19
Eine Woche später trudelt überraschend Post vom Gericht für Julian ein. Er soll in einigen Tagen gegen Ben aussagen, der nach dem tätlichen Angriff auf Julian im Frühjahr tatsächlich wegen Körperverletzung angeklagt worden ist.
Ich muss gestehen, ich bin überrascht, denn normalerweise werden solche Fälle gegen Zahlung einer Geldstrafe eingestellt, sofern überhaupt Ermittlungen aufgenommen werden. Es sieht aus, als wären in dem Fall andere Maßstäbe angesetzt worden. Was mit Sicherheit auch den Grund hat, dass Julian der beste Schüler an seiner Schule war und noch dazu offen schwul ist. Mir soll es recht sein, solange dieser Ben eine ordentliche Strafe bekommt. Gut, machen wir uns nichts vor, es wird vermutlich auf ein paar Monate Bewährung hinauslaufen, aber ich hoffe, dass er wenigstens eine saftige Geldstrafe zahlen muss, denn das hätte er definitiv verdient.
Wir werden es sehen. Im Moment haben wir eh Besseres zu tun, als uns über ein Urteil Gedanken zu machen, denn Julian hat die letzten Tage dazu genutzt, sein früheres Kinderzimmer endgültig auszuräumen und komplett zu mir zu ziehen. Er hat sich von Klamotten, die er nicht mehr trägt, und alten Büchern, die er nicht mehr liest, konsequent getrennt, seine paar Möbel verschenkt oder verkauft, und ist danach zum Bürgerbüro, um sich offiziell umzumelden.
Er und Jürgen haben dabei viel Zeit miteinander verbracht und irgendwie habe ich das Gefühl, dass Julians Zimmer nicht lange ungenutzt bleibt, denn Jürgens Beziehung wird von Tag zu Tag enger und wer weiß, ob Melanie nicht in nächster Zeit bei ihm einzieht. Eigene Kinder wollen sie nicht, das weiß ich von Jürgen, aber Melanie malt wohl ziemlich gern und es wäre kein allzu großes Problem, Julians Zimmer in ein Atelier für sie umzuwandeln.
Lassen wir uns überraschen, würde ich sagen, denn meine Schicht ist endlich vorbei und ich bin mit meinem Verlobten zu einem romantischen Abendessen bei unserem Lieblingsasiaten verabredet. Vorher wollen wir noch eine Weile durch die Stadt bummeln, vielleicht ein Eis essen und zwischendurch tausend Mal bei Hannes anrufen, der Alf heute Morgen das erste Mal zusammen mit Ripley in die Praxis mitgenommen hat. Es wird dem Zwerg gut tun, auch andere Tiere kennenzulernen, aber er ist so winzig und nicht jeder Hund wird es toll finden, dass so ein Wurm vor ihm auf und ab hüpft und ihn dabei auch noch begeistert anbellt.
Vielleicht sollte ich Hannes noch mal schnell eine Nachricht schreiben. Andererseits war seine letzte Antwort recht deutlich und unmissverständlich. An seinem »Ich trete dir in den Arsch, wenn du nicht endlich aufhörst, mich bei der Arbeit zu stören. Alf geht es super.« war auch nichts misszuverstehen.
Verflixter Doktor Dolittle.
Manuel und Micha, die noch mit mir in der Umkleide sind, lachen über irgendeinen Vorfall, den Micha gestern im Dienst erlebt hat, ich höre nicht wirklich hin. Dann setzen sie sich aber zu beiden Seiten neben mich und grinsen mich an.
»Was?«, frage ich misstrauisch.
»Ich habe Gerüchte gehört«, antwortet Micha und ich kann mir lebhaft vorstellen, worauf er gerade wieder anspielt, denn die ganze Bande versucht schon seit Julians Geburtstag Details über die darauffolgende Nacht in Erfahrung zu bringen, doch weil Julian und ich den Teufel tun, ihnen davon zu erzählen, ergehen sie sich seither in wildesten Spekulationen.
Ich gluckse leise. »Nein, hast du nicht, weil mein Verlobter keine Tratschtante ist und Viktor daher ausnahmsweise keine Ahnung hat. Und bevor du Luft holst, um dich zu beschweren, schnapp dir einfach einen gewissen Kerl und finde selbst raus, was an Männersex so toll ist.«
»Sam!«
Manuel lacht, klatscht sich mit mir ab und dann lassen wir Micha einfach grummelnd sitzen. Er ist so neugierig und wäre es nicht Julian, hätte ich nicht mal etwas dagegen, ihm ein paar schmutzige Details zu erzählen. Aber in dem Fall geht es eben nicht um eine Affäre, sondern um meinen baldigen Ehemann, und das bedeutet für mich, ich werde nicht das geringste über sein erstes Mal verlauten lassen, denn das geht diese furchtbar freche Bande absolut nichts an.
Julian wartet mit einem sehr zufriedenen Lächeln vor dem Revier auf mich und begrüßt Manuel mit Handschlag, weil der ihn zuerst entdeckt und sofort vereinnahmt, um zu fragen, was es Neues in Julians Leben gibt. Sie quatschen ein paar Minuten über Gott und die sprichwörtliche Welt, aber dann will Manuel nach Hause und überlässt mir Julian für einen äußerst langen Kuss, der uns unüberhörbare Pfiffe von Kollegen einbringt, die ebenfalls Feierabend haben.
Es sind neckische und anzügliche Pfiffe, worüber nicht nur ich froh bin, denn meine anfängliche Sorge in Bezug auf blöde Sprüche und gehässige Kommentare hat sich zerschlagen.
Mir ist klar, dass es früher oder später welche geben wird, aber bisher sind Julian und ich davon verschont geblieben, was mit großer Sicherheit auch daran liegt, dass wir weder unsere Verlobung noch überhaupt unsere Beziehung länger für uns behalten, und vor allem, dass selbst Manuel, der konservativ erzogen und in seinem Weltbild doch ziemlich eingefahren ist, nichts auf »den Jungen«, wie er Julian erst letztens genannt hat, kommen lässt.
Und weil ich es genauso halte, fällt mir auf dem Weg zum Wagen auch sehr schnell auf, dass Julian ungewöhnlich still ist. Ich bekomme jedoch keine Gelegenheit, ihn zu fragen, was ihm im Kopf herumgeht, denn mein Kerl ist schneller.
»Ich habe einen Job.«
Ich stoppe überrascht und schaue ihn fragend an. »Wolltest du nicht ein Jahr Pause machen und die Füße hochlegen, bevor du mit dem Studium anfängst?«
Julian winkt ab. »Mache ich auch, aber ein bisschen eigenes Geld zu verdienen, kann nie schaden. Außerdem kann Joshua mir einige Sachen beibringen. Das macht er aber nur, wenn ich im Gegenzug nicht auf den Mindestlohn bestehe.«
Bitte? Ich sehe ihn entrüstet an. »Julian!«
Er grinst heiter. »Bevor du mir jetzt einen empörten Vortrag über anständige Bezahlung hältst, wir reden gerade von einem Minijob in einem PC-Geschäft und Joshua zahlt mir weit mehr als den aktuellen Mindestlohn, keine Sorge. Was Besseres kann mir vor dem Studium gar nicht passieren. Dank Joshua darf ich programmieren, alles lernen, was man lernen kann, Computer reparieren und so weiter und so fort. Er stellt mir kostenlos das nötige Equipment zur Verfügung, das ich brauche, weil ich ein paar Sachen ausprobieren will, für die mir momentan noch die Hardware fehlt, und ich kann alles, was ich brauche, auch bei ihm kaufen, wenn ich will. Joshua hat nämlich alles da, was ein guter Kaiser heutzutage braucht, um die Welt zu erobern.«
Ich verkneife mir ein Schmunzeln. »Ich hoffe für dich, dass er das Zeug auch legal erworben hat«, murmle ich stattdessen, woraufhin Julian schief grinst. Ich stöhne auf. »Julian ...«
Er lacht und zieht mich weiter zum Wagen. »Reingefallen. Keine Sorge, es ist alles legal. Joshua entwickelt seit Jahren für große Firmen Sicherheitssoftware und hat sich dadurch längst eine goldene Nase verdient. Den Laden hat er zur Ablenkung behalten, um nicht zu verlernen, wie man sich um normale PC-Probleme von normalen Leuten kümmert. Als ich ihm erzählte, dass mein Verlobter ein Bulle ist, der ihn k. o. schlägt, wenn er mich in illegalen Mist reinzieht, hat er gelacht und mir erklärt, dass du hoffentlich gut aussiehst, weil er nur von einem heißen Cop verhaftet werden will.«
Oh, oh. »Ist dieser Joshua …?«
»Schwul wie ein Gänseblümchen«, kommt mir Julian zuvor und umarmt mich, als ich die Stirn runzle. »Was übrigens auch für Tobias gilt.«
Dass Julian den Namen so betont ist verdächtig, aber nicht zu fragen, wer Tobias ist, das schaffe ich auch nicht. Verfluchte Neugierde. »Okay, du hast mich … Wer ist Tobias?« Mein Kerl sieht mich daraufhin dermaßen unschuldig an, dass ich sofort alarmiert bin. »Will ich es wissen oder soll ich lieber so tun, als wäre es mir egal? Was es nicht ist, aber ich könnte trotzdem für eine Weile so tun und am Ende vor Neugier tot umfallen.«
Julian lacht. »Tobias Sonnenberg.«
Der Name sagt mir irgendwas, aber es dauert etwas, bis der Groschen schließlich fällt und ich resigniert aufstöhne. Ach du Schande. Julian prustet los und ich schüttle den Kopf, weil mir das beweist, dass er Details kennt. Hoffentlich nicht alle.
»Ich bringe ihn um.«
Mein holder Verlobter küsst mich schmatzend, dann grinst er mich breit an. »Er fand es äußerst amüsant zu erfahren, dass ich kleiner Kerl dich eingefangen habe, was ihm nicht mal mit seinen Handschellen gelungen ist. Als Joshua dann klar wurde, dass ich der Lover von Tobias' Ex bin, hat er mir sofort einen Arbeitsvertrag angeboten. Ach ja, du bist herzlich eingeladen, vorbeizukommen, um jederzeit nach dem Rechten zu sehen. In deiner schicken Uniform.« Julian sieht mich fragend an. »Will ich wissen, warum Tobias den letzten Satz so betont hat?«
Ähm, besser nicht. Das mit den Handschellen war schon zu viel Information, finde ich. Andererseits kann ich vermutlich von Glück reden, dass Tobias bloß die Handschellen erwähnt hat und nicht den Rest. »Nein?«, tue ich daher unschuldig und lächle harmlos. »Lass uns lieber ein Eis essen gehen.«
»Sam ...«
»Und shoppen«, unterbreche ich ihn hastig. »Du brauchst bestimmt ganz dringend irgendwelchen Kram, der dich davon ablenkt, genauer wissen zu wollen, dass Tobias und ich richtig gerne und vor allem oft mit Handschellen gespielt haben.« Ich grinse Julian lieb an. »Davon erzähle ich dir nämlich erst, wenn du mindestens fünfundzwanzig Jahre alt bist und bedeutend mehr Haare auf der Brust hast als jetzt.«
»Sam!«
Wie erwartet kommt Ben bei der Gerichtsverhandlung mit einer Bewährungsstrafe davon.
Aber ein wenig Genugtuung bekommen wir doch, denn er soll eine ordentliche Geldstrafe zahlen und wird außerdem zu einer Antiaggressionstherapie verdonnert. Weil der Junge noch minderjährig ist, waren weder die Öffentlichkeit noch Besucher im Gerichtssaal erlaubt, und so haben wir nur die Erzählungen von Julian und Jürgen, denn als Elternteil durfte er natürlich an Julians Seite bleiben.
Und laut Jürgen war es Bens Eltern, einem verstockten Arzt mit akkurat gebügeltem Hemd und einer Hausfrau mit zu viel Make-up, weitaus peinlicher, eine in ihren Augen eindeutig zu hohe Geldstrafe bezahlen zu müssen, als einen Sohn zu haben, der mit Begeisterung seine Mitschüler verprügelt, nur weil sie schwul sind. Sie haben ihr eigenes Kind während der ganzen Verhandlung kaum angesehen, wollen aber nicht in Berufung gehen, sondern die festgesetzte Strafe sofort zahlen. Das hat ihr Anwalt zumindest zugesagt.
Es steht Julian jetzt frei, zivilrechtlich seinen Anspruch auf ein Schmerzensgeld einzuklagen, aber wie ich ihn kenne, wird er es nicht tun. Er wollte ja nicht mal Anzeige erstatten. Darauf ansprechen werde ich ihn trotzdem, denn es ist Geld, das ihm zusteht, und er könnte es für seinen Führerschein, sofern er ihn irgendwann machen will, ein späteres Auto oder eine Weltreise auf die Seite legen. Dieser Ben sollte in meinen Augen nicht so leicht davonkommen.
»Du solltest es machen.«
»Hm?«, fragt Julian schon halb im Schlaf. Sein Wecker geht morgen recht früh, denn er hat seinen ersten Tag im neuen Job und ich werde ihn hinfahren, um Joshua kennenzulernen und Tobias wenigstens die Hand zu schütteln. Es ist ewig her, dass wir beide unsere Affäre hatten, und ich bin neugierig auf den Mann an seiner Seite, genauso wie er neugierig auf Julian war. Aber jetzt geht es um Ben.
»Schmerzensgeld fordern. Es steht dir zu.«
Ich wollte eigentlich bis morgen warten oder vielleicht auch übermorgen, das hatte ich noch nicht entschieden, aber es ist schon nach Mitternacht und ich kann nicht einschlafen, weil es mir einfach nicht aus dem Kopf geht. Was sind eine Geldstrafe von 2.500 Euro und vier Monate Bewährung gegen ein blaues Auge und ein gebrochenes Handgelenk? Dieser Ben kann von Glück reden, dass der Bruch problemlos verheilt ist, wie hätte Julian sonst später vernünftig arbeiten sollen? Ohne gesunde Hände ist Programmieren und überhaupt das Tippen auf einer Tastatur nicht ganz einfach.
»Er ist es nicht wert, Sam.« Julian dreht sich zu mir um und schüttelt den Kopf, weil ich widersprechen will. »Ja, ich weiß. Ich bin es dir wert und du bist zudem nicht der erste, der mich darauf anspricht. Papa fand auch, ich sollte ihn verklagen. Wer weiß, ob ich es nicht sogar tun würde, läge die Sache anders.«
»Was meinst du?«, frage ich verwundert und muss gleich darauf blinzeln, weil Julian seine Nachttischlampe einschaltet und mich anlächelt, während er sich wieder hinlegt.
»Ich meine uns. Dich, mich, unser Leben, unsere Zukunft. Meine Zukunft. Ich habe dank meiner Noten und der Tests für die Uni praktisch schon die Zusage für einen Studienplatz und ein Stipendium. Ich fange in ein paar Stunden einen neuen Job an und in vier Monaten werde ich Julian Henning. Der Vorfall mit Ben ist ewig her, fast schon, als wäre er aus einem anderen Leben, verstehst du? Das Ganze liegt hinter mir und wieso soll ich das Glück, das ich mit dir und überhaupt gefunden habe, mit etwas belasten, das vorbei ist? Ben wird sich nicht ändern, ich glaube es jedenfalls nicht, und ich habe schlichtweg keine Lust, mich mit so einem Idioten um Geld zu streiten.« Er lacht leise. »Davon verdiene ich in ein paar Jahren ohnehin so viel, dass ich mir daraus eine Matratze nähen kann.«
Ach so? Ich gluckse heiter. »Werden wir gerade ein wenig größenwahnsinnig, Herr Baum?«
Julian zwinkert mir neckend zu. »Du kriegst natürlich auch eine weiche Matratze aus Hundertern … Sofern du schwörst, und zwar hoch und heilig, dass du mir ein paar Details deiner Spielchen mit Tobias und den Handschellen erzählst.«
Oha. »Julian ...«
»Wahlweise rufe ich einfach Viktor an und lasse mir zeigen, wie man dich am besten in Ketten legt.«
»Julian!«
Er lacht heiter, schaltet die Lampe wieder aus und kuschelt sich im nächsten Augenblick mit einem tiefen Seufzen an mich, was mich abrupt daran erinnert, dass ich ihn schon vor einigen Stunden etwas fragen wollte, denn seit ein paar Tagen grübelt er überraschend viel, und während ich anfangs dachte, es läge an dem Prozess gegen Ben, glaube ich mittlerweile, dass es da noch etwas gibt, das ihn beschäftigt.
»Was ist los?« Sein ratloses »Hm?« lässt mich unwillkürlich lächeln. Gott, ich liebe ihn so sehr. »Du grübelst. Schon seit ein paar Tagen. Und es ist nicht wegen Ben, oder?«
Wieder seufzt er. »Eigentlich ist es nichts.«
Würde das stimmen, würde er über dieses Nichts nicht seit Tagen grübeln. »Und was ist uneigentlich?«
»Uneigentlich bin ich enttäuscht und sauer, dass genau das eingetreten ist, was ich erwartet hatte.«
Okay, so kommen wir nicht weiter. Ich küsse Julian auf die Stirn, schalte die Nachttischlampe auf meiner Bettseite an und drehe uns hinterher beide herum, bis wir nebeneinander liegen und uns ansehen. »Erzähl´s mir.«
»Ich habe Mandy letzte Woche eine Mail geschrieben. Weil ich der Meinung war, das gehört sich einfach so, und ich weiß, dass Papa sich immer noch wünscht, dass wir einen besseren Kontakt zueinander aufbauen.«
Ich ziehe eine Grimasse, denn ich ahne, was gleich kommt. Er hat seiner leiblichen Mutter von unserer Verlobung erzählt und scheinbar ist ihre Reaktion nicht gerade gut ausgefallen.
»Sie wünscht uns alles Gute, und ich glaube sogar, dass sie das ernst meint, aber sie wird nicht zur Hochzeit kommen und ihren Ehemann damit brüskieren. Ihre Wortwahl, nicht meine. Und nein, du wirst sie nicht anrufen und anschreien, Sam.«
War ja klar. »Wieso nicht?«, frage ich angesäuert, obwohl er natürlich recht hat. Ich bin erwachsen und sollte mich auch so benehmen können. »Deine Mutter ist wirklich das Letzte, auch wenn ich das nicht sagen sollte.«
»Warum nicht? Es ist schließlich die Wahrheit. Deine eigene Mutter war doch nicht besser und ich darf es auch sagen, ohne dass es dich stört.« Er schmiegt sich eng an mich und ich kann seine Enttäuschung förmlich spüren. »Ich habe eine Mutter – Monika. Trotzdem dachte ich, hoffte ich ...«
Julian bricht ab, doch ich weiß genau, was er sagen wollte. »Das habe ich auch. Selbst als Heiko mich verstieß, hoffte ich weiter. Das Problem mit Hoffnung ist nur, sie macht es einem sehr schwer loszulassen, obwohl das manchmal nötig wäre.«
»Du willst, dass ich den Kontakt völlig abbreche, oder?«
Ich schüttle den Kopf. »Ich will vor allem, dass du glücklich bist, und das bist du hier. Mit mir. Bei uns, deiner Familie. Du brauchst sie nicht, um ein tolles Leben zu haben, und wenn sie ihren eigenen Sohn nicht akzeptieren kann, wie er ist … Scheiß drauf. Uns ist völlig egal, wie du bist. Mir ist es egal. Ich liebe dich. Selbst wenn du dir die Haare abrasierst und einen langen Bart wachsen lässt, würde ich dich noch lieben.« Julians Augen weiten sich überrascht und erst da wird mir bewusst, was ich eben zu ihm gesagt habe. »Ups.« Ich grinse schief. »Tja, da geht er hin, der perfekte Moment für diese bedeutenden drei Worte, nach dem ich seit Wochen gesucht habe.«
»Sam!«
Ich pruste los.
Am Wochenende steht wieder unser üblicher Kaffeeklatsch an und hätte ich gewusst, was Mark vorhat, ich hätte … Keine Ahnung, was ich getan hätte, aber ich hätte irgendetwas getan. Womöglich ein Filmteam gemietet, um alles aufzunehmen. Für die Nachwelt in Form von Enkeln und Urenkeln, die wir eines Tages bestimmt haben werden.
Ich weiß, ich sollte nicht so schadenfroh sein, aber ich kann nicht anders, denn es ist zu niedlich, wie Matthias um seine väterliche Fassung kämpft, seit Mark an der Tür geklingelt hat. Er ist nicht mit Monika, Dirk und Dennis gekommen, was uns eigentlich Warnung genug hätte sein sollen, vor allem bei dem Grinsen in Monikas Gesicht, aber nein, wir waren alle komplett ahnungslos, bis Mark die Büchse der Pandora geöffnet hat.
Dabei ist Christian ein echt netter Bengel und unübersehbar in Mark verknallt, der selbst noch nicht ganz zu wissen scheint, wie er mit der Angelegenheit umgehen soll. Dass er Christian mag, ist jedoch nicht zu übersehen, sonst hätte er ihn nicht zu unserem Sonntagskaffeekränzchen mitgebracht.
Monika und Dirk amüsieren sich köstlich, Hannes, Jürgen, Melanie und Julian ebenso, und unser rotzfreches Trio sowieso, während ich mich so langsam frage, ob ich lachen oder meinen armen Lieblingsbäckermeister lieber kurz bemitleiden soll, der seinen Blick kaum von dem sehr niedlichen Pärchen im Garten losreißen kann, das schon eine Weile unter dem Apfelbaum auf der Bank sitzt und miteinander flüstert.
»Christian bekommt noch Angst vor dir, wenn du weiter so finster guckst«, stichle ich leise, nachdem ich mich an Matthias herangeschlichen habe, der gerade so tut, als bräuchten seine gefühlt tausend Lavendeltöpfe dringend Wasser.
Matthias zuckt ertappt zusammen und verschüttet dadurch etwas Wasser, das auf seinen Füßen landet, die heute in bunten Flipflops stecken, weil es so warm ist. »Sam!«
Ich kichere albern und nehme ihm die Gießkanne ab. »Los, Spion Nullkommanix, wir gehen jetzt rein und kümmern uns um das Abendessen. Immerhin hast du den Jungs dicke Burger mit noch dickeren Pommes versprochen, schon vergessen?«
»Aber ...«
»Nein, nein, nein«, singe ich, untermalt von Gelächter um uns herum, während ich Matthias ins Haus schleife, durch bis in die Küche und ihn auf einen Stuhl drücke. Wenig später hat er Kartoffeln zum Schälen vor sich zu stehen – ich werde lieber die Finger von dem blöden Sparschäler lassen – und ich nehme das Hackfleisch für die Burger aus dem Kühlschrank. »Was tue ich jetzt damit?«, frage ich und grinse frech, als Matthias mich alarmiert anguckt. »Was? Glaubst du, ich kriege keine Burger hin, ohne deine Küche in die Luft zu jagen?«
»Nein.«
Also das ist ja wohl die Höhe. »Matthias!«
Er wirft lachend eine Kartoffel nach mir, doch ich bekomme keine Gelegenheit, mich dafür zu rächen, weil mein Handy auf einmal anfängt zu klingeln und ich nach einem Blick auf das Display förmlich zur Salzsäule erstarre. Viktor. Scheiße. Ich bin so was von tot. Mein Handy klingelt fröhlich weiter, während ich hektisch nach einem tiefen Loch im Boden suche, denn ich habe total vergessen, meinen Bruder anzurufen, und ich wette, dass ihm längst jemand anderes von meiner Therapie und dem Gerichtsurteil gegen Ben erzählt hat.
»Fuck«, murmle ich entsetzt.
»Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, nicht wahr?«, fragt Matthias und sein tadelnder Blick sagt mir alles.
»Du? Matthias!«
Statt ertappt auszusehen, schnaubt er und deutet auf mein Handy. »Geh ran und entschuldige dich. Dein Bruder liebt dich und du hättest ihn auf dem Laufenden halten müssen. Woher sollte ich denn bitteschön wissen, dass er von der Therapie bei Doktor Rotenberg keine Ahnung hat? Also habe ich ihn darauf angesprochen und war doch sehr erstaunt über seine Antwort dazu. Ihn als 'not amused' zu bezeichnen, trifft es nicht einmal annähernd, fürchte ich.«
Ich stöhne laut auf, doch Matthias ist gnadenlos und deutet erneut auf mein Handy, das mittlerweile verstummt ist. Jedoch nicht für lange, denn als ich meinem Bäckermeister gerade sehr beleidigt erklären will, dass er ein unmöglicher Kerl ist und ich ihn nicht mehr leiden kann, fängt es wieder an zu klingeln.
Ich lasse mich seufzend am Küchentisch nieder und nehme ab. »Hey, Viktor.«
»Wie man so hört, hattest du in letzter Zeit einen wichtigen Termin, von dem du weder Julian noch mir erzählt hast?«
Ich ziehe eine Grimasse. »Es tut mir leid?«
Mein Bruder schnaubt. »Komm mir jetzt bloß nicht so. Das funktioniert weder bei Micha noch bei Julian, wie kommst du also darauf, dass ich es dir durchgehen lasse?«
»Weil du mein toller Bruder bist und ich mich wirklich sehr vor deinen Peitschen fürchte?«
»Sam!«
Oh je, er ist mächtig stinkig. »Bitte sei nicht sauer auf mich. Ich hatte Schiss, dass ich es nicht packe und abhaue.«
Daraufhin seufzt er. »Sam, du bist ein Idiot.«
»Ich dachte, ich wäre unmöglich. Das behauptet jedenfalls mein Kerl immer, wenn ich ihn mal wieder geärgert habe.« Ich verkneife es mir, Matthias frech die Zunge rauszustrecken, als er sich glucksend erhebt und die Küche verlässt.
»Das bist du zusätzlich«, grollt mein Bruder und murmelt etwas, das ich nicht verstehe, aber dann lacht im Hintergrund jemand leise.
»Hast du Besuch?«, frage ich neugierig.
»Darf ich das nicht?«
Ich zögere kurz. »Äh, doch. Wer ist es denn?«
»Das erzähle ich dir, wenn du aufhörst, mir solche Sachen wie Termine beim Psychologen zu verschweigen«, antwortet er und das habe ich eindeutig verdient.
»Entschuldige. Wirklich. Hör auf, böse auf mich zu sein.«
»Gehst du weiter hin?«
Die Frage habe ich mir nach dem ersten Mal auch gestellt, und ja, ich werde weiter hingehen, denn zu reden hilft, obwohl ich das anfangs nicht wahrhaben wollte. Was daraus wird, tja, wir werden sehen. Ich werde es sehen. Allein mir selbst zuliebe und auch, weil Julian recht damit hat, dass wir lernen müssen, besser miteinander zu kommunizieren, werde ich mich weiter mit dem Teppich von Doktor Rotenberg anfreunden, denn der war sogar recht bequem. Und Rotenbergs verdutzter Blick war es schon wert, auf dem Boden Platz zu nehmen.
Dass er am Ende darüber gelacht hat, nehme ich ihm aber immer noch übel. Als Psychoheini hat er seine Patienten nicht auszulachen, finde ich. Nun ja, egal. Er ist ein netter Kerl und wenn er dafür sorgen kann, dass ich in Zukunft wieder ohne Albträume leben darf, bin ich zufrieden.
»Ja«, antworte ich daher und sehe auf, als sich eine warme Hand auf meine Schulter legt. Matthias ist zurück. Er zwinkert mir zu, drückt aufmunternd meine Schulter und geht hinterher zum Kühlschrank. »Rotenberg ist in Ordnung. Außerdem ist er verheiratet. Mit einem süßen Kerl.« Mir fällt etwas ein. »Micha hat ihn übrigens abgecheckt.«
»Ach ja?«
Ich kichere albern. »Du hättest seinen Blick sehen sollen, als ich ihm erbost erklärt habe, dass er aufhören soll, ihn schamlos zu begaffen, weil er gefälligst dich zu heiraten hat.«
»Sam!«
»Ich hab dich lieb, großer Bruder«, kontere ich feixend und lege auf, als Viktor anfängt, lästerlich zu fluchen. Oh, das wird er mir heimzahlen, aber es wird jede Strafe wert sein. Grinsend sehe ich zu Matthias, der gerade angefangen hat, Quark in eine Schüssel zu geben. »Was wird das?«
»Quarkspeise.«
Hä? Ich dachte, wir machen Burger mit Pommes. »Wofür?«, frage ich verwundert.
Matthias sieht mich nicht an, als er an die Schublade geht, um einen großen Löffel zu holen. »Nachtisch. Haben sich Mark und Christian eben gewünscht.«
Christian? Da war er also eben. Ich fange an zu grinsen und als Matthias das sieht, schnaubt er und das lässt mich dann erst recht loslachen. So so, Christian hat sich also Quarkspeise als Nachtisch gewünscht und bekommt sie prompt geliefert. Tja, das wäre damit noch ein Junge mehr, dem er in Zukunft jeden Essenswunsch erfüllen wird, aber ich bin heute mal ein braver Freund und ärgere ihn nicht damit. Zumindest nicht den Rest der Woche. Wie gut, dass schon Sonntag ist.
»Du bist ein toller Dad.«
»Pfft«, murrt er und holt das letzte Schälchen mit frischen Erdbeeren aus dem Kühlschrank, die er eigentlich, zumindest hat er das heute früh noch gesagt, für seine nächste Backorgie fürs Café aufheben wollte. Stattdessen landen sie im nächsten Moment in der Quarkspeise, die er anguckt, als wolle er sie bei nächster Gelegenheit eiskalt erwürgen.
Jetzt ja nicht lachen , denke ich und stecke mein Handy weg, um dann hinter Matthias zu treten und ihn fest in die Arme zu schließen. »Christian ist ein netter Junge und wenn dein Sohn irgendwann beschließt, dass er der Eine ist, wirst du zufrieden lächeln und ihm alles Glück der Welt wünschen. Und weißt du auch, woher ich das weiß?« Matthias murmelt ein beleidigtes »Nein.«, lehnt sich aber trotzdem an mich, als ich ihn liebevoll aufs Ohr küsse. »Ich weiß das, weil du, wie bereits gesagt, der tollste Dad weit und breit bist und deinen Söhnen immer alles Glück der Welt wünschen wirst.«
»Ich könnte Chris die Quarkspeise auf den Kopf schütten«, schlägt Matthias schmollend vor und ich gluckse heiter.
Er nennt den Jungen also schon Chris? Gut zu wissen. »Das könntest du natürlich tun, obwohl es verdammt schade um die Quarkspeise wäre. Wenn ich du wäre, würde ich das aber sein lassen, sonst fühlt sich Mark dazu verpflichtet, seinem Freund die Dusche anzubieten, und weil dein Sohn anständig erzogen ist, hilft er Christian danach bestimmt beim Waschen … Liegen eigentlich immer noch Kondome im Spiegelschrank?« Matthias schnappt entrüstet nach Luft. »Was?«, tue ich unschuldig. »Als cleverer, junger Kerl ist man heutzutage auf alle Eventualitäten besser gut vorbereitet. Ich würde mir aber erst Sorgen machen, wenn Mark wissen will, wo du das Gleitgel versteckt hast.«
»Sam!«