Ich jagte die Treppen hinunter, die Hand immer am Geländer, über den zerkratzten, abgegriffenen Lack, sprang über die letzten acht oder neun Stufen, dass mir vom Aufprall die Fußsohlen brannten, auf den mit gelblichen Ziegeln gepflasterten Hinterhof hinaus, über die verwaiste Teppichstange auf die Mauer, wo ich aufstand, um noch einmal zurückzublicken, und es war, als wäre ich aus einem Traum erwacht, der sofort und auf Nimmerwiedersehen ins Vergessen driftete. In Simons Fenster, hoch oben in der schattigen Ecke zum linken Hinterhaus, brannte kein Licht, nur graues Schwarz und die Ahnung eines Vorhangs. Vielleicht lag sein Zimmer doch auf der anderen Seite, wo die Fenster weit offen standen, als hätte sich jemand endlich dazu durchgerungen, einmal kräftig durchzulüften. Doch kein Vorhang wehte, und keine Aufbruchsmusik tönte in den Hinterhof, kein Mensch lehnte an der Fensterbank, auch kein Blumentopf, nicht einmal ein Aschenbecher waren aufs Fensterbrett gestellt. Die Fenster waren eines Tages einfach nicht mehr geschlossen worden. Oder sein Zimmer lag dort unten, wo im drahtumwickelten Blumenkasten eine Birke wuchs.
Los jetzt, dachte ich und ließ mich auf der anderen Seite der Mauer hinunter. Auf einem Trampelpfad ging es zwischen Brennnesseln und unkrautüberwuchertem Schrott hindurch, dann rannte ich über die Auguststraße und machte durch eine Aneinanderkettung von Innenhöfen hoch zur Linienstraße, auf der ich unentschlossen Richtung Osten spazierte. Und kurz bevor ich zu Hause angekommen war, packte es mich doch noch. Rechter Hand bog ich in einen Hinterhof, kletterte über die Mülltonnen auf eine Mauer, balancierte ein Stück und stieg durch ein Fenster in den ersten Stock einer Trümmerbude, zertrat den Rest einer Glühbirne, dass das Glas unter der Sohle knirschte, kroch durch ein Loch in der Wand, durch das ich auf die Umkleidebaracken des Sportplatzes kam. Ich ließ mich an der Regenrinne hinunterhängen und sprang. Alles Training war vorbei oder ausgefallen, oder alle Mannschaften waren heillos krank oder von einem Auswärtsspiel nicht mehr heimgekehrt; niemand war da, die kahle Freifläche gehörte mir allein. Ich schrie nicht, ich schlug kein Rad, vielleicht wäre das das Richtige gewesen, lief einfach rüber auf die andere Seite des Fußballfelds, zu dem Schrottberg, der sich dort angesammelt hatte, an dem ich manchmal nachmittags spielte. Jetzt setzte ich mich auf ein Brett, das jemand über die Betonblöcke einer kaputten Bank gelegt hatte.
Ich warf einen Stein in die Luft und fing ihn wieder auf. Mein Magen knurrte. Ich sah hinüber zu unserem Haus auf der gegenüberliegenden Seite des Sportplatzes. Hinterm Küchenfenster brannte Licht, die anderen Fenster hatte die Dämmerung schon geschluckt. Es blieb keine Zeit mehr für ein kurzes Spiel gegen die Wand, dabei gab es, wenn der Platz einmal so frei war wie jetzt, nichts Besseres, als am Ende des leeren Feldes Anlauf zu nehmen und den Ball gegen die himmelhohe Rückwand der Volkshochschule zu treten. Stundenlang konnte ich dort stehen und gegen die freie Wand schießen, wieder und wieder, diese endlose Wand, schluckte die Schläge und spuckte den Ball wie einen abgekauten Kern zurück. Mit dünnen Beinen und ohne Technik würde ich zutreten, zwergenhaft, aber mit ganzer Kraft, meinen Ball gegen die Wand, ziellos, da das Ziel so riesig war; einen schwachen Bogen würde er fliegen, sanft und leise aufschlagen und zurückrollen. Doch der Aufprall würde lauter werden, über die Jahre, irgendwann würde ich den Ball gegen die Wand dreschen, dass die Schläge über die ganze Weite des Platzes hallen würden, so träumte ich, wenn ich mit der Wand Fußball spielte.
Eine dunkle Fahne hing bewegungslos an einem Ast im Flieder. Ich stand auf. Es war eine Jacke, eine schwarze Lederjacke, die jeden Augenblick in der Dunkelheit zu verschwinden drohte.
Niemand war zu sehen oder zu hören.
Ich zog sie herunter, warf sie mir wie einen Umhang über die Schultern und rannte weg, am Rand des Sportplatzes entlang, mit weit ausholenden Schritten, die Arme ausgebreitet, und kreischte laut und schrill wie ein Raubvogel. Ich schleuderte die Jacke auf die Mauer zum Hinterhof, kletterte über den angrenzenden Zaun hinterher, hüllte mich wieder in die schwarze Lederkutte und balancierte gegenüber den Fenstern unserer Wohnung die Mauer entlang. Im Wohnzimmer war es dunkel, auch im Badezimmer brannte kein Licht, nur der Müllsack, der vorübergehend ins Fenster geklebt war, schimmerte vom Abendhimmel der Stadt beschienen wie eine Pfütze am Straßenrand. Gestern erst hatte wieder einer der Bolzprofis von Blau-Weiß Berolina über den fünf Meter hohen Zaun, unsere Mauer und unseren Hof hinweg eins unserer Fenster erwischt, meilenweit am Tor vorbei. Wie eine Splitterbombe war die Scheibe explodiert, und wir konnten Gott oder dem allmächtigen Zufall danken, dass in diesem Augenblick niemand von uns friedlich auf dem Klo gesessen hatte. Der Unglücksschütze war sofort in den Hof geklettert und hatte seine ratlosen Entschuldigungen heraufgerufen. Angesichts des treudoofen Gesichts des Fußballjungen war meinem Vater der Ärger in der Brust wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Einen Glaser sollten sie schicken, sie wüssten ja, wohin, hatte er geantwortet und begonnen, die Scherben aufzufegen. Vielleicht wollte er sich seinen Ärger auch nur für den Sonntag aufsparen. Wenn sich die Trainer schon früh am Morgen am Spielfeldrand aufplusterten, sich den letzten Funken Wut aus den Körpern schrien, um die träge Masse ihrer Elf in Bewegung zu versetzen, und mit ihrem Geschrei dem ganzen Viertel die Vormittagsruhe verdarben, konnte es passieren, dass er auf dieses Leben am Rand des Fußballfelds fluchte, die Fenster aufriss und losbrüllte: Ruhe, gebt endlich Ruhe! Und ich weiß nicht, ob er sich an den Herrgott richtete, an den er nicht glaubte, oder an die Fußballtrainer, an die er noch viel weniger glaubte.
In der Küche brannte Licht. Da war mein Bruder, der sich mit erhobenem Arm in einem dünnen Strahl Milch einschenkte, und meine Mutter, die ihm zusah. Sie sagte etwas, worauf er nickte, die Milchpackung absetzte und vorsichtig aus dem stehenden Glas einen Schluck schlürfte. Sie hatten eine Kerze angezündet, deren Licht im stärkeren Licht der Küchenlampe unterging. Ich überlegte, mit den Armen zu wedeln oder wieder zu kreischen. Ich schloss die Augen, holte Luft, öffnete sie, da blickte mir mein Bruder entgegen, zufällig, er stierte müde hinaus, ohne mich zu bemerken.
Bis vor Kurzem waren wir jeden Abend Hand in Hand eingeschlafen, waren nachts zusammen ins Bad geschlichen, um zu pinkeln, erst der eine, dann der andere, und zusammen zurück. Dann jedoch, ohne Streit und ohne Absprache, hatten wir die Matratzen auseinandergezogen und mit Kreide, die schnell wieder verwischte, eine Linie markiert und unser Zimmer aufgeteilt. Seitdem lag ich abends lange wach, wälzte mich von der einen zur anderen Seite und versuchte, die Augen geschlossen zu halten, die wie von selbst immer wieder aufklappten, um noch ein letztes Mal durch unser dunkles Zimmer in Richtung meines Bruders zu schauen; noch einmal wollte ich Gute Nacht sagen, um noch einmal seine Antwort zu hören, aber ich zwang mich, stumm zu bleiben und reglos am Rand der Matratze auf dem Bauch zu liegen, damit er ja nichts bemerkte. Er schlief ohne Schwierigkeiten ein oder täuschte dasselbe vor wie ich. Jetzt schmierte er sich Butter aufs Brot, legte Käse drüber und strich Tomatenketchup oben drauf. Meine Mutter sah ihn an, dann blickte auch sie zum Fenster, wahrscheinlich betrachtete sie sein Spiegelbild. Ich sprang auf eine der Mülltonnen und sprang hinunter in den Hof, ob sie mich hörten, konnte ich nicht mehr sehen.
Geräuschlos öffnete ich die Wohnungstür, stellte meine Schuhe, die ich schon im Treppenhaus ausgezogen hatte, ans Ende der langen Reihe von Schuhen und schlich an der nur einen Spalt weit offenen Tür zum Zimmer meines älteren Bruders vorbei ins Wohnzimmer. Mein Vater lag auf seinem Lesesofa, schlief im orangeroten Licht der Straßenlaterne, die Zeitung über seinen Bauch gebreitet. Schritt für Schritt und auf Zehenspitzen, die Hand über dem Griff meiner blauen Axt, näherte ich mich. Ich stand über ihm, er atmete ruhig, ahnte nichts. Vorsichtig, mit Gespensterhänden, griff ich nach seiner Brille, Zentimeter für Zentimeter.
Seine Mundwinkel zuckten, zogen sich in die Breite, ein Lächeln, er sperrte die Augen auf, seine Hand packte mich am Bauch, ich schrie, riss mich los, rannte.
Ich wusch meine Hände über der Badewanne, schöpfte kaltes Wasser und trank, schlug mir den Rest ins Gesicht.
In meinem Zimmer, die Zimmerhälfte zur Tür hin, zog ich die Axt aus dem Gürtel, mein Messer aus der Hosentasche, schob beides unter mein Kopfkissen, blickte mich um und seufzte wie einer, der nach langer Irrfahrt endlich zu Hause angekommen ist. Dann gings über den Flur in die Küche, wo ich grußlos auf die Küchenbank rutschte, als hätte ich seit Stunden selbstvergessen auf dem Wohnzimmerteppich gesessen und gespielt.
Erst als ich zwei Glas Milch getrunken und zweimal Käsebemme gegessen hatte, fragte meine Mutter, was das für eine Jacke sei, die ich da anhätte.
»Gefunden«, murmelte ich.
Da blickte auch mein Bruder auf, der bis dahin über ein Blatt gebeugt mit Buntstiften gekritzelt hatte.
»Wo?«
»Drüben«, antwortete ich und zeigte mit dem Kopf in Richtung Fenster.
»Ach so. Und? Gehört sie jemandem? Hast du mal in die Taschen geguckt?«
Aus der Innentasche zog ich ein schwarzes Lederportemonnaie, aus den Seitentaschen einen Schlüsselbund und schob beides meiner Mutter zu. Sorgsam blätterte sie sich durch das Portemonnaie, bis sie innehielt.
»So etwas haben normale Menschen nicht«, sagte sie und legte zwei unterschiedliche Ausweise, deren Fotos ein und dasselbe Gesicht zeigten, nebeneinander auf den Tisch. »Dann flitz jetzt gleich noch in die Gartenstraße und wirf dem Herrn einen Zettel in den Briefkasten, wo er seine Jacke abholen kann. Und wenn’s keinen ordentlichen Finderlohn gibt, werd ich ihm aber ein Wörtchen erzählen.«
An diesem Abend wäre ich leicht und ohne Widerstand in den Schlaf geglitten. Ich lag am äußersten Rand meiner Matratze, meine Hand auf der Jacke, deren Taschen voll waren mit Geld, Schlüsseln, geheimnisvollen Notizheften; der Geruch des Leders stieg mir in die Nase. Doch meine Mutter rief mich zurück, aus den ersten Träumen und aus dem Bett heraus, damit ich die Jacke übergebe. Nur schemenhaft erinnere ich mich an den Mann, der bei uns an der Tür stand. Als ich über die Schwelle in den Flur tappte, machte er wortlos einen Schritt auf mich zu. Licht brannte keins, nur durch die Milchglasfenster der Küchentür schien ein schwacher Rest, der Konturen zeichnete, aber kein Gesicht. Die eigentliche Übergabe, das Loslassen und Hingeben, den Blick des Mannes, als er sein Eigentum entgegennahm, all das habe ich vergessen, ich war schon halb betäubt vom Schlaf. Wahrscheinlich ist, dass ich die Jacke auf beiden Händen getragen und mit geneigtem Kopf überreicht habe wie eine Reliquie. Deutlich sehe ich erst wieder, wie er einen Fünfziger etwas zögerlich aus seinem Portemonnaie zog und mir entgegenhielt, aufrecht zwischen Daumen und Zeigerfinger geklemmt wie eine kostbare Rose. Meine Mutter konnte ihr Wörtchen für sich behalten, und ich taumelte zurück in Richtung Bett.
Mein Geld, war der erste Gedanke, der mir vom Kopf aus durch den ganzen Körper fuhr, als ich am Morgen mit dem zerknitterten Schein in der Faust erwachte. Heute mussten wir keine Erdbeeren klauen oder die Böden nach Kleingeld absuchen, das mein Vater jedes Mal verstreute, wenn er sich die Hosen auszog, kein Tag der Bettelei nach zwanzig Pfennig, um sich einen Kaugummi ziehen zu können – heute knüllte ich den mir vom Himmel geschenkten Reichtum in die Hosentasche und ließ mir genüsslich die Möglichkeiten durch den Kopf gehen, die diese lächerliche Welt zu bieten hatte. Meine Schritte hatten mehr Gewicht, mein Bauch war dicker, mein Rücken gerader, meine Brust geschwollener, mein Kinn gereckter, und meine Haare glänzten golden, als ich Fuß auf das Pflaster meiner Straßen, meines Viertels setzte. Ich wedelte mit dem Scheinchen, und die Freunde folgten mir zum Koppenplatz, wo ich sie mit sicherer Geste in die großräumige Eisdiele an der Ecke lud – zwei Jahre später schon ein Chinarestaurant mit allem, was dazugehörte: Holzfurniere mit Drachenmustern, künstliche Wasserfälle hinter Glas in bombastischen Rahmen, roter Teppichboden, Süß-Sauer-Suppe und eine militant-höflich lächelnde Kellnerin, danach eine Sushi-Bar, japanisch minimalistisch, die wiederrum von einem ambitionierten Vegan-Restaurant abgelöst werden würde, und alles im ewig selben, ollen Plattenbau.
Am großen Familientisch in der hintersten Ecke nahmen wir Platz, und jeder orderte, wonach ihm war. Bevor ich mich selbst meinem Becher widmete, sah ich mir ihre Gesichter an, Christoph und Stefan nickten mir mit großen Augen zu, dann senkten sie die Köpfe und aßen, als hätte ihnen jemand einen Schatz serviert. Simon löffelte wie ein Forscher, endlos langsam, den Geschmack des Eises immer wieder prüfend; da zeigte sich, dass er zwar kein Einzelkind, doch wie ein Einzelkind war – seine Schwester war schon zu alt, um noch ein richtiges Geschwisterkind zu sein, deshalb kannte er die Angst nicht, dass jemand die besten Stücke vom Teller stiehlt. Mein Bruder aß wie ich, schätze ich, schnell und ohne lange Geschmackserforschung. Ihn von mir zu unterscheiden, in dieser Zeit, war fast unmöglich. Wenn wir etwas gemeinsam taten, zum Koppenplatz spazierten, am Fenster des Schreibwarenladens Ackerstraße Ecke Torstraße, oder hieß die da noch Wilhelm-Pieck?, die Auslage betrachteten oder auf den Wänden in unserem Zimmer mit Wassermalfarben herumpinselten, unterhielten wir uns zwar ununterbrochen miteinander, trotzdem war es, als würden wir Selbstgespräche führen. Meistens warteten wir, wenn wir zu zweit waren, ohnehin auf einen Dritten. Und wenn Simon oder irgendwer dann seinen Namen sagte, wenn jemand ihn rief: Anton, verwandelte sich mein Bruder für einen winzigen Augenblick in eine mir völlig fremde Person.
Als ich großzügig die neue Runde einläuten wollte, hatten alle, kaum zu glauben, genug. Ich zahlte, knauserte nicht am Trinkgeld, und der ehrliche Finderlohn war gegessen.
Christoph und Stefan verabschiedeten sich Auguststraße Ecke Große-Hamburger – kaum zwei Wochen später würden sie mit ihren Eltern gen Mahlsdorf umziehen, also vom Erdboden verschluckt sein, so würde es uns zumindest vorkommen –, Simon hatte nichts weiter geplant, und mein Bruder und ich sollten wie immer nicht zu spät zu Hause sein. Was das bedeutete, durften wir selbst abschätzen; eine Uhr hatte sowieso keiner, weshalb eine Uhrzeit genauso vage gewesen wäre wie früh oder spät oder eben zu spät. Außerdem weigerten wir uns, Zeigeruhren lesen zu können, die überall an Kirchtürmen klebten oder an Kreuzungen aufgebaut waren wie Verkehrspolizisten.
»Wohin?«
»Keine Ahnung.«
»Erst mal Mombi?«
»Klar.«
Wir erzählten einander Witze, kurze Geschichten oder dachten uns Blödsinn aus, plapperten wie Vögel zwitschern, spuckten so weit wie möglich oder auf die schönen Gesichter der Werbeplakate. Simon pfiff auf zwei Fingern, und wir versuchten vergeblich, es nachzumachen.
Und wieder einmal erzählte Simon vom Harz und dem Krieg, an dem er teilnahm, wenn er mit seinen Eltern an die Front reiste. Schon vor einiger Zeit hatte er sich sozusagen als Gelegenheitsmitglied der Bande von Jugendlichen angeschlossen, die in dem an das Grundstück seines Opas angrenzenden Gebiet das Sagen hatte. Immer wieder hatte eine verfeindete Bande unerlaubt die Grenzen ihres Territoriums überschritten. Es war zu Verwüstungen von geheimen Unterschlüpfen gekommen, zu aufgeschlitzten Fahrradreifen, von der Leine geklauten Lieblingshosen oder zu kurzen Verfolgungsjagden, die in einem Hinterhalt mit Wortgefechten oder knapp verfehlten Fausthieben endeten.
»Wir mussten für Ordnung sorgen«, erklärte Simon, und so war es zu einer Großoffensive auf die unterirdische Zentrale der gegnerischen Bande gekommen.
»Es gab Verletzte«, erklärte er, ernst, aber unerschrocken. »Wir hatten ihren Bunker umzingelt. Ein Hammerteil. Mitten im Wald. Mit Gras drüber. Zwei hatten ihn zufällig beim Pilzesammeln entdeckt. Die Jungs da sind zehnmal härter als alles. Unser Plan war klar: ausräuchern, lebendig begraben. Also Strohfeuer vorm Eingang legen und ihr Dach zurück in die Erde schieben. Aber wir hatten einen schlechten Tag erwischt, wir waren mindestens zehn, von denen kamen dann nur drei oder vier aus dem Loch gekrochen. Und die waren nicht mal sauer, der eine heulte, der andere jammerte, dass jetzt alles kaputt war. Was sollten wir machen, die hatten Krieg gewollt.«
Als befände er sich noch immer auf feindlichem Gebiet, zog Simon den Kopf ein und rannte geduckt am Eingang zur Sophienkirche vorbei. Auf der Höhe vom Jüdischen Friedhof holten wir ihn wieder ein: In einer Baulücke lag er an einem Schutthaufen in Deckung.
»Simon«, schrie ich.
Er riss die Augen auf und rutschte noch tiefer in den Staub. Ich stieg auf die Spitze des Schuttbergs, hob ein Stück Putz auf und schleuderte es gegen die fensterlose Hauswand, dass es zerstob, und tat dasselbe noch einmal mit einem abgebrochenen Flaschenhals. Als ich Simon ein drittes Mal mit einem zerschepperten Gurkenglas laut und deutlich enttarnt hatte, stand er auf, klopfte sich den Dreck von den Ärmeln und faselte irgendetwas von kriegstraumatisiert.
»Wir sollten uns auch so ’nen Bunker graben, mitten im Mombi«, rief ich ihm zu. Er sah sich nach meinem Bruder um, der am Ende der Baulücke in einem von Holunderbüschen versteckten Holzschuppen verschwunden war, und lief ihm hinterher. Ich strich noch schnell mit der Fußspitze durch den Sand – manchmal fand man etwas, das zu gebrauchen war –, dachte kurz daran, dass ich eigentlich zum Monbijou gewollt hatte, schon rannte ich hinterher.
Der Schuppen war leer, nur eine Plastiktasse voller Kippen stand auf dem Fensterbrett, und eine milchig weiße Mülltüte hing an einem Nagel. Anton hockte am Boden und versuchte, ein Streichholz an einer zerknautschen Schachtel anzuzünden. Als es aufbrannte, sprang ich wie gerufen dazu und zog einen Fetzen Papier aus meiner Hosentasche, wir waren ein geübtes Team. Auch Simon suchte in seinen Taschen, fand aber nichts und kippte stattdessen die Tasse aus; er hielt sie über das brennende Papier, sofort begann das Plastik aufzureißen und zu tropfen. Anton zog aus der Mülltüte einen Einwegteller, von dem noch braune Soße troff, hielt ihn an die Tasse, und das Feuer fraß sich zischend hinein. Im Vergleich zu Papier und trockenem Holz brannte Plastik fast friedlich, die Flammen loderten kaum auf, schimmerten blau oder grün, das Plastik tropfte wie schmelzendes Wachs und qualmte wenig. Als vom Teller fast nichts mehr übrig war, drückte Anton den Rest an die Mülltüte, wo er kleben blieb. Wir sahen zu, wie das Feuer sich ins Innere der Tüte arbeitete, die wie eine Wolke Tropfen aus Plastik zu regnen begann.
Simon begriff als Erster und trotzdem zu spät. Mit seinem Ranzen schlug er die Tüte vom Nagel und versuchte, die Glut auf dem Boden zu zerstreuen, aber die sanften bläulichen Flammen hatten uns getäuscht, jetzt loderten sie auf, drängten die Schuppenwand hinauf, flackerten rot und gelb, und schwarzer Qualm sammelte sich unter der Decke. Keiner sagte ein Wort, starr vor Schreck blickten wir auf die brennende Wand, wo die Flammen wie aus langer Gefangenschaft befreit tanzten, fraßen, lachten. Fassungslos, dass uns die Dinge so schnell entglitten waren, standen wir in der plötzlichen Feuerkammer, aber wir waren Kinder, und eines konnten wir im Notfall immer. Anton rief: »Raus!«, packte mich am Arm, ich stieß Simon an – dann rannten wir.
Spätestens vorm Hedwig-Krankenhaus zwangen wir uns, langsam zu gehen. Wir würgten die Aufregung herunter, steckten die Hände in die Hosentasche und sagten laut Dinge wie: der neue Lehrer, schwierige Hausaufgaben, das anstehende Diktat im Deutschunterricht. In der Deckung der Kindheit, im Schatten der Welt, im trüben Meer des Alltags spazierten wir unerkannt die Große Hamburger hinauf. Niemand bemerkte uns, obwohl wir jeden, der uns entgegenkam, misstrauisch beäugten. Bis wir wieder am Koppenplatz strandeten, ohne Plan. Warum waren wir nicht in Richtung Mombi geflohen, wohin wir ursprünglich gewollt hatten? Anton sagte, er wolle nach Hause. Simon meinte, ihm sei es egal. Ich wollte irgendetwas, aber wusste nicht, was. Da kam die Feuerwehr aus der Linienstraße gebogen, ließ die Sirenen aufheulen und raste an uns vorbei. Uns war klar, dass wir sofort hinterhermussten, das Feuer war unser Werk, und wir wollten wissen, wie es enden würde, nichts wollten wir sehnlicher; keine zehn Minuten waren vorbei, schon waren wir stolz, mit zwei Streichhölzern etwas derart Großartiges vollbracht zu haben, dass die Feuerwehr anrückte. Aber kein Mensch war so leichtsinnig, nicht einmal wir, »wenn’s am schönsten ist, musst du gehen«, sagte Simon, und ich rief: »Pissburg.«
Im Laufschritt machten wir über die Höfe vom Plattenbau an der Linienstraße – Platten standen nie leer, und die zugehörigen Höfe waren in fester Hand der Scharen von Neubaukindern, die keine Fremden wie uns dort sehen wollten –, raus auf die Torstraße, links und wieder rechts, hoch zur Bergstraße auf das Gelände der Pissburg, wie wir’s nannten, am Tag eine waschechte Ritterburg für Kinder, nachts ein Dach über dem Kopf für Aussätzige, Penner, Alkis, wen auch immer, jedenfalls stanken die Gewölbegänge schlimmer als die Löwengehege im Tierpark, das Gleiche galt für den Kopfsteinberg im Monbijou, dessen Tunnel als öffentliches Pissoir und zur Ausnüchterung herhalten musste, ein Problem, das bald schon umstandslos abgeschafft sein würde: Inzwischen sind die Tunnel zugemauert, die Gewölbe der Pissburg mit Gittern verschlossen, gepisst wird woanders, geschlafen auch.
Wir kamen selten in die Bergstraße; sie war nicht weit, doch unser Viertel endete im Grunde an der Torstraße. Außerdem konnten wir uns nie von den dunklen, einladenden Gewölben fernhalten, sodass zu jedem Besuch mindestens ein Gang durch beißenden Harngestank gehörte, was mehr als alles andere die Fantasie, zu der uns dieser Bau ja einladen sollte, abtötete. Über der Pissburg schien auch nie die Sonne, es war immer kalt, und Nieselregen fiel, ein Ort, dem einfach nicht zu helfen war, verflucht und verdammt, einzig der Kindermörder fand dort Ruhe. Wieder hatte es Simon gewusst, woher nur? Vor mehr als zweihundert Jahren hatte genau dort, wo die Pissburg stand, auf einem blutgetränkten Sandhügel der Galgen von Berlin gestanden. Die Aaskrähen, die damals den Gehenkten die Augen ausgepickt hatten, saßen heute in den Ästen der Pappeln und beobachteten die hin und her springenden Augäpfel der kreuz und quer laufenden Kinderlein. Alle paar Monate aber, wie von Zauberhand, begann in meiner Vorstellung die Idee einer echten Ritterburg aus Fels, mit Zinnen, Wehrtürmen, einer Burgmauer und einem Burggraben, wieder zu glänzen, und ich überredete Anton oder Simon zu einem Ausflug oder nutzte einen planlosen Moment, wie an diesem Tag, um uns spontan und ohne Hintergedanken zur Pissburg zu lenken. Etwas hatte ich aus meinen früheren Enttäuschungen aber schon gelernt: Während Simon und Anton die Burgmauer entlangrannten, zwischen den Zinnen herauslugten und mich mit Pfeilen beschossen, schlich ich in einem weiten Bogen um die Burg herum, spähte nur flüchtig und aus den Augenwinkeln zur Pissburg hinüber und gab ihr so die Chance zu halten, was sie versprach.
Hinter der Burg, im Schatten einer mehr als vier Meter hohen, unüberwindbaren Mauer, war etwas Brandneues aufgebaut: eine Art rundes Plateau, blau und riesig im Durchmesser, ein erstes Spielplatz-Highlight der neuen, wiedervereinigten Zeit, das auch schon eine Reihe Neugieriger angelockt hatte, fünf oder sechs Knirpse in grauen Daunenanoraks, die Mützen tief über die Ohren gezogen. Als ich dazukam, wandten sie sich kurz um, sahen mich mit leeren Gesichtern wie ein Haufen seelenloser Zwerge an und kehrten sich wieder der Drehscheibe zu. Sie glotzten stumm zu einer Gestalt hinauf, die sich genau in deren Mitte aufgestellt hatte, ein Junge, unumstritten der Größte hier, die Kapuze eines viel zu weiten Pullovers hing ihm in die Stirn, er gestikulierte wild und gab einen rhythmischen Singsang von sich, Silbenketten, die für mich keinen Sinn ergaben. Vielleicht, rätselte ich, war er so etwas wie ein Amerikaner, was natürlich nur der Anfang eines noch viel merkwürdigeren Rätsels gewesen wäre, aber wie er die Wörter herausschoss, mit viel Wih und Wuh und Jäh, hatte etwas Englisches, zumindest war das mein Eindruck – wenn meine Mutter ihre neueste Lieblingskassette spielte, Tahm Uweits, wie sie sagte, klang das irgendwie ähnlich. Ich schob jedenfalls die Knirpse beiseite, um erst einmal diese blaue Scheibe auszuprobieren und mir diese fabelhafte Gestalt genauer anzusehen, war schon halb draufgestiegen, da sprang sie mir entgegen, schwieg unter Vollspannung und blitzte mich aus schmalen Augen an.
In was für ein Theater er auch immer vertieft war, dieser Mensch wollte offenbar nicht gestört werden. Ich ging ein paar Schritte rückwärts, murmelte etwas wie: »Is ja gut, komm ma runter.«
Er aber, ohne mich nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, hüpfte wie ein Ninja von der Scheibe, trat dann in langen Schritten, seltsam schleichend und leicht humpelnd, auf mich zu und streckte mir seinen Kopf Zentimeter für Zentimeter entgegen, bis der harte Saum seiner Kapuze meine Stirn berührte. Ich hatte absolut keine Ahnung, was er wollte, versuchte nur irgendwie, seinem bohrenden Blick auszuweichen. Nur für einen Augenblick sah ich entgeistert auf.
»Was!«, fauchte er sofort mit messerscharfem S.
Ich schrak zurück, überlegte hektisch, aber wusste einfach nicht, was. Mir dämmerte nur, dass er nicht spielte, sondern es im Gegenteil todernst meinte.
»Was denn«, brachte ich schließlich mit hoher, gequetschter Stimme heraus. Er kam nur noch näher, seine dunkelbraunen Augen wie Pistolenläufe auf mich gerichtet. Sehr langsam schob er seine Hand in die Bauchtasche seines Pullovers, griff etwas und hielt es mir im Pullover versteckt entgegen. Er hob sein Kinn, wischte sich mit der freien Hand über den Mund.
»Ich mach dich Messa«, zischelte er.
Ich war wie verhext, brachte kein Wort über die Lippen und starrte verzweifelt in den grauen Sand zwischen seinen Füßen.
»Was?«, fragte er noch einmal, aus tiefer Kehle gepresst. Da packte mich eine warme, vertraute Hand. Simon riss mich zurück, hinter ihm stand Anton, beide mit Steinen bewaffnet, und Simon, kaum zwei Meter von diesem Typ entfernt, hatte sofort weit ausgeholt, war kurz davor, ihm einen faustgroßen Brocken ins Gesicht zu schleudern. Ich bückte mich, griff Kiesel und Dreck.
Simon schrie: »Häh! Häh!«, und zuckte drohend mit dem Arm. So hatte ich ihn noch nie gesehen, so bereit, unter solcher Spannung, der einzige Gedanke, den er jetzt hatte, war deutlich auf seinen verkrampften Lippen zu lesen: Ich machs, ich machs, ich hau dem die Fresse ein.
In diese Situation platzten die Knirpse, schützend stellten sie sich vor den dämonenhaften Amerikaner, wedelten mit den Armen und begannen zu kreischen: »Lasst den, lasst den, der is behindert, der macht nix.«
Ich sah ihn an, ratlos, diesen Behinderten, er wippte auf der Stelle, rieb sich das Kinn, leckte sich die Lippen, seine Augen funkelten stolz, er war der König dieser Zwergenbande.
Uns blieb nur der Rückzug, wir ließen die Steine fallen. Mit offenem Mund stolperte ich neben Anton her, der mich am Arm hielt. Simon drehte sich immer wieder um und hielt die Fäuste noch lange geballt.
Wir sind dann in einer ausgedehnten Runde über die Invalidenstraße zur Gartenstraße, von dort über den Spielplatz zum Planschi runter auf die Torstraße und zurück in unsere Straßen. Wir redeten nicht viel, und das, was wir sagten, drehte sich im Kreis. Simon sagte: »Krasser Irrer«, Anton: »So ein Pisser«, und ich: »So eine Scheiße.« Der abgefackelte Schuppen war schon vergessen, und der Irre mit dem Messer war als Nächstes dran. Dreimal mit dem Kopf geschüttelt, und der Tag ging wieder von vorne los. Als wir vor Simons Haus ankamen, hielt er uns die Tür so schwungvoll auf, als wäre auch sein Treppenhaus nur eine weitere Straße, in die wir genauso ziellos erwartungsvoll einbiegen würden, wie wir unser gesamtes Viertel durchstreiften. Ich spuckte zum Hoffenster hinaus, Anton zog mit seinem Schlüssel eine helle Linie die Wand entlang. Einer der Hausbewohner, ein Bürokratenmann, grauer als die grauen Herren, kam uns entgegen, aber grüßte nicht.
Als wir oben waren, die Tür hinter uns ins Schloss fiel und nach dem Krach Stille eintrat, fiel mir die Schildkröte ein. Ich zerrte Simon am Ärmel, schrie ihn laut, wahrscheinlich viel zu laut, an: »Die Schildkröte!«
Aus dem Bad rief mein Bruder, der an der Kloschüssel stand: »Schildkröte?«
Simon zuckte mit den Mundwinkeln. Er hasste die Aufregung, ich sah es in seinen Augen. Gleichzeitig, auch das war leicht zu erkennen, kam er ins Grübeln: Schildkröte, ja, da war eine Schildkröte, was ist eigentlich mit der Schildkröte passiert, was … Offensichtlich hatte er sie seit dem Abend, an dem ich sie zwischen den Kissen ausgesetzt hatte, nie wieder gesehen. Haustiere verschwanden eben, so war der Lauf der Welt. Auf die Idee, dass es möglicherweise unsere Eltern waren, die die einmal angeschafften Tiere, um die sich dann niemand kümmern wollte und die in ihren Käfigen zu verwahrlosen drohten, wieder verschwinden ließen, sie zurück in die Zoohandlungen brachten oder, falls doch einmal ein Tier gestorben war, den Kadaver, bevor es einer von uns bemerken konnte, in die Mülltonne warfen, um sich untröstliche Traurigkeit, erbettelten Neukauf oder Tierbestattungen im Hinterhof zu ersparen, wäre ich nie gekommen. Ich lebte mit der Lücke, die das spurlose Verschwinden all der Hamster, Fische, Ratten, Mäuse in die Welt riss. Wenn ich am Abend nicht schlafen konnte und mir die Müdigkeit nur gemächlich in die Gedanken einsickerte, kam es vor, dass ich abdriftete und durch diese Lücke glitt, hinüber in die verborgenen Räume zwischen den Wänden und Böden. Dann starrte ich ins dunkle Zimmer, das plötzlich um ein Vielfaches größer erschien, oder auf die nachtschwarzen Fensterscheiben, durch die ich nur immer tiefer ins Erdreich kroch, und hatte das sichere Gefühl, auf diese andere Seite zu gehören.
In der Küche fand Simon neben dem Napf fürs Katzenfutter eine Bananenkiste, in der Reste eines Salatkopfes gammelten. Er summte nachdenklich, wackelte mit dem Unterkiefer, dann schlich er leicht gebeugt den Flur hinunter ins Schlafzimmer seiner Eltern und ließ uns allein.
Ich hob den Deckel von einem Topf, der einsam auf dem Herd stand, fand Kartoffeln, nahm mir eine und aß sie wie einen Apfel. Mein Bruder beobachtete mich im Garderobenspiegel. Er kniff die Augenbrauen zusammen, aber ich schüttelte den Kopf.
»Die Letzte«, sagte ich und ging auf ihn zu.
Er starrte mich an, bis ich hinter ihm verschwand. Langsam schob ich meinen Kopf über seine linke Schulter, als würde ihm sein Kopf ein zweites Mal wachsen. Ich riss den Mund auf und schlackerte mit der Zunge, pendelte auf die andere Seite, zog eine Grimasse, hin und her, weinte über der linken Schulter, brüllte über der rechten, lächelte dümmlich über der linken, biss mir auf die Zunge über der rechten. Bis mir nichts mehr einfiel und ich stillhielt. Ich drückte meine Nase gegen seinen Hinterkopf, seine Haare kitzelten, sie rochen nach feuchter Luft.
»Einer lässt sich einen Igel schneiden, du oder ich, ganz egal, du kannst entscheiden.«
Mein Bruder bog den Kopf zur Seite, »dann du«, sagte er, ging an mir vorbei in die Küche und fischte sich eine Kartoffel aus dem Topf. Im Spiegel sah ich sein ausdrucksloses Gesicht, keine Überraschung, kein Lächeln, es war völlig normal, dass er wusste, wann ich log.
»Was ist nun?«, rief ich in die Wohnung und lauschte, aber nicht ein Geräusch und keine Antwort. Anton legte sich auf die Eckbank am Küchentisch, die angewinkelten Knie ragten über die Lehne hinaus.
»Simon«, rief ich noch einmal, wie einen Fluch, ohne etwas zu erwarten, und lief unentschlossen ins Bad. Aus dem Haufen an Zeitungen, Zetteln und grauen Reclamheften, der über das Fensterbrett verstreut lag, zog ich ein Comicheft und legte mich in die leere, vergilbte Badewanne, deren Kälte mir sofort unter die Haut fuhr. Ich lehnte den Kopf weit zurück, bis mein Mund offen stand. Direkt über meinen Augenbrauen sah ich einen Streifen eisiges Himmelblau, und mir war, als wehten Schneeflocken durch die klare Luft. Und die Dachpappe der Dächer war schwarz wie die Briketts, die unser Vater im Winter in schweren Eimern durch die Wohnung schleppte. Der Geruch von Kohle und Asche kroch mir aus dem Gedächtnis in die Nase, und ich konnte hören, wie mein Vater die zerbeulten Kohleneimer aufs Ofenblech knallen ließ.
»Platz da«, keuchte er und verscheuchte uns, wenn wir die Rotzfahnen der Nacht über dem Aschekasten verbrannten: Einer zündelte von unten, während der andere ein Taschentuch an zwei Fingern hielt und es erst im letzten Augenblick, wenn die Flammen schon die Fingerspitzen streiften, fallen ließ. Unser Vater in seinem kohlenschwarzen Bademantel, seinem Heizermantel, wie er sagte, zog sich den Hocker unter den Hintern, seinen Heizerhocker – an jedem Ofen der Wohnung hatte er einen platziert, der nie und nimmer verrückt werden durfte –, und begann das Feuer zu bauen. Unter der Woche die schnelle Variante: zuerst der schon brennende schneeweiße Kohlenanzünder, ein ordentliches Stück, dann zerknüllte Zeitung und Pappe, eine Handvoll dünne Holzscheite drauf, zuletzt dicht geschichtet die Briketts. Am Wochenende die elegantere Methode: ohne Kohlenanzünder, nur Papier, etwas Pappe, etwas mehr vom Holz, mit einem einzigen Streichholz anzünden, was selten klappte, und erst wenn es sicher brannte, die Kohlen behutsam aufs Feuer schichten. Wir knieten neben ihm und guckten ins Ofenloch, während er jeden Handgriff mit ein zwei Worten benannte, immer wieder, sein tägliches Heizergespräch, wie wir es am Küchentisch tauften. Und trotzdem hatte er nie die Geduld, es uns richtig zu erklären, das heißt, uns das Feuer machen zu lassen. Selbst als wir, auch in seinen Augen, alt genug waren, ließ er uns nicht ran, winkte ab und zog sich seine löchrigen Heizerhandschuhe über. War das Feuer in Gang gekommen, tappte er ins Bad, und kurz darauf drang sein überrascht-erleichtertes Aufseufzen durch den Flur – zu jeder Erkältung, jeder Schwäche, jedem Anflug von Müdigkeit war alles, was er für die Zukunft empfehlen konnte: kalter Guss am Morgen. Dieser Vater, der Wintervater, der Heizer, verschwand vom Erdboden, als es mit der Jahrtausendwende in die kernsanierte Umsetzwohnung in der Krausnickstraße ging. Seitdem steht er nach der kalten Dusche am offenen Fenster, blickt über die Dächer hinweg zum Fernsehturm und beginnt den Tag mit seinen Atemübungen. Zum Abschluss wirft er sich einen neuen, blütenweißen Bademantel über, schließt das Fenster und dreht zu guter Letzt am Regler der Heizung, am Knauf, wie er ab und zu kopfschüttelnd vor sich hin spricht – es muss wohl in tiefen Ostzeiten eine weitverbreitete Marotte gewesen sein, noch den armseligsten Dingen Namen zu geben, die irgendwie raunten und es schafften, inmitten der allgemeinen Tristesse von Beschäftigungen wie Heizen und Kohlenholen eine Art bedeutungsvollen Klang heraufzubeschwören. Mitunter konnte diese Benennungsmanie auch den Charakter von Galgenhumor annehmen, etwa wenn die Mauer, auf die man durchs Abteilfenster zu glotzen hatte, sollte der Zug mal wieder auf unbestimmte Zeit kurz vorm Leipziger Kopfbahnhof zum Stehen kommen, auf Klagemauer getauft wurde oder ein trostloses Neubaugebiet am Rande einer sächsischen Kleinstadt den Spitznamen Golanhöhen abbekam. In den wiedervereinigten Zeiten gingen diese Namen dann zwischen den marktschreierischen Oberflächen der Werbeplakate und den verheißungsvollen Schriftzügen der Markenlogos verloren, und neue kamen keine mehr hinzu.
Sobald der Ofen durch war, wurde das Feuer hinter den schweren gusseisernen Ofenklappen verschlossen. Der Augenblick musste gut abgepasst werden, nicht zu früh, sonst gaste der Ofen, nicht zu spät, sonst gab die Glut nichts her. In mehreren Runden prüfte mein Vater die fünf Berliner Kachelöfen, die er jeden Morgen und an den sibirisch kalten Wintertagen auch abends heizte. Am Wochenende, wenn das Frühstück ins Mittagessen überging und meine Eltern die einzelnen Teile der Zeitung hin und her tauschten, konnte es passieren, dass er plötzlich vom Tisch aufsprang, »Die Öfen!«, rief und losrannte. Während meine Mutter sich bei der Zeitungslektüre nicht stören ließ, horchte ich auf das Klacken der Ofentüren, das Quietschen der Schraubverschlüsse und schaute meinen Vater sorgenvoll an, wenn er zurück in die Küche trat.
Alles noch gut, beruhigte er mich und nahm wieder Platz.
Manchmal aber öffneten mein Bruder und ich heimlich die Ofenkammern wieder. Sobald der Luftzug erwachte, erwachte auch das Feuer; ein wildes, flackerndes Rauschen setzte ein, die Glut leuchtete auf, Funken schossen. Es waren winzige Höllenräume, über die mein Vater herrschte, abtrünniger Katholik, der er war, vielleicht bereitete es ihm ein besonderes Vergnügen, jeden Morgen aufs Neue ihr Fegefeuer zu ersticken. Wir im Gegenteil machten es uns zum Verbündeten. Für viele kleine Verbrecher, Legomännchen, verräterische Schlümpfe, eine mordende Barbiepuppe – die Westtante aus dem Norden hatte uns kistenweiße mit dem angesammelten Spielzeug ihrer erwachsenen Söhne versorgt –, endete das Spiel mit dem Feuertod. Auch der Kindermörder, vor dem Ende der Achtziger eindringlich in den Schulen gewarnt wurde – es hieß, dass einer umging und Kinder in verwaiste Keller lockte –, zerschmolz mehrere Male auf dem Glutberg im Kinderzimmerofen. Es war eine Zeit, die ihre ganz eigenen Gruselgeschichten hervorgebracht hatte. Vom Niemandsland war die Rede, vom Todesstreifen wurde geflüstert. Es half nichts: Wieder waren zwei im Tunnel, den sie über Monate eigenhändig gegraben hatten, damit er sie in die bessere Welt führen würde, verschüttgegangen; damals gab es das wohl: eine bessere Welt gleich nebenan.
Eine Zeit lang war mein Bruder von der Idee besessen, dass unsere Eltern von einem Tag auf den anderen fort sein könnten. Irgendwo hatte er aufgeschnappt, dass Eltern ihre Koffer packten, um ins Nachbarland zu fliehen, und die Kinder wie das alte, armselige Leben zurückließen. Unbelehrbar wachte er darüber, dass unsere Eltern nicht heimlich die Wanderrucksäcke vom Wäscheschrank holten, schreckte nachts aus dem Schlaf auf, rannte heulend an ihr Bett und warf sich auf sie. Heulend rannte ich hinterher, sofort angesteckt von seiner Angst. Minuten konnten vergehen, bis er sich beruhigen ließ und ihnen glaubte, dass sie noch da waren und es auch bleiben würden.
Wenn Freunde meiner Eltern bei uns am Küchentisch von ihren Beutezügen durch verlassene Wohnungen schwärmten, wenn sie erzählten und erdichteten, lauschte ich völlig in Bann geschlagen von diesen Wunderlandgeschichten. Wer Fuß in eine unentdeckte Wohnung setzte, die noch nicht von Plünderei und Verwüstung entweiht war, musste auf gespenstische Szenen gefasst sein: das Geschirr einer Mahlzeit – der letzten –, unberührt seit Monaten auf dem Esstisch oder eine Badewanne noch randvoll mit trübem Seifenwasser, auf dem Grund ruhte ein Toter, wie sie witzelten. Die Fundstücke wurden wie Jagdtrophäen aufgezählt: ein Wandspiegel, Kristallgläser, eine Marmorplatte oder ein noch funktionierender Radiowecker. Bis in meine Träume verfolgte mich der Wunsch, bei einem dieser Streifzüge dabei zu sein. Als ich einmal spät noch auf ein Glas Wasser in die Küche kam und nur einen müden Moment lang hören durfte, wie wieder von abenteuerlichen Eroberungen berichtet wurde, als meine Mutter schon aufgesprungen war, um mich zurück ins Bett zu scheuchen, bettelte ich: »Ich will auch mal klauen gehen!« – augenblicklich erstarrten ihre Gesichter, und sie bekamen kein Wort mehr über die Lippen, diese wunderlichen Erwachsenen, die da durchs Leben meiner Eltern geisterten.
Mit einem Ruck richtete ich mich in der Badewanne auf und rieb mir die Gänsehaut von den Armen. Wir mussten raus, raus aufs Dach, nur die Abendsonne und die vom Tag aufgeheizte Dachpappe konnten mir diese Winterahnungen aus den Adern treiben. Ich wollte schon aufspringen, bestimmen, anführen, da kam Simon herein, setzte sich wortlos aufs Klo und starrte angespannt vor sich hin, als hätte er mich überhaupt nicht bemerkt.
»Und?«, fragte ich.
Er hob den Kopf, sah mich durch zusammengekniffene Augen wie eine Zielscheibe an.
»Weg, keine Ahnung«, antwortete er, griff hinter sich nach der Spülkette und riss sie herunter, als würde er mehr als nur eine Pfütze Urin wegspülen.
Wir lauschten auf das Rauschen, auf das Gurgeln, das sich allmählich beruhigte, und zum Schluss auf die Stille. Es hätte niemanden überrascht, wenn in diesem Augenblick die Schildkröte hereingeschlichen wäre und ihre Krallen übers Linoleum geklackert wären.
»Ich glaub, ich geh jetzt«, sagte Anton, der im Türrahmen lehnte und zu uns hinabsah. Ich blinzelte ihn an und fragte mich, wohin er gehen wollte. Wir wollten doch aufs Dach, dachte ich.
»Bis nachher«, sagte er in meine Richtung, und ich antwortete mit einem lang gezogenen »Ja«.
Simon stand auf und lief Anton hinterher zur Tür, die kurz darauf so gewaltig ins Schloss krachte, dass die Wände zitterten – wie schön die Türen doch krachten, als wir sie noch krachen ließen. Simons nackte Füße tapsten erst über die Dielen, dann etwas lauter über das Linoleum zurück, bis er auf der Türschwelle stand und unentschieden über mich hinweg zum Fenster hinaussah.
»Ihr habt doch eine Haarschneidemaschine«, sagte ich.
»Aber wo …«, antwortete er.
Und wieder ging die Suche los. Er war unermüdlich, kaum hatte er die Schildkröte aufgegeben, hockte er an den unteren Schubladen des Wäscheschranks und kramte.
Ich zog mein T-Shirt aus, setzte mich auf den Badewannenrand. Auf dem Sims der Holzverkleidung sammelten sich Flakons, Flaschen mit Öl, ein weißer Kristall, Rasierpinsel, alles überzogen von einem Film aus Feuchtigkeit, Fett und schwarzen Staubpartikeln.
»He«, rief Simon, der Rasierer vibrierte in seiner Hand. Er setzte an seiner Stirn an und mähte sich einmal längs über den Kopf.
»Falls es bei dir dann scheiße aussieht, muss ich auch«, sagte er, trat hinter mich und begann zu arbeiten, die Lippen aufeinandergepresst und ohne ein weiteres Wort. Die Maschine surrte, blonde Strähnen fielen wie Späne, Härchen flimmerten in der Luft. Ich wurde entstaubt, meine Kopfhaut atmete auf. Kurz darauf stand ich hinter Simon, der es kaum erwarten konnte, selbst an der Reihe zu sein.
Der Wind riss uns die Haare aus den offenen Händen.
»Asche zu Asche«, sagte Simon, und wir lachten über die Menschen, die sie angewidert aus ihrem Kaffee oder ihrer Apfelschorle ziehen, sie einatmen würden, ohne es zu bemerken, vielleicht würde Streit ausbrechen, wenn jemand ein rötliches Haar zum Fenster hereingeweht auf einem frisch aufgeschüttelten Kopfkissen finden würde. Wir rieben uns die kahlen, elektrisierten Köpfe. Was ging uns das Treiben da unten an, wir hatten schon in Apfelsaftflaschen gepinkelt und versucht, sie an den Erstbesten zu verkaufen. Zuletzt zündeten wir Taschentücher über einem Schornstein an, die aufloderten wie wehende Fahnen.