11
Der erste Traum erwischt mich drei Nächte später.
Allerdings sind meine Erinnerungen am nächsten Morgen so vage, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich wirklich geträumt habe oder nicht. Zurück bleibt ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend, das mich den ganzen Tag auf Arbeit begleitet.
Beim zweiten Mal reiße ich beim Hochschrecken Julian aus dem Schlaf, kann mich aber wieder nicht genau erinnern. Es ist nur erneut dieses seltsame Gefühl, das mich dann den Rest der Woche nicht mehr loslässt. Ich überspiele es, so gut es geht, da Matthias' Geburtstag ansteht und wir eine Party planen, die er nicht will, aber trotzdem bekommen wird. Ergo, es gibt neben meiner täglichen Schicht mit Manuel, der sich regelmäßig nach Julian erkundigt und sich halb tot lacht, als ich ihm schließlich erzähle, was Julian Matthias zu schenken gedenkt, noch genug zu tun, denn wir brauchen hübsche Dekoration für den Garten und ausreichend zu essen für eine gemütliche Kaffeerunde im Familienkreis und einen langen Grillabend.
Es sind alle eingeladen und alle haben schon zugesagt, dass sie kommen. Sogar Heiko hat versprochen, auf einen Kaffee zu erscheinen, und da er nicht der Einzige ist, der die Woche über arbeiten muss, wird die Party nicht an Matthias' Geburtstag am Mittwoch steigen, sondern am darauffolgenden Samstag.
Hannes hat die wichtige Aufgabe übertragen bekommen, seinen Ehemann die kommenden Tage zu beschäftigen, damit er nicht zu früh Lunte riecht, und dem seligen Grinsen nach zu urteilen, das Matthias seitdem jeden Tag im Gesicht hat, kann ich mir lebhaft vorstellen, in welcher Form Hannes ihn ablenkt. Sehr zur Belustigung unserer drei Jungs, die aus dem Kichern kaum mehr rauskommen, und am Mittwoch dann die ersten sind, die Matthias ihre Geschenke überreichen.
Er wird übrigens immer noch rot, wenn er verlegen ist, und er hat es nur Julians drohendem Blick zu verdanken, dass ich das nicht mit einem frechen Spruch kommentiere.
Seine niedliche Verlegenheit ist allerdings vergessen, als er das Gleitgel mit Kirschgeschmack, einen schwarzen Vibrator und rosafarbene Analkugeln auspackt. Total fassungslos starrt er auf die Geschenke von Torben, Niklas und Jonas, während die drei vor unterdrücktem Gelächter fast ersticken. Genauso wie ich, sollte ich wohl noch dazusagen.
»Sam!«
Ich wische mir die Lachtränen aus dem Gesicht. »Was? Ich habe dir kein Sexspielzeug geschenkt. Wobei dieser schwarze Vibrator ganz schön mutig ist. Ich meine, das sind mindestens acht Zentimeter Durchmesser.« Ich gucke kritisch zu Hannes, der sich daraufhin ein äußerst anzügliches Grinsen gönnt, das Julian neben mir resigniert aufstöhnen lässt.
»Oh nein, verschont mich. Bitte keine weiteren Details über das wilde Sexleben meiner Onkel. Das ist fast so, als würde ich Papa fragen, in welcher Stellung er es mit Melanie treibt.« Er schaudert. »Außerdem sind unschuldige Kinder im Raum, die so was wirklich nicht hören müssen.«
»Oh, du meinst dich?«, stichelt Torben frech und als Julian knurrend nach ihm langt, lacht er los und kurz darauf flüchten die drei Rotzlöffel polternd die Treppe hoch, dicht gefolgt von Julian, der ihnen einen langen und qualvollen Tod androht.
Er wird natürlich ausgelacht.
Und so geht es den ganzen Tag über weiter, Sommerferien sei Dank, denn unsere Jungs haben natürlich nichts Besseres zu tun, als Matthias mit ihren Geschenken zu ärgern.
Was er von Hannes bekommen hat, weiß ich gar nicht, aber das werde ich früher oder später schon in Erfahrung bringen. Wahrscheinlich ist es irgendwas Supertolles, so wie das Bild in ihrem Schlafzimmer, für das wir damals alle zusammengelegt haben. Matthias liebt es immer noch abgöttisch, so wie alles, was mit Lavendel zu tun hat, obwohl er sich Hannes zuliebe mittlerweile komplett auf den Garten beschränkt, wenn es um die Pflanzen geht.
Schmunzelnd betrachte ich die kleinen, lilafarbenen Blüten, während ich den Weg zum großen Apfelbaum einschlage. Sie sind noch lange nicht reif, aber der Baum hängt voller Früchte und ich freue mich jetzt schon auf den Herbst, wenn ich …
»Wenn du auch nur einen pflückst, kriegst du den Rest des Jahres keinen Apfelkuchen mehr.«
»Also das ist gemein«, nörgle ich, was natürlich nicht viel Eindruck hinterlässt.
»Ich schütze nur die armen Babyäpfel vor dir Gierschlund«, erklärt Matthias trocken, dann tritt er zu mir und stupst mich belustigt mit der Schulter an. »Du musst gleich los.«
Ich weiß, ich habe die Uhr im Blick. »Spätschicht. Wer die erfunden hat, gehört erschossen.«
Matthias lacht leise. »Als würde Julian nicht warten, bis du heimkommst, damit er dir einen dicken Gutenachtkuss geben kann. Außerdem hast du ab Montag drei Wochen Urlaub, von denen du gleich zwei in einer tollen Hütte am See verbringen wirst. Wenn das nichts ist, auf das man sich freuen kann ...« Er weiß natürlich Bescheid. Allerdings trifft das nicht auf Julian zu. Ich sehe mich hastig um. »Keine Sorge, er ist immer noch völlig ahnungslos.« Matthias schürzt die Lippen. »Ich hoffe, du hast schon genug Gleitgel gekauft.«
»Matthias!«
Er lacht, doch dann wird er ernster. »Du willst das wirklich durchziehen, oder? Diese 'Kein Sex'-Regel.« Ich nicke nur und daraufhin lächelt Matthias zufrieden. »Du bist ein toller Kerl, Samuel Henning, und deshalb darfst du Julian auch heiraten. Glaub ja nicht, dass Jürgen es dir erlauben würde, wärst du ein Arschloch.«
Ich stutze irritiert. »Er hat nie ...«
»Etwas gesagt?«, nimmt mir Matthias die Worte aus dem Mund und grinst breit. »Zu dir nicht, zu mir schon. Wir haben uns oft darüber unterhalten, weil er anfangs Zweifel hatte. Du bist erstens ein Kerl, zweitens Polizist und drittens zehn Jahre älter als Julian. Aber du liebst seinen Sohn und du machst ihn glücklich, das ist alles, was für Jürgen zählt, und wenn ihr bald heiratet, wird er dir das alles noch persönlich sagen. Inklusive einer höflichen Ansprache über Betonfüße und Beerdigungen im Baggersee, wenn du verstehst, was ich meine.«
Jetzt muss ich lachen. »Das war ja klar.«
Matthias gluckst und zwinkert mir zu. »So sind wir Baums. Leb damit.«
»Du heißt jetzt Wendermann, Klugscheißer.«
Er winkt lässig ab. »Im Herzen bin ich weiterhin ein Baum und wenn du es wagst, Julian unglücklich zu machen, helfe ich Jürgen natürlich sofort, dich zu begraben. Sehr, sehr tief.«
Immer diese Morddrohungen. Da fällt mir ein … »Weißt du übrigens, dass dein Neffe mir vor einer Weile bereits dasselbe angedroht hat? Vielleicht sollte ich mir lieber Sorgen machen, in was für eine Familie ich da einzuheiraten gedenke?«
»Vergiss es. Wenn du versuchst abzuhauen, vergraben wir dich erst recht.« Matthias deutet auf den Baum vor uns. »Und zwar unter diesem tollen Apfelbaum hier.«
»Matthias!«
Er lacht und stupst mich wieder mit der Schulter an. »Hey, wo ist eigentlich mein Geschenk von dir? Glaub ja nicht, dass du dich darum drücken kannst, nur weil ich ständig behaupte, dass ich keine Geschenke will?«
Ich grinse harmlos. »Das ist noch nicht fertig.«
»Ah, das kriege ich also auf der Party am Samstag, von der angeblich keiner was weiß, die aber trotzdem stattfinden wird, wozu läge sonst eine große Packung rosafarbener Lampions in Torbens Sockenschublade?«
Herrje, Dirk hat den Jungs extra noch angeboten, das ganze Dekozeug außer Haus zu verstecken. Am besten tue ich weiter so, als könnte ich kein Wässerchen trüben. Das glaubt Matthias mir zwar ohnehin hin, aber das Gegenteil kann er ja auch nicht beweisen, und nur darauf kommt es schließlich an.
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Matthias nickt. »Ja, das dachte ich mir schon. Ich hoffe für dich, die Lampions waren nicht deine Idee.«
»Natürlich nicht.« Waren sie wirklich nicht, aber ich werde Hannes nicht verraten, das verzeiht er mir nie. Ich werfe einen demonstrativen Blick auf die Uhr. »Huch, schon so spät.«
»Sam ...«
Ich mache hastig kehrt. »Ich muss los, sonst komme ich zu spät zum Dienst und das willst du doch nicht, oder?«
Matthias' heiteres Lachen folgt mir bis ins Haus.
Der dritte Albtraum ist der heftigste, denn dieses Mal kann ich mich hinterher genau erinnern und das erschreckt mich die ersten zehn Sekunden förmlich zu Tode, bis ich endlich wieder klar denken kann und erkenne, dass Julian gesund und munter neben mir liegt. Er schläft tief und fest, ich habe ihn dieses Mal nicht aufgeweckt.
Gott sei Dank, denke ich im ersten Augenblick.
Im zweiten ziehe ich ihn so eng an mich, dass er im Schlaf einen protestierenden Laut von sich gibt. Ich lasse sofort etwas lockerer, ihn aber nicht los.
Ich kann nicht.
Ich will es auch nicht.
Nicht, nachdem er gerade in meinen Armen gestorben ist.
Zumindest in meinem Traum.
Mein Herz schlägt immer noch viel zu schnell, während ich versuche, mich langsam zu beruhigen und das Durcheinander in meinem Kopf ein bisschen zu sortieren. Gerade haben wir uns noch geküsst, da er nach dem Zähneputzen mal wieder die unanständigen Finger nicht von mir lassen konnte. Doch schon im nächsten Moment standen wir in einem Pulk vermummter Gestalten. Alle ganz in schwarz und ohne Gesichter.
Wieder wird mein Griff um Julian fester, während ich mich an sein blutüberströmtes Gesicht erinnere. An seinen Blick, so voller Angst, während ich versuchte, irgendwie an seine Seite zu kommen, um ihn zu beschützen.
Ich weiß, dass ich über die Köpfe der Vermummten hinweg um Hilfe rief, aber niemand hat mich gehört.
Niemand hat geholfen, als sie anfingen uns einzukreisen.
Niemand kam, als Hände mich festhielten, während Julian zu Boden ging und wieder und wieder panisch meinen Namen rief, während sie anfingen ihn totzuschlagen.
Was, zur Hölle, war das?
Julian seufzt im Schlaf und jetzt muss ich mich auf einmal von ihm lösen, weil ich es nicht mehr neben ihm aushalte. Ich brauche dringend frische Luft und etwas zu trinken.
Die Küche ist schnell geplündert und als ich mit einer Tasse heißer Schokolade auf die Terrasse trete, fühle ich mich sofort wieder etwas besser. Es riecht überall nach Sommer, ich kann den blühenden Lavendel riechen und ein paar andere Blumen, deren Namen ich nicht kenne. Matthias hat in den letzten zwei Sommern verschiedene Beete angelegt, vor allem mit Pflanzen, die für Insekten und Bienen gut sind. Immerhin gibt es hier im Garten mittlerweile vier Insektenhotels, zwei Vogeltränken, ein Häuschen und drei Futterstationen. Matthias liebt den Kram, obwohl er immer behauptet, das wäre alles für die Jungs, weil sie lernen sollen, wie wichtig eine vielfältige Natur für uns ist. Natürlich nicken wir immer nur, sobald er etwas Neues kauft, was ich oder Hannes dann irgendwo aufhängen oder -bauen müssen. So wie dieses Hochbeet aus alten Paletten, in dem er Kräuter, Erdbeeren und verschiedene Salate zieht.
Ich lasse mich auf der Bank unter unserem Lieblingsbaum nieder und strecke beide Beine aus. Die Hühner schlafen, unser süßes Hausschwein ebenfalls und Ripley wird bei Hannes und Matthias sein. Wo unsere vierbeinigen, kätzischen Satansbraten sind, will ich gar nicht wissen. Es ist jedenfalls herrlich ruhig draußen. Na ja, so ruhig wie es sein kann, wenn einem gefühlt eine Million Grillen von allen Seiten in die Ohren zirpen, in der Ferne Autos zu hören sind und irgendwo weiter weg noch eine Party mit furchtbarer Musik läuft. Schlager. Du großer Gott.
»Genießt du die wunderbare Nachtmusik?«
Grinsend sehe ich zur Terrassentür, an der Hannes steht, in einer engen Shorts, die nicht gerade viel der Fantasie überlässt, von der ich bekanntermaßen eine Menge habe. Dann gähnt der Traumkerl mit einem Geräusch, das jegliche Träumerei prompt in der Luft verpuffen und mich lachen lässt.
»Was war das denn? Ein gegähnter Furz?«
Hannes zwinkert mir zu und nimmt kurz darauf den Platz neben mir in Beschlag. »Matthias versucht bereits seit Wochen herauszufinden, ob es ein als Furz getarntes Räuspern oder der Angriffsschlachtruf einer außerirdischen Spezies ist.«
Wieder muss ich lachen und dass Hannes mitlacht, gehört mit zu jenen Dingen, auf die nicht nur Matthias stolz ist, denn aus dem schüchternen, zurückhaltenden Kerl an meiner Seite ist in den letzten beiden Jahren ein sexy, völlig in sich ruhender Mann geworden, der scherzen kann, der manchmal flucht wie ein Bierkutscher, und der Matthias über alles liebt. Er verhaut immer noch gerne Tierquäler, ist aber dazu übergegangen, es verbal zu tun, bevor er die Polizei ruft und Anzeige erstattet.
»Dir geht es nicht gut.«
Bumm. Mit beiden Fäusten direkt in die Magengrube. Auch das kann Hannes großartig, vor allem im Umgang mit Torben, Niklas und Jonas, denn die drei hatten es anfangs in der Schule nicht leicht, und wenn jemand weiß, wie grausam Kinder sein können, dann ist es Hannes. Wer über viele Jahre hinweg aufs Übelste gemobbt worden ist, der weiß, wie sich Kinder fühlen, denen es genauso ergeht.
»Und das weißt du woher?«, frage ich ruhig und vermeide seinen Blick, obwohl ich spüre, dass er mich ansieht.
»Ich habe es jahrelang genauso gemacht. So getan, als wäre alles in Ordnung, damit Dirk und unsere Eltern nicht merken, was in der Schule los ist.« Hannes drückt meine Schulter, lässt aber sofort von mir ab, als ich mich verspanne. »Ich weiß nicht, wie lange du Matthias etwas vormachen kannst, aber Julian ist längst im Bilde. Er weiß, dass etwas nicht stimmt. Früher oder später wird er dich darauf ansprechen und was tust du dann? Seine Sorge mit einem Lächeln abwiegeln und ihn belügen?«
Schweigend schürze ich die Lippen. Ich will ihm nicht von dem Albtraum erzählen. Ich weiß ja nicht einmal, wieso ich ihn hatte und aus welchem Grund Julian darin verprügelt worden ist. Ich war im März derjenige, der Prügel einstecken musste, nicht Julian. Hätte ich dann nicht eigentlich mich selbst in dem Traum sehen müssen?
»Ich hatte eine Weile Albträume«, sagt Hannes auf einmal und als ich ertappt zusammenzucke, seufzt er neben mir. »Das dachte ich mir schon. Weißt du, Dirk wollte unbedingt Details hören, nachdem er endlich wusste, was damals in der Schule vorgefallen war, und je mehr ich ihm davon erzählt habe, desto schlimmer hat es mich selbst an einzelne Vorfälle erinnert. Mit seinen Fragen hat er alles wieder aufgewühlt, was ich so lange unterdrückt hatte. Matthias hat ihm schlussendlich die Leviten gelesen und verlangt, dass er mir entweder einen Therapeuten bezahlt oder endlich aufhört in der Vergangenheit zu wühlen, die ohnehin nicht mehr zu ändern ist.«
Ich sehe ihn an. »Hat es geholfen?«
»Du meinst, ob es gereicht hat, einfach nicht mehr darüber zu reden? Wieder so zu tun, als wäre alles gut?«
Ich kenne die Antwort auf diese Frage, noch bevor Hannes den Kopf schüttelt, und dieses Mal seufze ich. »Mist.«
Hannes erhebt sich. »Finde raus, was los ist. Was genau der Grund ist. Es gibt immer einen Auslöser. Finde ihn und schaff ihn aus der Welt.«
»Wie hast du das gemacht?«
»Indem ich Dirk wochenlang verflucht habe und danach zu dem Psychologen gegangen bin, den er für mich gesucht hat.« Hannes lächelt mitfühlend. »Ich brauchte keine lange Therapie. Mir hat es schon geholfen, dass ich mir das Ganze einfach mal von der Seele reden konnte. Und zwar bei jemandem, der nicht zur Familie gehört.«
Sein letzter Satz erinnert mich an eine Schulung, die ich in der Ausbildung hatte, und in der uns ein erfahrener Therapeut, der vorrangig mit Polizisten und Soldaten arbeitet, erzählt hat, dass es gerade dieser Punkt ist, der viele Betroffene häufig von einer dringend notwendigen Therapie abhalten würde, weil sie nicht wollen, dass ihre Partner, Kinder oder andere Mitglieder der Familie erfahren, dass sie psychische Probleme haben.
Mache ich es genauso? Verdränge ich, was los ist, um Julian und unsere Familie nicht zu beunruhigen?
Ich sehe Hannes nach, als er mich schweigend zurücklässt, und damit genau das Richtige tut, schätze ich, denn über seine Worte muss ich erst mal eine Weile in Ruhe nachdenken. Und so wie ich unseren Doktor Dolittle kenne, weiß er das.
Meine heiße Schokolade ist längst kalt geworden, aber ich trinke sie trotzdem, während ich grüble und mir dabei ein paar Vorfälle der letzten Zeit in Erinnerung rufe, bei denen ich mich selbst kaum wieder erkannt und mich gefragt habe, wieso mir ein lockerer Spruch oder ein alberner Scherz prompt die Laune verhagelt haben. Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr wird mir klar, dass Hannes recht hat.
Mir geht es definitiv nicht gut und das hat mitnichten bloß mit meiner Angst um Julian zu tun, obwohl die sehr wohl echt ist, das war nicht gelogen. Aber sie ist nicht der einzige Grund. Und vor allem ist sie nicht der unbekannte Auslöser, von dem Hannes gesprochen hat.
Wobei, ist der denn wirklich unbekannt?
Oder rede ich mir das nur selbst ein, um der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen?
Im April, noch während meiner Krankschreibung, hat man mir angeboten, mit einem Notfallseelsorger über den Vorfall zu reden. Ich habe damals abgelehnt, weil mir zu der Zeit ständig alles wehtat und ich genug damit zu tun hatte, einigermaßen schmerzfrei über den Tag zu kommen.
Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen.
Vielleicht hätte ich Ja sagen oder mir zumindest für später einen Gesprächstermin geben lassen sollen.
Stattdessen habe ich gar nicht mehr über den Vorfall bei der Demonstration nachgedacht und alles weit von mir geschoben, weil ich so schnell wie möglich wieder in Dienst wollte. Arbeit war für mich seit jeher das beste Mittel, um mit dem stressigen Alltag und dem stetig wachsenden Wahnsinn auf den Straßen fertig zu werden.
Bisher hat das auch immer gut funktioniert.
Diesmal tut es das aber nicht und ich bin ehrlich genug, um mir einzugestehen, dass mir das absolut nicht gefällt.
Ich will keine Therapie machen müssen, um wieder normal zu sein. So etwas betrifft immer nur Kollegen und ich habe nie auf einen von ihnen herabgesehen, wenn sie sich Hilfe suchten, im Gegenteil. Ich fand es richtig, dass sie es taten.
Es ist allerdings etwas völlig anderes, sobald es einen auf einmal selbst betrifft.
Ich will nicht angreifbar sein. Ich will nicht verletzlich auf andere wirken. Nicht robust genug erscheinen, mit allem selbst zurechtzukommen. Ich will nicht noch mehr zum Gegenstand von bescheuerten Sprüchen in unserer Umkleide werden, doch welche Alternativen habe ich sonst?
Wieder zu träumen, wie Julian vor meinen Augen ermordet wird und ich ihm nicht helfen kann?
Da gehe ich lieber freiwillig in Therapie.
Aber nicht gleich heute und morgen. Wir haben erst einen gewissen Geburtstag zu feiern und dann will ich mit Julian für zwei Wochen in den Urlaub fahren. Bis Mitte August muss der Therapeut, der sich wahrscheinlich bald mit mir und meinen Albträumen herumschlagen darf, also noch warten.
Der Samstag kommt schneller, als mir lieb ist, und da Julian das Ganze fast schon generalstabsmäßig geplant hat, entdeckt Matthias sein Geschenk erst, als es bereits fertig aufgebaut auf dem Tisch im Garten steht, den wir heute als Buffet nutzen, an dem sich jeder selbst bedienen kann.
Die Torte ist ein Monstrum und sie sieht echt gut aus.
Über das Motiv könnte man streiten, aber das wird uns fürs Erste schwerfallen, denn ich bin nicht der Einzige von uns, der vor Lachen langsam erstickt, während Matthias die lilafarbene Torte aus geweiteten Augen fassungslos anstarrt. Ich vermute mal, dass die Farbe eine Anspielung auf Lavendel ist, mehr hat sie aber nicht mit der Pflanze gemein, ganz im Gegenteil.
»Ist es wirklich das, was ich glaube, dass es das ist?«, fragt Heiko neben mir und ich nicke, denn Reden ist nicht möglich. »Großer Gott.«
»Wie er das Vieh so detailgetreu hinbekommen hat … Guck dir die Zähne an. Unglaublich.« Viktor ist begeistert, lacht aber auch schon die ganze Zeit vor sich hin, genauso wie Micha, der gerade an die scharfe Spitze eines Eckzahns tippt.
Das würde ich auch zu gerne tun, aber ich glaube, Hannes kann Hilfe brauchen, falls Matthias gleich umfällt. Er sieht mir schwer danach aus, dabei ist die Alien-Torte perfekt gelungen. Perfekter geht es gar nicht. Ich meine, hallo? Es ist ein Alien, das auf einem skelettierten Schädel thront, der wiederum auf einem Raumschiff befestigt ist, das wie die Nostromo aussieht. Matthias' Lieblingsfilm seit Jahren.
»Ich muss träumen.«
Matthias blinzelt, dann runzelt er auf einmal die Stirn und sein Blick wandert langsam über jede einzelne Etage, während ich verzweifelt versuche, das Grinsen aus meinem Gesicht zu kriegen. Ohne Erfolg. Plötzlich schnappt er entrüstet nach Luft, als ihm endlich bewusst wird, was ihm eigentlich von Anfang an hätte klar sein müssen.
»Ich fass es nicht, ihr schenkt mir eine gekaufte Torte?« Sein finsterer Blick findet meinen belustigten. »Sam!«
Hallo? Ich schnaube empört. »Die war nicht meine Idee.«
»Wessen sonst? Julians? Das würde er nie ...« Julian prustet los und Matthias dreht sich zu seinem Neffen. Es dauert keine fünf Sekunden, bis er zwei und zwei zusammenzählt. »Julian!«
»Sieht sie nicht toll aus? Happy Birthday!«
Matthias stemmt mit einem erbosten Knurren die Hände in die Seiten. »Toll? Du kleiner ...«
»Ja, ich weiß, du liebst mich sehr, Onkel Matti«, kommt ihm Julian zuvor und schlingt im nächsten Moment die Arme um Matthias, bevor er ihn unschuldig anblinzelt. »Wer mir Senf in die Muffins backt, hat eine gekaufte Torte im Alien-Stil so was von verdient, und Sam stimmte mir da zu. Wobei ich zugeben muss, dass ich wirklich fiese Mittel anwenden musste, um ihn zur Mithilfe zu bewegen.«
»Sam!«
Ich verschränke schmollend die Arme vor der Brust. Dabei würde ich viel lieber rot anlaufen, denn die fiesen Mittel sind mir noch sehr gut in Erinnerung.
»Gott, ihr seid wirklich unmöglich«, grollt Matthias, grinst dann aber in meine Richtung. »Und über die fiesen Mittel will ich wohl lieber nichts wissen. Ihr benehmt euch manchmal wie kleine Kinder.«
Muss er schon wieder mit meinem Alter anfangen? Ich sehe Matthias verärgert an, doch als der verblüfft die Stirn runzelt, stecke ich plötzlich in einem Schwitzkasten und Viktor drängt mich lachend in den Garten ab.
»Heute wird niemand verhauen. Schon gar nicht das sexy Geburtstagskind«, erklärt mein Bruder lässig und pikst mir in die Rippen, was mich zusammenzucken und zugleich lachen lässt. »Keine Sorge, später klauen wir uns ein großes Stück von dem Schädel und schmieren es ihm in die schütter werdenden Haare, einverstanden?«
»Schütter werdende was?«, schimpft Matthias. »Viktor!«
Ich bin so vollgefressen, dass ich mich kaum noch bewegen kann, darum winke ich nur ab, als Julian am späten Abend mit dem Kommentar, er hätte Lust auf eine letzte Bratwurst und ob er mir irgendwas mitbringen soll, das Zimmer verlässt.
Es war ein toller Nachmittag und ein ebenso toller Abend, denn selbst Heiko ist erst vor einer Stunde gefahren, und wenn ich mich bei seiner Verabschiedung nicht verguckt habe, war Micha drei Autos weiter gerade dabei, Händchen mit Viktor zu halten. Sie sind gemeinsam aufgebrochen, wie fast alle aus der Familie, und wie ich Julian kenne, wird er jetzt unten noch eine Weile mit den Jungs sitzen, denn die wollten partout nicht ins Haus kommen, geschweige denn ins Bett gehen. Sollen sie nur. Sie haben schließlich Ferien. Ich bin allerdings fertig und noch dazu habe ich morgen meine letzte Schicht vor dem Urlaub.
Nach einem Blick auf die Uhr gähne ich hörbar. Es ist kurz vor Mitternacht und wenn ich es schaffe, mich aus dem Bett ins Badezimmer zu rollen, könnte ich heute Nacht duschen, statt es morgen Vormittag zu tun, und somit könnte ich mindestens eine halbe Stunde länger schlafen. Sofern mein Kerl mich lässt, heißt das.
Ein Klopfen an der Tür lenkt mich von der Überlegung ab, wie ich fauler Kerl mich jetzt am besten dazu bringen kann, die Beine aus dem Bett zu schieben und aufzustehen.
Matthias lehnt am Türrahmen und sieht genauso müde aus wie ich.
»Hey, bist du auch schon auf dem Weg ins Bett?«, frage ich amüsiert, doch als er mein Grinsen nicht erwidert, sondern mit ernstem Blick ins Zimmer tritt und die Tür hinter sich schließt, setze ich mich alarmiert im Bett auf. »Ist alles okay?«
»Willst du darüber reden?«
»Worüber?«, frage ich verdutzt, weil ich gar nicht weiß, was er meint, doch es muss etwas Wichtiges sein, denn er lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür und schürzt nachdenklich die Lippen, was mich sofort nervös macht. »Was ist denn los?«
»Das ist ja das Problem, Sam, ich habe keine Ahnung.« Sein Blick wandert langsam durchs Zimmer und bleibt an meinem Wäschekorb hängen. Er schmunzelt kurz. »Du wirst nie lernen, deine dreckige Wäsche in das Ding zu werfen, statt davor auf den Boden, oder?« Ich zucke bloß die Schultern und da seufzt er leise. »Siehst du, genau das meine ich. Hier drin ist alles wie immer, obwohl Julian in letzter Zeit zumindest für ein bisschen mehr Ordnung sorgt, nur du bist nicht wie immer.«
Jetzt runzle ich die Stirn. »Was?«
»Sam ...« Matthias bricht ab und fährt sich in einer sichtlich unruhigen Geste durchs Haar. »Ich weiß nicht mal, ob dir das selbst schon aufgefallen ist, doch du hast dich verändert. Julian sagt zwar nichts, aber ich habe sehr wohl bemerkt, wie er dich seit ein paar Tagen immer wieder besorgt ansieht. Er spürt es auch und macht sich Sorgen um dich. Womit er nicht allein ist, obwohl Hannes jedes Mal behauptet, er wüsste nicht, was ich meine, wenn ich ihn darauf anspreche.«
»Wovon redest du?«
»Von dir. Deinem Verhalten. Irgendetwas ist anders. Weißt du, auch wenn ich manchmal sage, dass du dich wie ein Teenie benimmst, meine ich das nie böse und das ist auch noch nie so bei dir angekommen. Zumindest bis vor Kurzem.«
Jetzt endlich dämmert mir, was er will. »Matthias, ich ...«
»Lass mich ausreden«, unterbricht er mich ernst. »Du hast nie gelogen, uns etwas vorgespielt oder so getan, als wäre dein Job leicht oder ein Kindergeburtstag. Du bist ein guter Polizist und du liebst den Job über alles, selbst wenn wir davon nicht begeistert sind. Warum, das weißt du. Aber wir konnten bisher immer offen über alles reden. Selbst wenn wir nicht derselben Meinung waren, haben wir ehrlich über alles gesprochen und uns manchmal auch wie Waschweiber angekeift.« Er grinst für einen Moment, dann verzieht er das Gesicht. »Weißt du, was du letztens in der Küche zu mir gesagt hast … Ich habe doch nur einen Scherz gemacht, so wie sonst auch, aber du hast es persönlich genommen.«
Oh je. »Matti ...«
»Nein, warte«, bittet er leise und ich schweige. »Du wirkst in letzter Zeit oft dünnhäutig oder du fühlst dich angegriffen, obwohl es dafür keinen Grund gibt. Du schläfst schlecht, und behaupte jetzt nicht, dass das nicht stimmt. Es stehen morgens benutzte Tassen in der Spüle.« Matthias stößt sich von der Tür ab, kommt ans Bett und schaut auf mich hinunter. »Manchmal starrst du vor dich hin und wir müssen dich zwei- oder sogar dreimal ansprechen, bis du auf uns reagierst. Irgendetwas stimmt absolut nicht, Sam. Was macht dir so zu schaffen?«
»Ich … Da ist nichts.«
Von wegen, aber ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, mit Matthias ein ähnliches Gespräch zu führen wie mit Hannes.
»Und jetzt lügst du«, murmelt er und setzt sich zu mir auf die Bettkante. »Heute Nachmittag, als ich den Scherz über dich und Julian gemacht habe, dass ihr euch manchmal wie kleine Kinder benehmt … Sam, ich bin nicht blind. Du warst plötzlich stinksauer auf mich. Darum frage ich dich noch mal … Was ist los mit dir?«
Soll ich es ihm wirklich erzählen? Hannes hat nichts gesagt, sonst würde Matthias mich nicht fragen, und das rechne ich ihm hoch an, aber früher oder später wird er es vermutlich tun und ob ich ihm dann böse sein könnte? Wohl kaum. Immerhin sind wir eine Familie und helfen uns gegenseitig, sobald es nötig ist. Außerdem wird Matthias keine Ruhe geben, jetzt, wo er Lunte gerochen hat. Ich kann genauso gut gleich sagen, was Sache ist, nicht wahr? Eben. Trotzdem dauert es nach dieser Erkenntnis noch eine ganze Weile, bis ich Matthias antworte, der geduldig neben mir sitzt und wartet.
»Ich habe Albträume.«
»Von der Demo?«, fragt Matthias, als ich mir seufzend über die Augen reibe, und sein besorgter Blick lässt mich nicken. Er legt eine Hand an meine Wange. »Weiß Julian Bescheid?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein. Aber Hannes.«
Matthias wiegt bedächtig den Kopf. »Das überrascht mich nicht. Er bemerkt bei den Jungs auch immer als erster, wenn es Ärger gibt … Was ist mit Julian?«
»Ich will nicht, dass er sich Sorgen macht.«
»Oh, Sam«, murrt Matthias und tippt mir tadelnd gegen die Nase. »Du bist ein Blödmann, echt. Du kannst ihm doch nicht verheimlichen, dass du Albträume hast.«
Und ob ich das kann. Ich suche Matthias' Blick. »In meinen Träumen … Manchmal bin nicht ich derjenige, der totgetreten wird, sondern Julian.«
»Shit«, murmelt er betroffen und fährt sich erneut durch die Haare. »Trotzdem. Rede mit ihm. Er sollte davon wissen. Und komm mir jetzt bloß nicht damit, dass er sich dann noch mehr Sorgen macht als ohnehin schon.«
»Wieso nicht?«
»Weil das ein absolut dämliches Argument ist, was du auch sehr gut weißt, Samuel Henning!«, flucht Matthias mit bösem Blick und ich seufze nachgebend.
»Na schön, ich erzähle es ihm. Und was dann?«
»Gibt es bei dir auf der Arbeit jemanden für solche Fälle?«, will Matthias wissen, nachdem er eine Weile über meine Frage nachgedacht hat. »Ihr habt doch bei der Polizei Notseelsorger und Psychologen, oder nicht? Das sagen sie zumindest immer in den Nachrichten, wenn wieder etwas Schlimmes passiert ist, und ich denke, es würde dir guttun, über die Demo und deine Träume mit so jemandem zu reden.«
Ich ziehe eine Grimasse. »Kann ich nicht mit dir reden?«
Matthias tippt sich bedeutungsvoll an die Stirn. »Vergiss es. Ich höre dir immer zu, das weißt du, aber du solltest mit einem Fachmann reden. Jemandem, der wirklich Ahnung davon hat, und die habe ich nicht.« Er streicht mir liebevoll über den Arm. »Sam, du wurdest auf dieser Demo fast umgebracht. So etwas steckt kein Mensch einfach weg und geht zur Tagesordnung über.« Mein darauffolgendes Schweigen dauert ihm offenbar zu lange. »Muss ich dich wirklich an Julian verraten?«
»Jetzt wirst du gemein«, schmolle ich und als Matthias mir daraufhin eine Kopfnuss gibt, muss ich lachen. Aber sein Blick bleibt ernst und schlussendlich gebe ich erneut nach. »Ja, okay, ich mach´s. Aber erst nach dem Urlaub.«
»Gut. Dann hast du zwei Wochen Zeit, es Julian zu sagen.«
»Matthias!«