21
»Die Sitzung ist geschlossen.«
Ich starre wie betäubt auf den Richter, der soeben ein Urteil gesprochen hat, mit dem ich nie im Leben gerechnet hätte. Um mich herum höre ich die Anwälte reden, weiter hinten im Saal sind erleichterte Stimmen und sogar Gelächter zu hören, doch ich brauche offensichtlich noch einen Moment, bis ernsthaft in meinem Verstand ankommt, was gerade passiert ist.
Vier Jahre und acht Monate Haft ohne Bewährung für den Täter, der mir das Gesicht zerschnitten hat, jeweils drei Jahre und zehn Monate für die beiden, die mich geschlagen und auf mich eingetreten haben, als ich bereits am Boden lag.
Drei weitere Täter, die ebenfalls zugetreten haben – die drei Handyvideos von unbeteiligten Zeugen waren dahingehend recht aufschlussreich –, an die ich mich aber selbst nicht mehr erinnere, wurden mit zweieinhalb, beziehungsweise gleich drei Jahren bestraft. Allesamt ohne Bewährung. Der an jenem Tagm zuständige Mediziner aus der Notaufnahme hat in Bezug auf die Schwere meiner Verletzungen kein Blatt vor den Mund genommen, und dass ich weiter zweimal pro Woche zu Doktor Rotenberg gehe, der mir eine PTBS attestiert hat, dürfte beim Richter auch nicht gerade für Freudensprünge gesorgt haben.
Seiner Meinung nach gehören Menschen, die auf einen am Boden liegenden Verletzten skrupellos eintreten, definitiv für ein paar Jahre ins Gefängnis, und er hat bei seiner Verkündung des Urteils und der anschließenden Begründung noch einmal sehr deutlich gemacht, was er davon hält – nämlich nichts. Die Tatsache, dass ich ein Polizist bin, ist natürlich durch die ganze Presse gegangen, aber meine Dienststelle hat dichtgehalten. Bis zum Schluss ist mein Name unter Verschluss geblieben, wofür ich wirklich dankbar bin. Das hätte mir noch gefehlt, wenn wir ständig Reporter vor der Haustür gehabt hätten.
»Sam?«
Ich sehe neben mich und muss erst mal blinzeln, weil Julian so dicht vor mir hockt und ich lange nach vorne gestarrt habe. Er schmunzelt und lehnt sich dabei mit dem Unterarm auf den Tisch. Seine andere Hand streichelt meine Wange, was ich mit einem zufriedenen Seufzen kommentiere, bevor ich mich in die Berührung schmiege.
»Komm schon. Gehen wir nach Hause.«
Nach Hause. Ein guter Plan.
Allerdings ist der nicht so schnell umsetzbar, denn vor dem Gericht warten Manuel, Micha und der Rest meiner Kollegen, klopfen mir auf die Schultern, umarmen mich, grinsen sichtlich zufrieden wegen des Urteils und lassen es sich dann auch nicht nehmen, Julian mit in unsere Reihen zu ziehen, immerhin ist er derjenige, dem sie es zu verdanken haben, dass ich mich seit ein paar Monaten viel anständiger benehme. Pah.
»Erzieh ihn dir bloß vernünftig, bevor du ihn heiratest.«
Michas frecher Vorschlag führt zu schallendem Gelächter, vor allem, weil ich ihm dafür beleidigt Schläge androhe. Nicht, dass er davon sonderlich beeindruckt ist. Das sind sie alle nicht und sie haben nur Glück, dass Julian lacht und mich zur Seite zieht, um mich zu küssen, bevor ich mir Micha greifen und ihn übers Knie legen kann.
Nach einer langen Verabschiedungsrunde dürfen wir dann endlich aufbrechen und ich gestehe, ich bin froh darüber. Auch wenn ich mich laut Doktor Rotenberg wirklich gut geschlagen habe, was meine Aussage und die restlichen Verhandlungstage angeht, bin ich jetzt vor allem erleichtert, dass es vorbei ist.
Ich schätze, ich werde meinem neunmalklugen Psychoheini bei unserem nächsten Termin ehrlich danken müssen, denn er hatte recht. Das Urteil macht alles leichter.
Jetzt kann ich mit dem Erlebten endgültig abschließen und das Ganze hinter mir lassen.
Und vor allem kann ich jetzt in Ruhe Weihnachten und eine gewisse Hochzeit feiern, die ich kaum noch erwarten kann. Bis dahin sind es aber noch einige Wochen hin, denn aktuell haben wir Oktober und damit steht Halloween vor der Tür. Sogar im wahrsten Sinne des Wortes, denn Hannes hat letzte Woche ein mannshohes Skelett angeschleppt, das aufrecht stehend unsere Haustür bewacht. Dass das Ding im Dunkeln rote Augen hat, die aufleuchten, wenn man näher tritt – ohne Worte. Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen, als ich am Montagabend aus der Spätschicht nach Hause kam.
Ja, ich bin tatsächlich seit Anfang dieser Woche wieder im Dienst, allerdings erst mal nur für drei Stunden täglich. Doktor Rotenberg hat sich in Absprache mit der Dienststelle und der Krankenkasse für eine behutsame Wiedereingliederung in den normalen Dienst ausgesprochen, und wenn alles gut läuft, darf ich ab Januar wieder voll einsteigen.
Aber bis dahin ist wie gesagt noch Zeit und das anstehende Wochenende habe ich frei, was auch der Grund dafür ist, dass ich mir ein Bier gönne, als wir endlich alle zu Hause sind und es uns am Küchentisch bei Kaffee und Apfeltörtchen gemütlich gemacht haben. Matthias hatte mir für heute ein ganzes Blech versprochen und mein Lieblingsbäckermeister hält schließlich immer seine Versprechen.
Zwei Flaschen Bier, eine Tasse Kaffee und sechs verdammt leckere Apfeltörtchen später, fühle ich mich allerdings seltsam. Irgendwie beschwipst, was gar nicht sein kann. Jedenfalls nicht nach nur zwei Bier. Vielleicht hätte ich das letzte Törtchen doch nicht mehr essen sollen, Julian hat immerhin zweimal versucht, es mir wegzunehmen, aber ich kann Matthias' Backkünsten nie widerstehen und wie es aussieht, bin ich aus dem Grund jetzt sturzbesoffen. Von einem göttlichen Apfeltraum mit Schuss. So hat Matthias seine neue Kreation genannt, die er morgen zum ersten Mal im Café anbieten will.
»Hinsetzen. Nein, nicht hinleg... Ach, egal.«
Oh. Unser Bett. Wie bin ich denn hier gelandet? Mhm, das Kopfkissen riecht so gut nach Julian, ich möchte mich so richtig darin einkuscheln.
»Nein, erst ausziehen. Sam! Nicht auf den Bauch drehen.«
Wieso nicht? Das ist viel bequemer. Trotzdem bleibe ich für Julian brav auf dem Rücken liegen und drücke mir das Kissen einfach ins Gesicht, um seinen Duft tief einzuatmen.
»Wenn er sich erstickt, verklage ich dich.«
»Er sabbert es höchstens voll.«
»Onkel Matti«, grollt mein Kerl und ich kichere albern, bei der Vorstellung, auf sein Kopfkissen zu sabbern. »Ich sollte dir dafür den Hintern versohlen.«
»Das darf nur Hannes.«
»Onkel Matti!«
Matthias gluckst leise, während mehrere Hände versuchen, mich aus der Hose zu schälen, was dann wiederum mich zum Lachen bringt, weil das wie verrückt kitzelt.
»Sam, halt still.«
Als wäre das so einfach. »Das kitzelt.«
Julian seufzt und lacht anschließend. »Du machst mich so was von fertig, Samuel Henning.«
Oh ja, und darauf bin ich auch echt stolz. Wobei ich meinen tollen Verlobten heute wahrscheinlich nicht mehr fertigmachen kann, denn ich möchte jetzt doch lieber schlafen. Wieder muss ich kichern, denn als nächstes zerren sie an meinen Socken und das kitzelt genauso schlimm.
»Wie viel Schuss war in den Dingern drin?«
»In den normalen fürs Café oder in denen für Sam?«
»Onkel Matthias!«
»Was denn? Er brauchte nach der Verhandlung eine Runde familiärer Ablenkung und er liebt meine Apfeltörtchen.«
Julian stöhnt resigniert und ich kann mir keinen Reim auf Matthias' Worte machen. Warum Ablenkung und wieso meine? Wir haben alle Apfeltörtchen gegessen. Er hatte immerhin zwei große Bleche gebacken, damit es auch für alle reicht.
»Eigentlich sollten sie ihn auch nicht so umhauen. Er hätte heute Morgen richtig frühstücken sollen. Vom Mittagessen gar nicht zu reden.« Matthias schweigt kurz. »Julian ...«
»Nein, Onkel Matti. Es geht ihm gut. Er war nur zu nervös, um heute etwas zu essen, außer deinen Apfeltörtchen. Morgen ist er wieder nüchtern und wird dich anflehen, ihm welche für die Jungs auf dem Revier zu machen, wetten?«
Hey, das ist eine gute Idee. Manuel und die anderen Kerle hatten schon lange keine beschwipsten Berliner mehr. »Ich will lieber Berliner. Mit viel Schuss. Und Apfelstücken. Und Zimt.«
Jemand zieht das Kopfkissen ein Stück hoch und ich blinzle Matthias müde an. Er grinst, streichelt mir über die Wange und nickt dann. »Bekommst du. Und jetzt schlaf ein paar Stunden, meine kleine Schnapsdrossel.«
»Pfft«, maule ich prompt, denn wenn überhaupt, bin ich ja wohl Julians Schnapsdrossel. Apropos Julian …
Das Bett bewegt sich neben mir und bevor ich sagen kann, dass er hierbleiben soll, liegt mein heißer Verlobter auch schon neben mir und Matthias schließt die Tür hinter sich, als er uns alleine lässt. Julian legt unsere Bettdecken über uns, schiebt ein Bein von hinten zwischen meine und zieht mich dabei mit dem Rücken an seine Brust.
»Was machen wir jetzt?«, nuschle ich und seufze zufrieden, als Julian einen Arm um meinen Bauch legt und mich liebevoll in den Nacken küsst.
»Schlafen.«
»Und was machen wir morgen?«
Morgen ist nämlich Samstag, ich habe keinen Dienst und er muss drei Tage nicht arbeiten, weil Montag auch noch Feiertag ist. Wir können bis mittags im Bett bleiben … Oder extra früh aufstehen, uns gruselig verkleiden, eine Runde durch das Haus schleichen und den ersten erschrecken, der uns dabei über den Weg läuft. Das haben Torben, Niklas und Jonas letztes Jahr an Halloween gemacht, nachdem ich sie dazu überredet hatte.
Sie haben Matthias erwischt und der hat mich deshalb noch zwei Wochen später böse angeguckt, weil er gekreischt hat wie ein Mädchen, als sie ihn in ihren tollen Zombiekostümen, noch halb im Schlaf, auf dem Weg zum Klo überfallen haben.
»Onkel Matti dazu überreden, uns Sonntag ein Gruselmenü zu kochen. Immerhin ist Halloween.« Julian gluckst, als ich das mit einem Kichern kommentiere, weil ich prompt an das große Skelett vor dem Haus denken muss. »Torben, Niklas und Jonas haben vor, den ganzen Tag die Halloween-Filme zu gucken. Es geht das Gerücht um, dass sie eine dicke Geleespinne gekauft haben, die sie Onkel Matti auf den Kopf werfen wollen, weil es letztes Jahr so gut geklappt hat, ihn zu erschrecken.«
»Geil«, rutscht mir heraus und Julian lacht, ehe er mich ein weiteres Mal in den Nacken küsst.
»Ich wusste, dass dir das gefallen würde.«
Und ob mir das gefällt. In Julians Armen zu liegen, gefällt mir gerade aber noch viel mehr. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch, du Superkommissar«, flüstert er hinter mir und ich schließe die Augen. »Aber wenn du es tatsächlich wagen solltest, diesen Lachsack und die Wasserbombe, die ich gestern Abend zufällig hinter deinem guten Anzug im Schrank entdeckt habe, an Halloween gegen mich einzusetzen, wirst du deine eigene Hochzeit nicht mehr erleben.«
Verdammt, woher weiß er davon?
Niemand weiß davon, weil ich es niemandem erzählt habe, denn in diesem Haus bleibt einfach nichts geheim. Augenblick mal … »Was hast du denn bitteschön im Kleiderschrank hinter meinem guten Anzug zu suchen?«
Julian gluckst. »Na was wohl? Ich brauchte ein Versteck für die unechten Regenwürmer, die ich dir an Halloween in deine Socken stopfen wollte, und den Anzug hast du seit Ewigkeiten nicht mehr angefasst.«
Okay, das war logisch, aber … »Unechte Regenwürmer?«
»Glaubst du etwa, du bist der einzige, der für gute Streiche an Halloween zu haben ist?«, kontert Julian und lacht, weil ich schnaube. »Eigentlich wollte ich zuerst einen Spaten und einen Dekosarg kaufen, aber das fand ich dann doch zu übertrieben. Regenwürmer in deinen Socken sind viel ekliger. Und falls du mir nach unserer Hochzeit zu frech wirst, lasse ich in Zukunft einfach immer die Titelmelodie von 'Six Feet Under' laufen.«
»Julian!«
Es dauert keine Woche, bis besagte Titelmelodie zum ersten Mal läuft, als ich nachmittags nach Hause komme. Und dabei sind wir noch nicht mal verheiratet. Tze.
Allerdings habe ich damit gerechnet, nachdem ich meinen hinreißenden und splitterfasernackten Verlobten morgens erst so richtig heiß gemacht und dann mit tropfenden Schwanz im Bett liegengelassen habe, um pünktlich zu meinem Termin mit meinem geduldigen Psychoheini zu kommen.
Dass jetzt offenbar keiner zu Hause ist, irritiert mich dann aber doch ein bisschen, denn meine Rufe nach Matthias, Julian, sogar nach unseren Vierbeinern, bleiben unbeantwortet, sodass ich schlussendlich ratlos Jacke und Schuhe ausziehe und in die Küche gehe, um einen prüfenden Blick an den Kühlschrank zu werfen, wo wir immer Nachrichten aufhängen, falls etwas ist oder jemand spontan weg musste.
Auch dort ist kein Hinweis zu finden, wo sich die Vier- und Zweibeiner dieses Haushalts gerade aufhalten, sofern sie nicht arbeiten oder noch in der Schule sind, wie im Falle von Hannes und unseren Jungs. Ich sehe mich verwundert um und halte im nächsten Moment verblüfft inne.
Auf dem Küchentisch steht ein Baum.
Ich blinzle verdattert.
Der Baum steht immer noch da.
Ich schließe kurz die Augen und schüttle den Kopf – wäre der Baum lebendig, hätte er spätestens jetzt gelacht –, doch der Baum steht weiterhin völlig ungerührt auf dem Küchentisch.
Wieso steht ein Baum auf unserem Küchentisch?
Okay, es ist nur ein kleiner Baum, eher ein Bäumchen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es trotzdem ein echter Baum ist, sogar mit Erde und Wurzeln dran, die momentan in einem hellbraunen Jutesack stecken, damit die Erde bleibt, wo sie ist, nämlich an den Wurzeln.
Ähm …
Ein Räuspern von der Tür her lenkt mich ab und ich werfe einen Blick über die Schulter. Julian lehnt am Rahmen und sein Grinsen spricht wieder einmal wahre Bände, bevor er über die Schulter sieht und nickt. Die Musik verstummt abrupt. Aha, es ist also doch jemand zu Hause und ich schätze, dieser Jemand hört auf den Namen Matthias und wird jetzt brav in der Nähe bleiben, damit er uns schamlos belauschen kann.
Julian schaut mich wieder an und ich deute mit einer Hand zum Tisch. »Von dir?«
»Jup«, antwortet er salopp und verschränkt seine Arme vor der Brust. Dann folgt ein Lächeln, das mein Herz sofort einige Takte schneller schlagen lässt. Ich liebe sein Lächeln, und vor allem liebe ich es, wenn er mich anlächelt. »Für dich.«
Er schenkt mir einen Baum. Muss ich das verstehen? »Hä?«
Julian lacht leise. »Lies die Karte.«
Karte? Welche Karte? Ich finde den Umschlag erst auf den zweiten Blick, halb versteckt unter dem Jutesack, und da ich so neugierig bin, erspare ich mir jeden Versuch, ihn beim Öffnen nicht zu stark zu zerreißen.
Julian gluckst hinter mir und ich zeige ihm dafür frech den Mittelfinger, was meinen Kerl heiter lachen lässt, während ich eine Karte aus dem Umschlag ziehe, auf die ein Apfel gedruckt ist, der wiederum von einer sehr gierig dreinblickenden Raupe angeguckt wird. Na klar. Ich wette, ich weiß genau, wen er sich als verfressene Raupe vorgestellt hat, als er diese Karte kaufte. Mit einem amüsierten Kopfschütteln drehe ich sie um. Julians Handschrift ist unverkennbar und lässt mich grinsen, während ich anfange zu lesen, was er geschrieben hat.
Ich bin ein Boskoop und ich bin für dich.
Aus mir kann man von frischem Apfelsaft bis hin zu köstlichem Apfelkuchen so gut wie alles machen. Probier mich zu Weihnachten unbedingt als Bratapfel, du wirst begeistert sein.
Ich bin knackig, halte bei richtiger Lagerung ewig und überzeuge mit einem säuerlich-herben Geschmack.
Zudem werde ich gerne rot und wie man mir erzählt hat, magst du es, andere Männer, vor allem deinen zukünftigen Ehemann, zum Erröten zu bringen.
Du wirst dich allerdings ein paar Jahre gedulden müssen, bis ich meine ersten Früchte trage. Aber keine Sorge, ich bin eine verdammt gute und auch krisensichere Investition, die man im allerbesten Fall nur einmal im Leben tätigt.
So wie man im besten Fall nur einmal im Leben heiratet, vorher einen Baum pflanzt und später ein Haus baut, indem man dann ein oder zwei Kinder großzieht.
Und darum frage ich dich hier und heute …
Willst du ihn mit mir einpflanzen?
Willst du mich heiraten, irgendwann ein Haus bauen und eines Tages ein bis drei Kinder mit mir großziehen?
Ich liebe dich wie verrückt.
Julian
PS: Wehe, du sagst nicht Ja.
Also das ist ja wieder mal typisch. Ich pruste los, überfliege seine letzten Sätze noch mal und … Moment. Was?
Mein Kopf ruckt hastig herum. Julian lehnt immer noch am Türrahmen, doch sein vorheriges Lächeln ist einem in meinen Augen völlig in sich ruhenden Gesichtsausdruck gewichen, in dem gleichzeitig so viel Gefühl für mich steckt, dass es mir im ersten Augenblick den Atem verschlägt, als mir dann wirklich bewusst wird, was er getan hat. Und was er in Zukunft mit mir tun möchte. Kinder. Oh mein Gott.
»Julian ...« Weiter komme ich nicht.
»Du liebst Äpfel und der Boskoop ist eine alte Sorte, die als recht langlebig gilt.« Er stößt sich von der Tür ab und tritt auf mich zu. »Wir werden ihn in den Garten pflanzen und falls wir Glück haben, wird er mit uns alt werden. Stell ihn dir als mein Hochzeitsgeschenk vor, das uns hoffentlich erhalten bleibt, bis dass der Tod uns scheidet.« Er zwinkert mir zu. »Und was die beiden anderen Fragen angeht … Wir haben Zeit.«
Er möchte also ein Haus und er möchte Kinder großziehen. Mit mir. Nicht gleich heute, morgen oder im kommenden Jahr. Aber irgendwann. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr gefällt mir die Idee, auch wenn sie mir gleichzeitig große Angst macht. Ich meine, ich und Kinder erziehen? Das dürfte ein Abenteuer ohne gleichen werden. Oder anders ausgedrückt – Himmel, Arsch und Zwirn.
Mir fehlen die Worte. Sonst fällt mir immer etwas ein, auch wenn es gern mal Blödsinn ist, der aus meinem Mund kommt, aber jetzt bin ich vollkommen sprachlos.
Julian legt die Hände an meine Seiten und zwinkert mir zu. »Endlich habe ich dich einmal so richtig mundtot gemacht. Das werde ich mir rot im Kalender eintragen.«
Also jetzt wird er gemein. Und ich habe immer noch meine Sprache verloren, das wird langsam peinlich. Hmpf.
»Ich liebe dich, Sam, und bilde dir ja nicht ein, dass du jetzt in Tränen ausbrechen kannst, weil du so gerührt bist. Das darf nur Onkel Matthias, was er mittlerweile bestimmt schon tut, da er garantiert an der Wohnzimmertür steht und uns belauscht. Obwohl er mir vorhin versprochen hat, es nicht zu tun.«
»Mist. Woher weiß er das?«, ist Matthias' entrüstete Stimme zu hören und als Hannes daraufhin zu lachen anfängt – na sieh mal einer an, unser Doktor Dolittle ist also auch da –, kann ich nicht anders als mitzulachen, ehe ich Julian an mich ziehe und ihn küsse, bis uns die Luft ausgeht. Dann reibe ich mit meiner Nase kindisch über seine und grinse ihn an.
»Du bist total verrückt.«
»Ja, nach dir. Und ich dachte eigentlich, das wäre dir in den letzten beiden Jahren, die ich deinen heißen Arsch mittlerweile begeistert ansabbere, längst aufgefallen.«
»Ich wusste es, du willst nur meinen Körper. Wobei ich dir das wahrlich nicht übel nehmen kann, denn er ist nun mal echt umwerfend. Frag deinen Onkel.«
»Sam!«, schallt es vor mir und nebenan höchst empört und ich pruste ein weiteres Mal los, bis Julian seine Hand an meine Wange legt, meinen Mund mit einem wahnsinnig sanften Kuss fürs Erste zum Schweigen bringt und mir im Anschluss daran sein unvergleichliches Lächeln schenkt. »Ich liebe dich, Samuel Henning.«
Nicht so sehr, wie ich ihn liebe, und es wird dringend Zeit, ihm das mal wieder zu sagen Aber vorher will ich noch einmal seine Lippen kosten, deswegen küsse ich Julian liebevoll, bevor ich seinen Blick suche und …
»Oh mein Gott, jetzt wird er wieder schmalzig. Irgendwann rutscht noch einer von uns auf der Schleimspur aus und bricht sich den Hals.«
Das ist ja wohl die Höhe. »Darf ich hier nicht mal mehr ein Liebesgeständnis machen, ohne dabei gestört zu werden?«
»Dann warte damit, bis du in eurem Zimmer bist. Schlimm genug, dass du es mit Julian in meiner Vorratskammer treibst. Das werde ich dir übrigens nie vergessen, Samuel Henning. Du weißt genau, dass meine Vorratskammer für Sexspielchen tabu ist.« Er schnaubt. »Wenigstens habt ihr Kondome benutzt.«
»Matthias«, stöhnt Hannes resigniert, während Julian und ich uns entsetzt ansehen. Woher weiß Matthias das denn? »Sag mir jetzt nicht, dass du tatsächlich diese Überwachungskamera gekauft hast, um Jonas auf frischer Tat zu erwischen. Du weißt doch, dass er die Pfirsiche nur klaut, weil Torben die Dinger im Moment so gerne isst und unser Sohn dich viel zu sehr verehrt, um sie selbst zu klauen.«
»Ich wollte ihn doch nur ärgern. Woher hätte ich bitteschön wissen sollen, dass ein gewisses Paar, das ebenfalls in diesem Haus lebt, sich völlig hemmungslos zwischen meinen Vorräten vergnügt, obwohl sie ganz genau wissen, dass das verboten ist, und dabei auch noch schamlos mein letztes Glas eingewecktes Apfelkompott leer futtert? Ein Frevel ist das. Wer weiß, wie oft sie das schon gemacht haben? Und ich wundere mich ständig, dass meine Vorräte immer so schnell alle sind.«
»Du hast uns beim Sex gefilmt?«, frage ich fassungslos und Julian lässt lachend seine Stirn gegen meine Brust sinken.
»Nur aus Versehen.«
»Matthias!«