16
»Sam, du machst mich langsam echt fertig«, nörgelt Viktor am Montagnachmittag hinter mir, während ich unentschlossen auf meiner Unterlippe herumkaue und dabei versuche aus den zwei Ringen, die es schlussendlich in die engere Wahl geschafft haben, einen auszuwählen.
Ich weiß, dass er genervt ist, ich nerve mich ja selbst, aber wenn ich bei dieser Entscheidung einen Fehler mache, wird er mich für den Rest meines Lebens begleiten, denn ich habe vor, mit Julian verheiratet zu bleiben, bis wir in die Kiste fahren. Es muss also der perfekte Ring sein und irgendwie ist keiner von den beiden, die vor mir liegen, perfekt. Nur leider waren es die anderen, gefühlt tausend Ringe, die ich mir in den letzten vier Stunden angesehen habe, auch nicht und langsam gehen dem Juwelier die Ringe aus.
Wahrscheinlich bin ich der schlimmste Kunde, den er je in seinem Laden hatte. Ich seufze resigniert und sehe zu ihm auf. Der Mann hat eine unglaubliche Geduld mit mir gezeigt, aber ich fürchte, ich bin ein hoffnungsloser Fall. »Tut mir leid.«
Er lacht heiter und seine braunen Augen blicken mich mehr als belustigt an, ehe er die Ringe wegräumt und sich dann mit den Händen auf der breiten Glasvitrine vor ihm abstützt, die uns voneinander trennt.
»Sie wissen nicht, was Sie wollen, und das behindert Sie. Es soll der perfekte Ring sein, was ich verstehen kann, nur diesen Ring gibt es nicht. Nichts und niemand ist perfekt, und soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten?« Er wartet, bis ich nicke. »Es ist total langweilig, perfekt sein zu wollen. Ecken und Kanten sind besser, denn sie machen Menschen doch erst interessant. Und jetzt … Erzählen Sie mir etwas über Julian. Sagen Sie mir, wie ist der Mann, den Sie über alles lieben?«
»Vorlaut. Frech. Jung. Wunderschön. Ein Genie. Er hat zwei Klassen übersprungen und das Abitur als Bester seiner ganzen Schule hingelegt. Nächstes Jahr geht er auf die Uni und will in ein paar Jahren Bill Gates überflügeln.«
Der Juwelier gluckst. »Ein Computergenie also?«
Ich nicke wieder. »Wenn er loslegt, davon zu erzählen, was er alles erreichen will, verstehe ich oft nur Bahnhof und nicke dann so lange, bis er lacht und mich küsst. Ihm ist egal, dass ich bei Weitem nicht so klug bin wie er. Er liebt mich einfach.«
»Genau wie Sie ihn lieben, Herr Henning, und darum geht es doch, oder nicht? Um die Liebe. Einfach so.« Er nimmt einen Silberring mit einem schwarzen Mittelstreifen aus der Vitrine hinter ihm, der zwar grundsätzlich nicht hässlich, mir aber viel zu klobig ist. »Würden Sie Julian so einen Ring an den Finger stecken?«
Im Leben nicht.
Mein Gesichtsausdruck sagt dem Juwelier wohl alles, denn der Ring verschwindet mit einem amüsierten »Eben.« wieder in der Vitrine. Danach werde ich erneut angesehen.
»Sie wissen sehr gut, was Julian gefällt, Herr Henning, also stellen Sie sich einen Ring an seinem Finger vor. Stellen Sie sich vor, wie er ihn morgens nach dem Aufwachen anschaut und lächelt. Wie er anschließend Sie ansieht. Und jetzt sagen Sie frei aus dem Bauch heraus, ohne vorher darüber nachzudenken … Aus welchem Material soll Julians Ring sein?«
»Silber«, antworte ich unwillkürlich und weiß absolut nicht wieso, denn eigentlich war ich auf Platin oder Titan aus. Doch der Juwelier gibt mir keine Chance ins Grübeln zu geraten.
»Wie soll er aussehen? Schick oder schlicht?«
»Schlicht.«
Weil Julian wunderschön ist und keinen Ring braucht, um noch besser auszusehen. Außerdem ist ihm so was völlig egal. Er trägt keine Markenjeans oder teure Turnschuhe, wie andere in seinem Alter. Sein Taschengeld geht vorrangig für PC-Kram drauf. Oder für diese enge Shorts, die er mir zu Weihnachten geschenkt hat und auf der ein angebissener Apfel gedruckt ist, neben dem albernen Spruch 'Bite me' – unsere verrückte Sippe hat tagelang darüber gelacht.
Der Juwelier nickt mit einem zufriedenen Blick, dreht sich um und geht in den hinteren Bereich des Ladens, der nur den Angestellten vorbehalten ist. Als er zurückkommt, hat er einen Ring dabei, der auf einem schwarzen Tuch aus Samt liegt. Er breitet das Tuch auf dem Schaukasten aus und ich starre den Silberring sprachlos an, der ein kompletter Gegensatz zu dem klobigen zuvor ist.
Der Ring ist schlicht. Er hat keine Steine in der Mitte, keine Muster und oder sonst irgendetwas. Er ist einfach silbern, mit einer Oberfläche, die wie rissiges Eis im Winter aussieht. So als hätte man ihn rundherum mit einer Drahtbürste bearbeitet. Ich finde ihn absolut perfekt.
»Viktor?«
Mein Bruder tritt neben mich und pfeift nach einem Blick auf den Ring anerkennend durch die Zähne. »Der passt wie die Faust aufs Auge. Schlicht und elegant, aber durch die Struktur trotzdem mit Ecken und Kanten. So wie dein Zukünftiger.« Er sieht zu dem Juwelier. »Woher kommt das Muster?«
»Das nennt sich Eismatt. Wir behandeln die Oberfläche, bis sich eine Art Kristallstruktur ergibt. So fallen Gebrauchsspuren kaum auf. Ein Trend, der sehr im Kommen ist. Gerade bei der jüngeren Generation, die ihre Ringe überallhin mitnimmt. Was sagen Sie, Herr Henning?«
Na was wohl? »Gekauft.«
Viktor und der Juwelier lachen und ich grinse verlegen, als mein Bruder einen Arm um meine Schultern legt, mich tadelnd als »Deppen.« bezeichnet und danach seine Bankkarte zückt.
Und ich kann reden, wie ich will, Viktor lässt sich einfach nicht davon abbringen, beide Ringe zu bezahlen, denn ich will für mich natürlich auch einen. Sie sind sein Hochzeitsgeschenk für Julian und mich, ist sein abschließender Kommentar dazu, bevor er ohne mit der Wimper zu zucken einen vierstelligen Betrag hinlegt und ein mehr als großzügiges Trinkgeld für den Juwelier obendrauf.
Danach schleppt er mich zum Italiener, weil uns beiden der Magen knurrt, und nach einem Glas Cola und einer Vorspeise in Form von dicken Pizzabrötchen ist der erste Hunger gestillt und ich lehne mich zufrieden seufzend zurück.
»Was schenkst du Julian eigentlich zum Geburtstag?«, fragt Viktor und leckt sich die Finger ab. »Meine tollen Dildos musst du erst mal toppen, Brüderchen.«
»Viktor!«
Er nimmt sich feixend noch ein Pizzabrötchen und ich sehe ihn finster an, um danach kopfschüttelnd zu seufzen, denn die Suche nach einem Geschenk für Julian hat mich monatelang Unmengen an Nerven gekostet. Er hat im Grunde alles, was er braucht, und von Computern habe ich zu wenig Ahnung. Bloß einen Gutschein wollte ich aber auch nicht kaufen, schließlich wird er nur einmal erwachsen. Also habe ich mir eine gefühlte Ewigkeit den Kopf zerbrochen, bis mir am Ende der Zufall zu Hilfe kam, als er sich mit Mark darüber unterhalten hat, dass er für die Uni später einen größeren Rucksack für die ganzen Bücher braucht. Einen Rucksack bekommt er zwar nicht, aber ich denke, ich habe das Richtige ausgesucht.
»Das war ein Krampf. Was schenkt man bitte dem nächsten IT-Genie und Welteroberer?« Viktor prustet los. »Ja, ja, lach du nur, aber Julian traue ich es sogar zu, Bill Gates vom Thron zu schubsen.« Ich winke ab. »Jedenfalls habe ich ewig überlegt, da mir absolut nichts einfallen wollte, und er wird ja nur einmal achtzehn. Aber dann kam mir der Zufall zu Hilfe.«
»Lass hören«, bittet Viktor und wir warten einen Moment geduldig ab, weil gerade unsere Pizzen kommen. »Danke.« Die Bedienung nickt lächelnd und lässt uns wieder allein.
»Er will vorerst keinen Führerschein machen, deshalb habe ich mich für ein Fahrrad entschieden.«
»Wieso will er keinen Führerschein machen?«, fragt Viktor verblüfft und ich grinse, denn so ging es mir zuerst auch. Aber Julians Erklärung dazu war logisch, denn in der Stadt braucht er kein eigenes Auto, weil er ohnehin lieber mit Bus, Bahn oder zu Fuß unterwegs ist.
Bisher hat das auch problemlos funktioniert, aber nächstes Jahr, mit dem ganzen Kram für die Uni, seinem Laptop, den er bestimmt auch jeden Tag mitnehmen wird – ein vernünftiges Cityrad, das ihm hoffentlich nicht so schnell geklaut wird, fand ich als Geschenk einfach perfekt. So ist er jederzeit mobil und immer noch schneller unterwegs als viele Autofahrer, wenn die Staus sich wieder kilometerlang durch die Stadt ziehen.
Viktor nickt, nachdem ich ihm das erzählt habe. »Okay, da hat er recht und ich jetzt ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht mal zum Einkaufen zu Fuß gehe, dabei liegt der Netto bei mir nur ein paar Straßen weiter.«
»Wir sind echt faule Säcke«, erkläre ich, weil ich auch nicht gerade ein begeisterter Fußgänger bin.
»Wie wahr«, stimmt mein Bruder mir zu, schnappt sich ein Stück Pizza und grinst mich an. »Und weil ich älter bin als du, werde ich mit gutem Beispiel vorangehen und dir nachher die Autoschlüssel klauen, während du unsere Rechnung bezahlst, weil ich aus Gründen, die wir lieber nicht nennen wollen, jetzt erst mal pleite bin.«
»Viktor«, grolle ich, doch er gibt sich betont unschuldig.
»Was denn? Du hättest ruhig diese furchtbaren Platinringe nehmen können, die waren dreihundert Euro billiger.«
Ich hör wohl nicht recht. »Hey!«
Viktor kichert frech. »Ja, ja, nur das Allerbeste für meinen tollen Schwager, es sei dir verziehen. Wo war ich gerade? Ach ja, du bezahlst, ich klaue deine Autoschlüssel und dann kannst du zu Fuß oder mit Bus & Bahn nach Hause gondeln, hast was für die Umwelt und deine Gesundheit getan und dir damit die nächste Sexrunde mit deinem Schmusi redlich verdient.«
»Viktor!«
»Du brauchst ein gutes Schloss dafür.«
»Haben wir nicht noch irgendwo eins rumliegen?«, grübelt Matthias, während er mit den anderen Kerlen Julians Fahrrad bewundert.
»Wir haben nicht mal Fahrräder, woher willst du bitteschön ein Fahrradschloss haben?«, fragt Jürgen, während ich Julians Hand nehme und ihm mit einem stummen Nicken zum Garten hin zu verstehen gebe, dass ich ihn einen Augenblick ganz für mich haben will. Julian grinst und folgt mir schweigend.
»Das sage ich dir, sobald ich es finde und dir um die Ohren haue«, grollt es hinter mir und ich verdrehe die Augen.
»Matthias!«, schimpfen Dirk, Hannes und Jürgen entrüstet, während die Jungs lachen und Monika und Melanie amüsiert an der Terrassentür stehen und uns beobachten.
Wir machen es uns auf der Bank gemütlich und ich schaue erneut zur Terrasse. Die einzigen beiden Frauen unserer Sippe unterhalten sich merklich angeregt und ich muss ehrlich sagen, ich finde Jürgens Freundin richtig sympathisch. Wir waren alle überrascht, dass er sie mitgebracht hat, weil außer Julian keiner darüber Bescheid wusste, aber mein Zukünftiger hat nur breit gegrinst, sie umarmt und schon war das Eis gebrochen. Wenn er Melanie an Jürgens Seite akzeptieren kann, können wir das gefälligst auch, und, wie bereits gesagt, sie ist eine nette Frau, die genauso unübersehbar in Jürgen verknallt ist, wie er in sie, denn die beiden tauschen Blicke aus, da können wir von Glück reden, dass das Haus noch nicht in Flammen steht.
Julian lacht, als ich ihm das sage. »Du bist unmöglich.«
»Und du liebst mich trotzdem.«
»Oh ja«, murmelt Julian und grinst mich an. »Ich muss dir etwas gestehen.«
Oh mein Gott. »Das Fahrrad ist ein blödes Geschenk«
Wieder lacht er. »Nein, du Idiot. Es ist klasse. Ich muss aber zugeben, ich hatte damit gerechnet, dass du mir irgendetwas Dämliches schenkst.«
Jetzt bin ich derjenige, der lacht. »Nächstes Jahr bekommst du garantiert wieder alberne Quatschgeschenke, aber du wirst heute achtzehn Jahre alt und man wird nur einmal erwachsen. Ich wollte dir etwas schenken, das du wirklich brauchst.«
»Du meinst wie den Vibrator von Viktor?«
Ich stöhne auf. Das werde ich meinem Bruder heimzahlen, sobald ich ihn in die Finger kriege, denn er hat sein Geschenk lieber per Post geschickt, der Feigling. Weil er angeblich heute Abend arbeiten muss. Pah. Faule Ausrede. Das stört ihn sonst auch nicht, wenn er bei uns einfallen will.
»Ich bin mir nur nicht sicher, was ich von der Farbe halten soll«, meint Julian und kämpft dabei gegen ein neues Lachen an, was ich gut verstehen kann, denn dieser verfluchte Vibrator ist pink. Mit einem schönen Rosa hätte ich leben können, aber nein, das Ding ist grellpink.
Natürlich haben alle gelacht, als Julian ihn ausgepackt hat. Etwas anderes hätte mich bei unserer Familie auch gewundert, obwohl sich die meisten dieses Jahr mit dämlichen Geschenken zurückgehalten haben. Von Jürgen hat er den neuen Rucksack bekommen, über den er sich mit Mark unterhalten hat, unsere Jungs haben zusammengelegt und ihm einen Gutschein geholt, mit dem er im nächsten MediaMarkt oder in deren Onlineshop die Computerecke stürmen kann, und Dirk und Monika haben es klassisch gehalten und ihm neue Kleidung geschenkt. Etwas Schickere, als er normalerweise trägt, aber wer weiß schon, was er für die Uni später nicht alles braucht, wenn er Praktika oder sonst was macht.
Mein Fahrrad war in diesem Jahr das größte Geschenk und ich denke, Matthias und Hannes, die uns ja schon unser neuer Zimmer geschenkt haben und deswegen nichts für ihn hatten, werden für ein gutes Schloss sorgen, das habe ich nämlich total vergessen. Melanie hat ihm übrigens einen Organizer mit Stift, Notizblock, Taschenrechner und tausend Fächern geschenkt – garantiert auch sehr praktisch für die Uni.
»Wuff.«
Wir lachen, als Alf und Ripley vor uns auftauchen und sich energisch auf die Hinterpfoten stellen, weil sie hochgenommen werden wollen. Die beiden lieben sich mittlerweile abgöttisch, das geht so weit, dass sie sich ihre Schlafplätze und sogar das Futter teilen. Sehr zur Belustigung von Matthias und Hannes, die den Zwerg längst genauso ins Herz geschlossen haben wie Julian und ich. Daher fackle ich nicht lange und hebe Alf hoch, der begeistert bellt und versucht mein Gesicht abzulecken.
»Oh nein, das darf nur ich«, erklärt Julian grinsend, ehe er sich Ripley greift und ihn auf seinen Schoß setzt. Danach beugt er sich zu mir. »Kuss.«
»Hast du dir den denn verdient?«, will ich wissen, was mir wie erhofft einen sehr empörten Blick einbringt.
»Hey, ich bin das Geburtstagskind.«
»Soll mich das Argument etwa überzeugen?«
Julian lacht. »Darüber sprechen wir heute Nacht noch mal, wenn ich deinen Arsch mit meiner Zunge ...«
Hallo? Unsere neugierige Familie steht nur ein paar Meter weiter und Matthias grinst schon wieder so wissend. Ich halte Julian hektisch den Mund zu, um sicherzugehen, dass er nicht noch mehr Details unseres zukünftigen Sexlebens ausplaudert. Ich muss schließlich noch stundenlang warten, bis er seine Idee mit der Zunge in meinem Hintern umsetzen kann, und es kann nicht gut sein, die kommenden Stunden mit einem gewaltigen Ständer herumzulaufen. Wobei, Julian würde das bestimmt toll finden.
»Pscht, hier hört ein unschuldiges Baby mit.«
Mein frecher Kerl drückt einen Kuss auf meine Handfläche, bevor er meine Hand von seinem Mund wegzieht und mir im nächsten Augenblick einen betont unschuldigen Blick zuwirft. »Ups, es tut mir ja so leid. Dabei dachte ich eben noch, dass du in zwei Jahren schon Dreißig wirst. Mein Fehler.«
»Julian!«
Er prustet los und während ich resigniert seufze, fängt sein Handy an zu klingeln. Immer noch lachend zieht er es aus der Hosentasche. »Ja?« Ein überraschter Blick trifft mich und dann lächelt er. »Danke … Ja, er sitzt direkt neben mir. Wir bespaßen die Hunde. Oh ja, Mehrzahl. Ich schicke dir später ein Foto von Alf … An dem Namen ist Sam schuld.« Julian gluckst, als ich stöhne und ihn danach fragend ansehe, weil ich neugierig bin. Mit wem redet er da? Mandy? »Ganz gemütlich. Es sind schon alle hier, wir werden gleich Kaffee trinken und werfen nachher den Grill an … Wie geht’s dir, Heiko?« Moment, hat er gerade gesagt …? »Wow, das ist großartig. Glückwunsch! … Na klar, ich gebe ihn dir. Bis dann.«
»Was ist großartig?«, falle ich mit der sprichwörtlichen Tür ins Haus und kann gleichzeitig kaum glauben, dass er Julian von sich aus angerufen hat. Ich finde es super, gar keine Frage, ich habe nur überhaupt nicht damit gerechnet.
Heiko lacht leise. »Hey, kleiner Bruder.«
»Selber hey … Hast du heute früher Feierabend?«, frage ich nach einem Blick auf die Uhr, denn Donnerstag ist er eigentlich immer lange arbeiten, weil die meisten Banken und Sparkassen Donnerstags länger geöffnet haben.
»Ja. Man hat mir eine Beförderung angeboten.«
Das ist sogar mehr als super. »Ich hoffe, du hast zugesagt«, hake ich nach, denn bei meinem Bruder ist das nicht unbedingt gesagt. Doch sein folgendes »Ja.« lässt mich zufrieden grinsen, ehe ich Julian eine Kusshand zuwerfe, weil er mir Alf abnimmt und mit den zwei Rackern loszieht, damit ich in aller Ruhe mit Heiko telefonieren kann. »Und sonst? Alles gut?«
Wieder bejaht Heiko und erzählt mir dann ein bisschen von seinen Treffen mit den Anonymen Alkoholikern, zu denen ihn immer noch sein Kollege begleitet. Offensichtlich bahnt sich da wirklich eine dauerhafte Freundschaft an und ich wünsche mir für Heiko, dass sie hält. Er braucht Freunde.
Und ich brauche bald einen Trauzeugen, fällt mir plötzlich ein und ich räuspere mich leise. »Halt dir an Weihnachten bitte einen Tag frei.«
»Wie seltsam, dass du das sagst. Mich hat neulich schon ein gewisser Bäckermeister angerufen und mich äußerst höflich darauf hingewiesen, dass es an Weihnachten wieder ein großes Familienessen bei euch gibt, zu dem ich zu erscheinen habe.«
Ich muss unwillkürlich lachen. Matthias ist echt unmöglich. »Matthias mag dich nun mal. Aber nein, ich meine nicht unser jährliches Weihnachtsessen, sondern ein bis zwei Tage vorher, genau wissen wir es noch nicht. Ich werde dir Bescheid geben, sobald wir ...«
»Moment«, unterbricht Heiko mich erstaunt. »Ihr habt euch auf einen Termin geeinigt, oder?«
So kann man das wohl auch nennen. Ich grinse glücklich und muss mir ein Lachen verkneifen, weil Julian just in dem Moment von Dennis einen der dicken Schokoladenmuffins, die Matthias gebacken hat, auf den Kopf gestellt bekommt. Jürgen nimmt ihn lachend herunter und winkt mich in ihre Richtung, als sich unsere Blicke treffen. Tja, das heißt dann wohl, dass die Kaffeetafel gleich eröffnet wird und ich mich jetzt besser beeile, sonst kriege ich von den Apfeltörtchen kein einziges ab.
»Ja. Und ich brauche einen Trauzeugen.«
»Sam ...«
Oh nein, keine Ausflüchte. Er hat genug Zeit, sich mit dem Gedanken anzufreunden. »Du hast vier Monate, dich daran zu gewöhnen. Wenn du nicht freiwillig herkommst, zerre ich dich mit Viktors Hilfe an den Haaren aus dem Haus.«
Das ist eine leere Drohung und das weiß Heiko, aber mir ist wichtig, dass er ebenfalls weiß, wie gerne ich ihn als Trauzeuge dabei haben will. Sicher, ich könnte Viktor und Matthias fragen und das werde ich auch, nur zur Sicherheit, falls Heiko es nicht schafft, aber ich bin mir sicher, dass er das hinbekommt, und er wird sonst vermutlich Weihnachten allein verbringen. Und das kommt für Matthias ohnehin nicht infrage.
»Sam! Beeil dich, sonst sind die Apfeltörtchen alle«, ruft im nächsten Moment Hannes herüber und Heiko lacht leise.
»Wir hören jetzt lieber auf, sonst musst du hungern. Bevor du fragst, ja, ich werde da sein, wenn du Julian heiratest.«
»Ich nagle dich darauf fest.«
»Hoffentlich ist das nicht wörtlich gemeint«, kontert er und ich pruste los. »Das ist nicht komisch. Matthias hat mir schon ganz andere Sachen angedroht.«
»Matthias liebt dich«, werfe ich amüsiert ein, denn das tut er wirklich. Manchmal glaube ich, Matthias gehört mit zu den seltenen Menschen auf der Welt, die fast jeden mögen. Selbst maulfaule Eigenbrötler wie meinen Bruder.
»Er ist ein sehr netter Mann.«
»Das auch«, stimme ich Heiko zu und grinse, weil besagter Mann mir gerade mit der Faust droht. »Der mir übrigens eben Prügel androht. Ich weiß wirklich nicht, warum dieser Kerl seit Jahren mein bester Freund ist.«
»Jeder kriegt, was er verdient«, wird mir frech erklärt und ich schnappe entrüstet nach Luft.
»Heiko!«
Mein Bruder legt lachend auf und selbst ich muss darüber grinsen, weil ich es einfach liebe, wenn er ein bisschen aus sich herausgeht. Es kommt nicht oft vor, aber definitiv häufiger als früher, und das reicht mir schon. Wenn er jetzt noch pünktlich zu meiner Hochzeit erscheint, wird das Jahr für mich genauso perfekt enden, wie es begonnen hat.
»Sam?«, ruft Monika auf einmal übertrieben amüsiert. »Es sind nur noch drei Apfeltörtchen übrig.«
Boah. Diese verfressene Bande. Ich stecke das Handy in die Tasche, springe auf und eile zu ihnen hinüber auf die Terrasse, wo mittlerweile der Tisch mit unzähligen Leckereien, Besteck, Tellern, Tassen, Gläsern und Getränken gedeckt ist, sodass sich jeder nach belieben selbst bedienen kann.
»Die Apfeltörtchen gehören mir und wehe dem, der sich an ihnen vergreift.«
»Uh, das klingt nach einer Drohung«, stichelt Monika und grinst mich belustigt an, bevor sie zu Julian schaut. »Den musst du dir eindeutig noch vernünftig erziehen, bevor du ihn eines Tages heiraten kannst.«
»Keine Sorge, ich fange gleich heute Nacht damit an.«
»Julian!«
Die einzige Antwort auf meinen empörten Ruf ist rundum schallendes Gelächter.
Typisch.
»Sam?«
»Hm?«, frage ich ein paar Stunden später, meine Lippen an Julians Hals, während von der Terrasse amüsiertes Gekicher zu hören ist, das mir im Moment allerdings vollkommen egal ist, denn ich tanze mit meinem Kerl unter blitzenden Lichterketten und bunten Lampions, während der zunehmende Mond hoch oben am Himmel auf uns hinunter scheint.
»Es ist drei Minuten nach Mitternacht.« Sein bisher sanfter Griff in meinem Nacken wird abrupt merklich fester. »Und das bedeutet, ich bin jetzt seit einem Tag erwachsen.«
Das weiß ich, immerhin sind wir schon den ganzen Tag auf seiner Geburtstagsparty und … Oh. Ich erstarre, als sich eine Hand zwischen uns schmuggelt. Hallo? Wir sind draußen im Garten, der immer noch voller Leute ist, weil offenbar niemand vorhat, demnächst nach Hause zu gehen, obwohl noch nicht mal Wochenende und heute außerdem Freitag, der dreizehnte, ist. Wieder ist ein leises Lachen von der Terrasse zu hören, ich wette, wir werden beobachtet.
»Julian ...«
»Sie werden es überleben, keine Sorge. Du allerdings nicht, wenn du mich nicht sofort in mein altes Bett bringst.«
Altes Bett? Wie soll ich das denn verstehen? »Äh ...«
»Papa schläft bis Sonntag bei Melanie. Wir haben also die Wohnung in den nächsten drei Tagen ganz für uns allein.«
Drei Tage?
Oh. Mein. Gott.
Die Erkenntnis sickert nicht langsam in meinen Verstand, nein, sie haut ihn um, wie ein Schlag mit der sprichwörtlichen Keule. Julian meint sein ehemaliges Kinderzimmer und er hat augenscheinlich nicht vor, es bis Sonntag wieder zu verlassen. Mal abgesehen von kurzen Abstechern in die Küche oder das Badezimmer.
Ich keuche laut auf und das nicht nur, weil er plötzlich fest zupackt. »Du hast das geplant, oder?«
Julian lacht leise. »Ich warte jetzt seit fünf Monaten darauf, mit dir schmutzigen Sex haben zu können, weil du unbedingt ein anständiger Mann sein wolltest. Was glaubst du eigentlich, wie viele Pornos ich mir in den letzten Wochen reingezogen habe? Von diversen Anrufen bei Viktor gar nicht zu reden. Ich habe da nämlich ein paar Ideen, die ich in den nächsten Tagen mit und an dir ausprobieren werde, und deshalb … Bring mich ins Bett, Sam. Jetzt!«
»Aber ...« Weiter komme ich nicht.
»Auch wenn unser neues Zimmer hier wirklich toll ist, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass mein erstes Mal in diesem Haus stattfinden wird, während unsere neugierige Sippe sich die Ohren an der Tür platt drückt, oder?« Das Bild hätte er mir nicht in den Kopf setzen dürfen, denn daraufhin muss ich laut lachen und Julian gluckst heiter. »Ich sehe, wir verstehen uns. Gehen wir.«