zum letzten Mal so weh getan hatte. Ihre Knöchel schmerzten, weil sie ständig ihr ganzes Gewicht auf den Zehenspitzen und Fußballen balancieren musste, wenn sie über die Hindernisse kletterte, die ihr den Weg versperrten. In allen anderen Muskeln brannte eine Erschöpfung, von der Kira bezweifelte, sich jemals davon erholen zu können. Dax hatte schon vor vielen Stunden aufgehört, Witze zu machen. Mittlerweile bekam die Bajoranerin von der Trill nur noch das platschende Geräusch ihrer Stiefel im klebrigen Matsch und ein heiseres Keuchen zu hören, das dem Kiras verdächtig ähnelte.

Falls ich je wieder nach Hause komme, dachte die Bajoranerin, werde ich nie wieder irgendwo hingehen, wo es keine Bürgersteige gibt.

Dax' zerrte an Kiras Ärmel. Die Berührung reizte ihre Verbrennungen und ließ sie leise aufstöhnen. »Haben Sie das gehört?«, flüsterte die Trill und hielt Kira zurück.

Sie zischte durch die Zähne und schob Dax' Finger von ihrem verbrannten Unterarm. Nein, wollte sie knurren, ich höre nur, wie wir zwei ins Nichts wandern! Doch etwas in der finsteren Einöde ließ sie verstummen, etwas am Rhythmus des Donners, den sie zuerst für explodierende Kometen gehalten hatte. Nun aber bebte er in ihrem Magen und ließ das tuq'mor erzittern.

Sie schob Dax auf eine versengte, aber noch intakte Hecke zu. »Los!«

Nichts in den letzten sieben Stunden war Kira wohl so einfach gefallen, wie nun in dem verkohlten tuq'mor ein Versteck zu suchen. Wie ein Fisch durch die Schilfhalme eines Flusses schlängelte sie sich zwischen die knorrigen Baumstämme und zog sich auf das hinauf, was neuerdings die oberste Schicht des Gestrüpps war. Die wenigen Stellen auf ihrem Körper, die noch nicht von Asche und Schlamm geschwärzt waren, wurden von den Blättern und Zweigen, die die letzte schwere Explosion überstanden hatten, schnell mit einer öligen Schmutzschicht überzogen. Sie duckte sich so tief auf das ausgebrannte Laubdach, wie ihre erschöpften Muskeln es ihr gestatteten, und hoffte, dass sie sich nicht mehr von den verbrannten Pflanzen unterschied, während sie lauernd hinab auf den Pfad blickte.

Zuerst kam der riesige Schatten des Banchory. Er ließ den ohnehin schon düsteren eingefassten Pfad noch schwärzer erscheinen und erstickte selbst die allerletzten Konturen. Eine schlanke Gestalt mit wüstem Haar saß rittlings auf dem lebenden Berg. Kira bezweifelte, dass der Reiter am helllichten Tag auffälliger gewesen wäre. Und sie musste sich keinerlei Sorgen machen, den Rücken des Banchory zu verfehlen, als sie aus dem tuq'mor sprang.

Ihr Phaser stach dem überraschten Klingonen in den Rücken, noch bevor er erschrocken über die Schulter sehen konnte. Kira drückte mit der Handfläche sein Kinn nach vorn und schlang dann – sicher ist sicher – den Arm um seine Kehle. »Ja«, versicherte sie ihm ganz dicht hinter seinem Ohr. »Die Waffe ist echt. Nein, ich habe keine Hemmungen, sie einzusetzen. Sie können nur hoffen, mir etwas zu sagen, was ich hören will.«

Der Reiter streckte beide Hände mit gespreizten Fingern aus – die uralte Geste des Unbewaffneten. Dann antwortete die Stimme einer jungen Klingonin. »Ein menschlicher Arzt namens Bashir hat mich geschickt, seine Begleiter zu suchen, damit sie sich vor den Kometen in Sicherheit bringen können.« K'Taran verdrehte den Kopf und sah Kira nur sehr kurz in die Augen. »Reicht das?«

 

Die Nacht verhüllte die schlimmsten Schäden, doch im Schein der wenigen noch brennenden Feuer und eines neuen Glühens im südlichen Himmel konnte Kira erkennen, dass die Ehre allein Rekan Vrags Lager nicht vor dem Zorn Armageddons beschützt hatte. Sie hielt sich unbehaglich an K'Tarans Taille fest, während das Banchory mit überraschendem Feingefühl um kleine Erhebungen in dem Ascheteppich schlich. Die Bajoranerin konnte sie nur mit viel Phantasie als verkohlte Leichen erkennen. Es lohnte die Mühe nicht. Als das Tier endlich schlurfend dort zu stehen kam, wo sich früher womöglich die Mitte der Siedlung befunden hatte, fiel Kira auf, dass sie noch nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, auf welchen Teil des Lagers sie blickte. Alles hatte sich vollkommen verändert, nur die untersten Wurzelballen der Bäume standen noch.

Ach, Propheten, ich will nach Hause.

»Major! Commander!«

LeDonnes schlanke, dunkle Gestalt löste sich aus den Schatten einer noch schwelenden Baumhütte. Kira sah die große Erleichterung auf dem Gesicht der jungen Frau und wusste, was sie wohl dachte, als sie abrupt stehenblieb und den Rücken des Banchory mit ihrem Blick erneut von vorn bis hinten absuchte.

Doch es war Dax, die sie beruhigte. »Wir haben ihn gefunden«, behauptete sie fast fröhlich, als das Banchory sich vorsichtig hinkniete.

»Sozusagen.« Kira ließ sich hinabrutschen und unterdrückte den Schmerz in ihren steifen Knien und das Brennen in den Fußsohlen. »K'Taran sagt, dass Dr. Bashir sie gebeten hat, uns zu holen.« Sie hielt sich an dem kleinen, spitzen Ohr des Banchory fest und hoffte, dass keiner der näher kommenden Klingonen ihre Schwäche bemerkte. »Mehrere Kilometer westlich von hier gibt es Höhlen, die Schutz vor den Explosionen bieten. Nur ein unmittelbarer Treffer könnte sie vernichten. Dort ist genug Platz für alle.« Das hieß, für alle, die noch übrig waren. Kira konnte die versammelten Gesichter an zwei Händen abzählen. Sie sah sich nach Epetai Vrag um und entdeckte sie etwa in der Mitte der kleinen Gruppe.

»Sie lügt.« Rekan sah Kira nicht einmal an.

K'Taran hielt dem starren Blick ihrer Großmutter stolz stand, sprang neben der Bajoranerin zu Boden und streckte das Kinn vor. »Ein ehrenvoller Klingone lügt nicht.«

»Und ich wiederhole …« Rekan entblößte Zähne, die trotz ihres Alters noch scharf waren. »Du lügst.«

Kira spürte in K'Taran Zorn auflodern, der heiß genug war, um das Buschfeuer wieder zu entfachen. Sie trat einen Schritt von dem Banchory weg und hob einen Ellbogen, um das Mädchen zurückzuhalten. Sie dankte den Propheten, als K'Taran ohne Widerspruch stehen blieb. Kira war nicht in der Verfassung, ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. »Was hätte sie davon, uns anzulügen?«, fragte sie Rekan.

Die alte Matriarchin schien jeden Augenblick ausspucken zu wollen. »Ehrlosigkeit braucht kein Motiv.«

»Du hast kein Recht, meine Ehre anzuzweifeln!« Diesmal schüttelte K'Taran Kiras Arm ab und machte einen Satz nach vorn, um die beiden Erwachsenen beiseite zu stoßen, die zwischen ihr und Rekan standen. »Ich stehe hier, oder nicht?«, fauchte sie. »Ich habe mein Leben an diesen verfluchten Planeten gebunden. Ich habe mit erhobenem Haupt zugesehen, wie die Burg unserer Vorfahren niedergebrannt und unser Name in den Schmutz gezerrt wurde. Was verlangst du denn noch von mir?«

»Es ist keine Ehre, sein Haus im Stich zu lassen!« Die Leidenschaft in Rekans Augen leuchtete heller als alle Sterne. »Es ist keine Ehre, das Gesetz solange zu verbiegen, bis es einem passt.«

»Das Gesetz hat uns lediglich auf diesen Planeten verbannt«, erinnerte K'Taran sie. »Das Gesetz hat nie ausdrücklich gesagt, dass wir unbedingt sterben müssen.«

»Die Absicht hinter einem Befehl ist genauso wichtig wie die Worte, in die er gehüllt ist.«

Kira musste unwillkürlich lachen. »Darum geht es hier also?«, fragte sie, hinkte von dem Banchory weg und stellte sich Schulter an Schulter neben K'Taran. »Nur weil Gowron davon ausging, dass Sie hier ums Leben kommen werden, dürfen Sie nichts dagegen unternehmen?«

Rekan würdigte Kira noch immer keines direkten Blickes und sah unmittelbar über sie hinweg. »Ich werde nicht zulassen, dass dieses Haus als ehrlos bezeichnet wird«, stellte sie grimmig klar. »Ich werde nicht zulassen, dass diese Familie nach Sto-Vo-Kor kommt und Kahless berichtet, wie wir versuchten, die Ehre auszutricksen. Wie wir Geiseln nahmen, die mit unserem Kampf nichts zu tun haben, und vor unserer Pflicht wie Ferengi davonlaufen wollten, die Schlupflöcher in ihre eigenen Verträge reißen.«

K'Taran trat vor ihre Großmutter. Die elektrische Spannung, die zwischen den beiden knisterte, als ihre Blicke sich trafen, dreht Kira den Magen um. »Du glaubst nicht, dass ich lüge.« Die Stimme des Mädchens klang einfach nur verletzt, nicht so wütend, wie Kira erwartet hatte. »Du hast Angst, dass ich die Wahrheit sage, dass es tatsächlich eine Aussicht auf Leben gibt.«

Zum ersten Mal konnte Kira die Liebe erahnen, die den zornigen Krieg zwischen den beiden anfachte. »Ich fürchte, dass du dich täuschst«, gab Rekan beinahe flüsternd zu. »Ich fürchte, dass wir auf der Flucht sterben und unwiderruflich entehrt werden.«

»Sollte nicht jeder seinen eigenen Weg wählen dürfen?« Diese Frage hatte Kira schon auf der Zunge gebrannt, seit Rekan sich zum ersten Mal geweigert hatte, ihren Klan evakuieren zu lassen. »Ist es ehrenvoll, dem anderen die eigenen Ängste aufzuzwingen?«

Rekan zischte sie durch die Dunkelheit an. »Behalten Sie Ihre Galle für sich. Sie wissen doch überhaupt nicht, was Ehre ist.«

»Ich weiß, dass die Angehörigen meines Volkes im Herzen spüren, was richtig und was falsch ist«, wehrte sich Kira. Angst, Wut und Müdigkeit raubten ihr sämtliche Regeln des Anstands. Sie konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, die alte Klingonin nicht durchzuschütteln. »Wir brauchen keinen Kanzler oder sonst jemanden, der uns vorschreibt, was Ehre ist. Sind Klingonen so einfältig, dass sie das nicht allein entscheiden können?«

Rekans Schlag überraschte Kira nicht so sehr wie die rohe Kraft im Arm der alten Frau. Sie lag betäubt und vom Schmerz geblendet auf dem Boden, bevor ihrem Bewusstsein überhaupt klar wurde, was sie niedergeschlagen hatte. »Seien Sie froh, dass Sie keine Klingonin sind«, regnete der Zorn der Epetai wie ein Kometenschwarm auf sie herab. »Ich würde Ihnen auf der Stelle Ihr eigenes Herz zu fressen geben.«

»Ich akzeptiere«, hörte Kira ihre eigene Stimme durch den Nebel der Betäubung sagen.

Ihre Sicht kehrte elend langsam zurück, und alles schien ein wenig heller und unschärfer zu sein als zuvor. Doch der Schock und das Misstrauen auf dem Gesicht Rekan Vrags waren auch für eine benommene Kira nicht zu übersehen. »Ihre Herausforderung zum Kampf«, fuhr Kira vorsichtiger fort. »Ich nehme sie an.«

Die Epetai runzelte die Stirn. »Ich habe Sie nicht herausgefordert!«

»Sie haben mich geschlagen.« Und irgendein losgelöster Teil ihres Verstandes reihte weiter die Wörter aneinander, ohne Rücksicht auf den schwer mitgenommenen Körper zu nehmen, der immer noch ausgestreckt am Boden lag. »Wenn ein Klingone den anderen schlägt, ist das eine Herausforderung zum Kampf.«

»Aber Sie sind keine Klingonin!«, entgegnete Rekan.

Und endlich verrieten Kiras Instinkte dem Rest von ihr, was sie da eigentlich tat. »Batlh Jaj.«

Die Stille, die nun auf sie einstürzte, war fast schmerzhaft. Und sie schien so schwer zu sein, dass sie Rekan fast den letzten Atem raubte. »Sie können kein Suv'batlh durchführen. Sie sind nur zu zweit.«

»Zu dritt.«

Selbst Kira konnte den Schmerz in Rekan spüren, als K'Taran vortrat. Die alte Klingonin knurrte und fuchtelte mit den Armen. Kira kämpfte sich auf Hände und Knie, dann langsam auf die Füße.

»Wenn wir gewinnen«, sagte Kira, während sie sich zwischen K'Taran und Dax stellte, »ist unsere Ehre unanfechtbar. Dann können wir jeden, der es möchte, in K'Tarans Zuflucht bringen, und Sie werden es nicht verhindern.«

Rekan nickte nicht. »Und wenn ich gewinne?«

»Dann sterben wir alle.« Diese Antwort hatte schon zugetroffen, bevor die Herausforderung überhaupt formuliert worden war. Kira richtete sich so gerade auf, wie ihre schmerzenden Muskeln es zuließen. »Ich glaube, die Wahl des Schlachtfelds liegt bei mir.«