18
»Kommst du noch mit auf ein Bier?«
Michas Frage erwischt mich vollkommen unerwartet und das drückt wohl auch meine Mimik aus, denn er hält auf dem Weg zur Tür verwundert inne und kommt zu mir zurück.
Wir haben zuvor trainiert, wie wir es nach der Arbeit öfters machen, um für den Dienst auf der Straße in Form zu bleiben, eben zusammen geduscht und jetzt eigentlich Feierabend, den wir normalerweise gerne mit einem Bier einleiten. Das hat sich auch seit meiner Beziehung zu Julian nicht geändert, denn mir würde der Ausgleich zum Job fehlen.
Ich bin kein begeisterter Sportler, aber ich tue, was nötig ist, und ein Boxsack ist ab und an ganz hilfreich, um den Frust des Tages loszuwerden, wenn wir irgendwelche Idioten verhaften, um sie nur ein paar Stunden später freilassen zu müssen, weil unsere Staatsanwälte und Richter leider zu überlastet sind, um sich um einen besoffenen Pöbler oder einen kleinen Einbrecher zu kümmern. Da tut es gut sich abzureagieren, bevor man zu seinem Kerl nach Hause geht. Julian bekommt eh schon viel zu viel mit, weil er so sensibel ist, sobald es um mich geht.
»Alles okay bei dir?«
»Ja, schon«, antworte ich zögerlich, weil ich nicht weiß, ob ich ihm davon erzählen will oder nicht.
»Aber?«, hakt Micha ruhig nach, weil er natürlich bemerkt hat, dass irgendetwas nicht stimmt. »Dein Gesicht hat gerade dicke Bände gesprochen. Ist was mit Julian?«
»Nein, keine Sorge.«
Micha setzt sich neben mich auf die abgewetzte Holzbank, die zwischen den Spinden in der Umkleide steht. »Raus damit. Da ist schon seit Monaten was, das dir immer wieder im Kopf herumgeht. Selbst Manuel ist das mittlerweile aufgefallen und wir beide wissen nur zu gut, dass dein Partner zwar ein toller Polizist ist, aber normalerweise der Letzte von uns, der private Dinge mitbekommt.«
»Er hält Berufliches und Privates eben lieber getrennt«, ist alles, was mir dazu einfällt, und Micha nickt.
»Was nichts Schlechtes ist, immerhin hat er uns trotzdem seine tolle Frau vorgestellt und lädt uns regelmäßig zu seinem Geburtstag ein. Aber das meine ich gerade gar nicht, das weißt du auch sehr gut.« Micha sieht mich forschend an. »Was ist los, Sam? Du würdest nicht so herumdrucksen, wenn du nur keine Lust auf ein Bier hättest.«
Wie wahr. Und gerade heute hätte ich mir nur zu gerne ein Bier gegönnt, na ja, eher zwei oder drei. Nur habe ich in knapp einer Stunde einen kurzfristig anberaumten Termin bei einem erfahrenen Psychologen, der schon seit vielen Jahren Polizisten bei der Traumabewältigung hilft, und bin jetzt schon spät dran. Die Kollegen in der psychologischen Erstbetreuung haben ihn mir vermittelt, denn ich bin gleich am Montag nach meinem Urlaub zu ihnen gegangen, da ich es Julian versprochen hatte, und nachdem ich dort ehrlich erzählt habe, wie stark mich der Überfall während der Demonstration in letzter Zeit beschäftigt, wurde umgehend zum Telefon gegriffen, damit ich so schnell wie möglich mit einem Fachmann reden kann.
Tja, und in dem Fall ging es wirklich schnell, denn heute ist Mittwoch und ich habe Julian aus Schiss, dass er mitkommen will, um zu verhindern, dass ich im letzten Augenblick kneife, immer noch kein Wort gesagt.
Micha ebenfalls nichts zu sagen, ist allerdings keine Option mehr, dafür runzelt er jetzt zu sehr die Stirn. »Sam?«
»Ich habe noch einen Termin.« Sein fragendes »Wo?« lässt mich verlegen grinsen, obwohl ich mich lieber in Luft auflösen würde. »Beim Psychologen.«
Das sitzt. Micha starrt mich verblüfft an, aber dann beginnt er zu überlegen und kommt sehr schnell zu demselben Schluss, wie vor ihm Hannes, Matthias und Julian. »Die Demo, oder?« Meine Antwort besteht aus einem leichten Nicken. »Das hat er also neulich damit gemeint, dass dein Geduldsfaden in letzter Zeit auffällig kurz ist.«
»Wer?«, frage ich verdutzt.
»Viktor.« Ich stöhne auf und Micha gluckst. »Was? Hast du etwa gedacht, das fällt ihm nicht auf?« Ja, irgendwie schon. Ich muss nichts sagen, Micha sieht mir den Gedankengang an und verdreht schnaubend die Augen. »Wenn du das geglaubt hast, kennst du deinen Bruder aber schlecht, Blödmann.« Er stupst mich mit der Schulter tadelnd an, dann fängt er an zu grinsen. »Okay, zieh dir 'nen frischen Schlüpper an, ich fahr dich.«
»Micha ...«, grolle ich finster, doch davon lässt er sich nicht aufhalten. Im Gegenteil, er kichert heiter und ich spare mir den Einwand, dass ich sehr wohl alt genug bin, um alleine zu dem Psychoheini zu fahren, denn wie ich Micha kenne, fährt er mir dann kurzerhand hinterher. »Ich sollte einfach nackt gehen.«
»Worüber Julian garantiert gewaltig begeistert wäre«, wirft Micha trocken ein und ich verdrehe die Augen. »Los jetzt. Und vergiss die sexy Unterbuxe nicht. Man sitzt nicht schlüpperlos auf der Couch eines studierten Gehirnklempners, wie sieht das denn bitteschön aus?«
»Micha!«
»Ja, was? Stimmt doch.« Er grinst mich schelmisch an. »Bei deinem Glück lässt dieser Typ dich dafür gleich einweisen und ich erkläre Julian garantiert nicht, dass er dich in einer Klapse heiraten muss, nur weil du unbedingt einen Psychoheini mit deinen prallen Klöten beeindrucken wolltest.«
Als ich knurrend nach ihm greife, springt er auf und außer Reichweite, um sich stattdessen feixend mit dem Rücken gegen einen Spind zu lehnen. Ich drohe ihm mit der Faust und lasse dann einfach das Handtuch fallen, um mich anzuziehen. Dass er nicht sofort beschämt wegguckt wie früher, ist mir Montag schon aufgefallen, aber ich werde ihn nicht darauf ansprechen. Er soll sich ruhig an nackte Männerkörper gewöhnen, denn ich wette mein Weihnachtsgeld darauf, dass er schon sehr bald mit einem äußerst ansehnlichen im Bett liegen wird.
Fürs Erste beschließt er dann aber ein guter Freund zu sein und sicherzugehen, dass ich bei diesem Psychologen auch gut aufgehoben bin. Und er sorgt mit seinem resoluten Auftreten außerdem dafür, dass ich nicht im letzten Moment doch noch kneife. Ob er das geahnt hat, weiß ich nicht, aber er lässt nicht locker, während ich ihn durch die Stadt lotse, bis wir in einem schlicht eingerichteten Wartezimmer sitzen, in das uns ein sehr junger Mann geführt hat, der kaum älter sein kann als Julian und offenbar trotzdem den Empfang alleine schmeißt. Und das lässt mich mit jeder Minute, die wir hier warten, immer mehr zögern. Ich meine, wenn der Psychologe genauso jung ist wie sein Empfangskerl, wo will der dann bitteschön die Erfahrung her haben, die er für so einen Job braucht?
»Das ist keine gute Idee«, rutscht mir schließlich raus, mein Blick ist dabei auf den Jungen am Empfang gerichtet, der eifrig am Computer arbeitet.
»Lass dich nicht täuschen.«
»Was?«, frage ich irritiert und sehe zu Micha, der mit dem Kopf Richtung Empfangskerl nickt. Ich schaue dorthin zurück. Noch immer ist ein stetiges Tippen auf der Tastatur deutlich zu hören. »Was meinst du?«
»Hast du seine Arme gesehen?«, will Micha wissen und als ich das verneine, steht er auf und räuspert sich so vernehmlich, dass der Junge zu uns sieht. »Haben Sie kurz Zeit für uns?«
»Sicher.« Gleich darauf steht der niedliche Blondschopf mit einem offenen Lächeln vor uns. »Was ist los?«
»Er hier«, beginnt Micha und deutet auf mich, »steht kurz davor, mit fliehenden Fahnen aus der Tür zu flüchten. Falls ich mich jetzt zu weit aus dem Fenster lehne, hauen Sie mir ruhig eine rein, aber vielleicht können Sie ihn etwas beruhigen und ihm sagen, dass Ihr Boss ihn nicht fressen wird, sondern dafür da ist, ihm zu helfen … So wie er Ihnen geholfen hat?«
Es dauert etwas, aber dann nickt der Junge und hockt sich vor mich. »Ihr Freund hat recht.« Er zieht den eh schon etwas hochgerollten Ärmel seines Shirts noch höher und da entdecke ich einige blasse Narben. »Drei Selbstmordversuche, schlimme Depressionen, Kindesmissbrauch. Ich wurde eingewiesen, mit Medikamenten komplett zugedröhnt, und habe trotzdem jedes Mal, sobald ich wieder draußen war, sofort erneut zum Messer gegriffen. Mein Vater ist ein Cop, genau wie Sie. Er hat Doktor Rotenberg gefunden und mich nach dem letzten Suizidversuch nicht mehr einweisen lassen, sondern hierher gebracht. Das ist jetzt sechs Jahre her und ich studiere mittlerweile Psychologie im zweiten Semester. Doktor Rotenberg sieht vielleicht aus, als wäre er zu jung für seinen Job, aber wenn Ihnen jemand helfen kann, dann er.«
»Patrick?«
Wir sehen gemeinsam zu der bisher geschlossenen Tür, die augenscheinlich in Rotenbergs Büro, Behandlungszimmer, wie auch immer man diesen Raum nennt, führt. Jetzt steht die Tür offen und ein richtiger Traumkerl lehnt am Rahmen. Schwarze Locken, unglaublich blaue Augen, eine hochgewachsene Statur … Und dazu dieses Lächeln. Micha ächzt neben mir leise und ich runzle die Stirn, als ich zu ihm schaue. Er hat rote Wangen und er starrt. Ich sehe wohl nicht recht.
»Hey! Hör auf, ihn anzustarren. Du hast gefälligst meinen Bruder zu heiraten!«
»Sam!«
Patrick und der Doc lachen und dann erhebt sich Ersterer, wirft mir einen schelmischen Blick zu und wackelt danach sehr betont mit seinem Ringfinger, an dem ein schmaler, aber nicht zu übersehener Goldreif funkelt. Doktor Rotenberg trägt dazu das Gegenstück. Oh. Ach so. Ups.
Der Doc lächelt bei meinem verlegenen Grinsen. »Ich sehe, wir verstehen uns. Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Henning?«, fragt der Psychologe, zu einer Antwort komme ich aber nicht, weil Micha schneller ist.
»Wie wäre es, wenn Sie seine große Klappe therapieren?«
»Micha!«
Er sieht mich finster an. »Was? Du hast mich eben an Viktor verkauft, also fang bloß nicht an, dich zu beschweren. Und ich sorge auch noch dafür, dass du sicher hierherkommst, pah. Ich hätte es Julian überlassen sollen. Wo steckt der überhaupt?«
Oha, bloß nicht antworten, sonst kriege ich garantiert einen verbalen Einlauf, bevor er Julian und Viktor anruft, um sich bei den beiden über mich zu beschweren. Apropos Viktor …
»Ich müsste dich nicht an meinen Bruder verkaufen, wenn du ihn endlich heiraten würdest.«
Micha schnappt erbost nach Luft, schaut zu Rotenberg und deutet nebenbei mit dem Finger auf mich. »Wenn ich ihn jetzt aus Versehen erwürge, zählt das eigentlich als Notwehr?«
»Worauf wollen Sie plädieren?«
Micha grinst mich böse an. »Seelische Grausamkeit.«
Ich habe mich wohl verhört. »Pfft«, murre ich beleidigt und lehne mich mit verschränkten Armen zurück. Doch bevor ich Micha eine harsche Gemeinheit an den Kopf werfen kann, die mir hinterher wahrscheinlich wieder leidtun würde, hockt auf einmal Doktor Rotenberg vor mir und kurz darauf klappt die Tür zur Praxis und wir sind allein.
»Ist Micha im Dienst Ihr Partner?«
»Nein.«
»Aber er ist Ihr Freund.«
Ich nicke nur, denn im Moment würde ich Micha lieber an die Wand klatschen, anstatt ihn als meinen Freund zu betiteln. Der Doc scheint mir das anzusehen.
»Freunde neigen dazu, sich aus Sorge falsch auszudrücken, aber das wissen Sie selbst, Sie sind schließlich kein Dummkopf. Und eben weil Sie kein Dummkopf sind, wissen Sie auch, dass Sie ein Problem haben, nicht wahr?«
Was soll ich darauf bitteschön antworten? Ich wäre ja wohl kaum hierhergekommen, wäre in meinem Leben alles Friede-Freude-Eierkuchen und eitel Sonnenschein. Der Doc hebt eine Hand, bevor ich ihm das an den Kopf klatschen kann.
»Wem haben Sie versprochen herzukommen?«
Ich sehe ihn verblüfft an. »Woher …?«
Weiter komme ich nicht, denn er lacht leise und erhebt sich wieder, um amüsiert auf mich hinunterzusehen. »Glauben Sie, ich mache den Job erst seit gestern? Sie sind nicht der erste, der glaubt, zu cool, zu männlich und was weiß ich was noch alles zu sein, um sich von einem Seelenklempner helfen zu lassen.« Er zwinkert mir zu. »Am Ende kriege ich sie alle.«
»Mann«, rutscht mir bewundernd heraus. »Sie klingen wie ein Großwildjäger auf der Pirsch.«
»Beeindruckend, was?«
Will der mich verarschen? »Äh ...«
»Also? Was sagen Sie? Kriege ich eine Chance zu beweisen, dass ich was drauf habe?«
Und dazu fällt mir nicht mal ein flapsiger Kommentar ein. Stattdessen starre ich den Mann völlig verdattert an, der doch eigentlich ein studierter Hanswurst sein soll, sich aber gerade ausdrückt, als käme er aus irgendeiner Gosse. Seltsamerweise gefällt mir das, obwohl es mir gleichzeitig auch unheimlich ist. Ich hatte mir Psychologen immer als ältere Männer mit Brille und einem Jackett aus Tweet vorgestellt. Doktor Rotenberg hat weder das eine noch das andere. Stattdessen trägt er eine enge Stoffhose in blau, die wahrlich nicht viel von seinen kräftigen Oberschenkeln der Fantasie überlässt, und dazu ein Hemd mit akkuraten Bügelfalten in schlichtem Weiß.
Automatisch muss ich an Julian bei Matthias' und Hannes' Hochzeit denken, und wie perfekt er an dem Tag seinen Anzug ausgefüllt hat.
»Was?«, fragt Doktor Rotenberg mit einem breiten Grinsen und reißt mich damit aus der Erinnerung an letzte Nacht, über einen nackten und heiser stöhnenden Julian unter mir, was im Moment wirklich mehr als unpassend ist. »Patrick drückt sich ständig so aus und hält das für cool.« Er verdreht gespielt die Augen. »Diese Jugend.«
Damit ist das Eis gebrochen. Ich muss lachen, bis mir etwas einfällt. »Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich wirklich ein Sofa in Ihrem Büro oder ist das nur ein Klischee?«
»Oh bitte«, antwortet der Doc gespielt überheblich. »Dieser Spruch ist so alt wie Methusalem. Ich habe einen Sessel für Sie, und wenn Sie nicht gleich aufhören zu grinsen, können Sie auf dem Teppich sitzen.«
»Als studierter Psychoheini sollen Sie mir eigentlich helfen und mir nicht drohen.«
»Solange es funktioniert«, kommt trocken zurück und dann wendet er sich ab, um in sein Büro zu gehen. Ich bleibe breit grinsend auf dem Besucherstuhl zurück, bis … »Kommen Sie jetzt endlich in mein Büro, oder was? Hier wartet ein hübscher, flauschiger Teppich auf Sie.«
Ich pruste los.
Julian steht wie ein Racheengel in der offenen Haustür, hat die Arme vor der Brust verschränkt und tippt mit einem Schuh im Gleichtakt auf den Boden.
Mist. Er weiß Bescheid und es gibt nur eine einzige Person, außer mir, die ebenfalls weiß, wo ich vor Kurzem war und mir dort einiges von der Seele geredet habe. Besagte Person klopft mir im nächsten Moment auf die Schulter und murmelt »Dank mir später.«, bevor er Julian umarmt und sich selbst ins Haus lässt, um sich bei Matthias garantiert einen dicken Muffin oder ein Stück Kuchen zu schnorren.
Ich sollte Micha folgen und ihm kräftig in den Arsch treten, weil er mich einfach so bei Julian verpetzt hat. Stattdessen gehe ich zur Haustür und bleibe mit gesenktem Kopf vor meinem Verlobten stehen. »Es tut mir leid?«
»Ist das eine Feststellung oder eine Frage?«
Sein bissiger Tonfall lässt mich zusammenzucken. Er muss wirklich stinksauer sein und vielleicht sollte ich mich im Staub winden und ihn um Vergebung anflehen, doch wieder einmal ist meine große Klappe schneller als mein Verstand. »Er hätte es dir nicht erzählen dürfen.«
»Das stimmt, und wäre mein sturköpfiger Verlobter selbst auf die Idee gekommen mich einzuweihen, was diesen Termin angeht, damit ich ihn begleiten und unterstützen kann, sofern er mich darum gebeten hätte, heißt das, wäre es deinem guten Freund und Kollegen auch nicht im Traum eingefallen, mich anzurufen und empört zu fragen, wo zum Teufel ich stecke, während du dich mit Doktor Rotenberg unterhalten hast.« Ich stöhne auf und Julian schnaubt merklich verärgert. »Stell dir doch bitte meine Überraschung vor, als ich erkannte, wovon er eigentlich redet.«
»Julian, ich ...«
Sein resigniertes Seufzen lässt mich verstummen und dann bin ich derjenige, der leise seufzt, weil er mir keine Backpfeife verpasst, was ich verdient hätte, sondern seine Finger sanft in meinen Haaren vergräbt und dabei dicht vor mich tritt. Als ich die Arme um ihn lege, lässt er es zu.
»Du bist unmöglich«, sagt er und klingt so enttäuscht, dass mein schlechtes Gewissen ins Unermessliche wächst. »Aber ich liebe dich trotzdem und nein, ich wäre nicht enttäuscht von dir gewesen, hättest du im letzten Moment doch noch gekniffen.« Ich erstarre, komme jedoch nicht zu einer Nachfrage, woher er das weiß, denn Julian lacht leise. »Ich kenne dich, Sam. Du hast zugestimmt, dir Hilfe zu suchen, weil ich dich darum gebeten habe, nicht weil du es tatsächlich wolltest. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich weiß, dass ich großen Einfluss auf dich habe und ich weiß ebenfalls, dass ich damit vorsichtig umgehen muss.«
Er gibt mir einen zärtlichen Kuss auf die Ohrspitze und mir dämmert etwas. »Matthias?«
»Nein, Papa. Er hat so ein ähnliches Gespräch nämlich auch mit Hannes geführt, weil der Onkel Matti zu allem überreden könnte, wenn er wollte.« Julian zieht meinen Kopf hoch, bis ich ihn ansehe. »Genau wie ich dich, nicht wahr?«
Ich sollte jetzt nein sagen, aber das wäre eine Lüge und er wüsste das. Für Julian würde ich fast alles tun, was ich erst vor ein paar Stunden bewiesen habe, denn ich wollte wirklich noch nicht zu einem Therapeuten gehen. Irgendwann hätte ich es von selbst getan, aber diesen Termin heute hätte es ohne unser Gespräch in der Hütte am See nicht gegeben.
»Bist du sauer?«, frage ich leise und stöhne in den Kuss, der folgt und irgendwie auch eine Antwort ist. Gott sei Dank.
»Ich versohle dir ungeniert den heißen Arsch, wenn du mir so etwas Wichtiges noch einmal verschweigst.«
Okay, er ist doch sauer. Zumindest ein bisschen. »Es tut mir leid, Julian.«
»Ach, diesmal keine Frage?«, kontert er grinsend und lacht, als ich die Lippen schürze und ihn betont unschuldig ansehe. »Ja, ja, ja … Sturkopf.« Er nimmt mein Gesicht in beide Hände und sieht mich ernst an. »Das mit dem miteinander reden üben wir noch eine Weile, hm?«
Oh je. »Julian ...«
»Nein!«, unterbricht er mich streng. »Ich muss nicht überall dabei sein, vor allem nicht bei solchen Terminen, aber wenn du mich brauchst, bin ich da, okay? Rede einfach mit mir. Dass du das nicht gut kannst, weiß ich, aber ich will mich nicht immer ausgeschlossen fühlen, wenn ich solche Anrufe wie den vorhin von Micha bekomme.«
Ausgeschlossen? Moment mal. »Julian, ich habe nicht ...«
Oh doch, ich habe ihn sehr wohl ausgeschlossen, wird mir abrupt klar, was mich mitten im Satz verstummen lässt. Weil ich zu viel Angst hatte zu versagen und er das nicht miterleben sollte, falls es wirklich dazu kommt.
Verdammt!
Ich bin so ein Idiot.
»Nein, bist du nicht«, widerspricht er und ich verdrehe die Augen, weil ich scheinbar mal wieder laut gedacht habe. Julian küsst mich erneut. »Du bist mein Superkommissar«, murmelt er dann an meinem Mund und küsst mich ein drittes Mal. »Du bist außerdem ein Sturkopf.« Es folgt ein weiterer Kuss. »Und ein toller Polizist.« Noch ein Kuss. »Ach ja, und natürlich auch der beste Verlobte, den man sich wünschen kann.« Wieder ein Kuss. »Du bist mein Mann für alle Fälle, Unfälle, Notfälle und was auch immer mir sonst noch einfällt.« Unser nächster Kuss ufert etwas aus, denn am Ende bin ich atemlos. »Und du bist vor allem der Mann, den ich liebe und schon sehr bald heiraten werde.« Ein letzter, unglaublich zärtlicher Kuss, dann guckt er mich streng an. »Trotzdem versohle ich dir kräftig den Arsch, wenn du mir so etwas Wichtiges noch mal verschweigst, hast du das verstanden, du oller Dickschädel?«
»Jawohl, mein Kaiser.«
Julian stöhnt. »Samuel Henning, du bist ...«
»Unmöglich, ich weiß«, unterbreche ich ihn, lege die Hände auf seinen Hintern und hebe ihn hoch. Julian schlingt die Beine um meine Hüften und schenkt mir ein Grinsen, das eindeutig ist. Wir sollten wirklich ganz dringend in unser Zimmer gehen, uns die Kleider vom Leib reißen und dann …
»Oh mein Gott, treibt ihr es jetzt schon auf der Türschwelle vor unserem Haus? Sam!«
Ich stöhne laut auf und Julian fängt schallend an zu lachen, während Matthias grinsend zu uns vor die Tür tritt, anzüglich pfeift und mir anschließend frech die Zunge herausstreckt, als ich ihn böse ansehe.
»Hey, nicht jeder hat eine Peepshow direkt vor der Tür. Ich sollte Eintritt verlangen. Jetzt kommt endlich rein, bevor Micha den Kuchen alleine aufisst und hinterher sein Handy rausholt, damit er euch filmen und das Video Viktor schicken kann, der garantiert Haltungsnoten verteilt, bei denen ihr übrigens nicht sehr gut abschneiden würdet, immerhin habt ihr noch alle eure Klamotten an.«
»Matthias!«