Eines Nachmittags explodierte ein Auto am Straßenrand vor dem Tor unserer ehemaligen Grundschule. Hinter der Absperrung, aber in erster Reihe hatten wir beobachtet, wie der Kofferraum vorsichtig mit großen, prall gefüllten Beuteln beladen worden war, Benzin oder eine Art Sand-Benzin-Gemisch, wie wir vermuteten. Von da an war eine prickelnde Nervosität in die Körper gekrochen; Anton und ich reckten und reckten die Köpfe, obwohl wir gute Sicht hatten, die Menge um uns war stiller geworden, auch das Filmteam arbeitete jetzt leise und hektisch in großem Sicherheitsabstand. Jedes laute Wort klang in dieser allgemeinen Anspannung wie eine Warnung und ließ uns zusammenzucken. Wir bewegten uns kaum mehr, starrten nur mit trockenen Augen in Richtung des Autos. Je länger es dauerte, desto stärker wuchs sich die Spannung zu einer kurzatmigen Lähmung aus, und es dauerte und dauerte, aber da wir nichts taten, nur unbestimmt auf den Knall und das Feuerwerk warteten, verging die Zeit wie ein einziger, sich ewig hinziehender Augenblick. Als es plötzlich »Achtung« hieß, von einem unscheinbaren Männlein durchs Megafon gerufen, und der Polizist uns bat, noch fünf weitere Meter zurückzutreten, wären wir beinahe umgefallen wie Holzfiguren.

»Was wird denn jetzt?«, fragte Anton.

»Keine Ahnung, es wird schon gleich«, antwortete ich.

Wieder rief das Männlein Anweisungen durch sein Megafon, die anscheinend nur für Filmleute verständlich waren; überall um uns flüsterten die Leute: Was, was? Was hat der gesagt? Antworten hörte ich keine. Niemand schien zu wissen, was genau vor sich ging. Simon fehlte. Er hätte uns den Verlauf so einer gut geplanten Explosion mit Sicherheit erklären können, hätte vom Sprengmeister und der anzunehmenden Druckwelle gefaselt, vor allem hätte er uns sagen können, wie lange wir noch warten müssten. Vielleicht würde er zufällig zu uns stoßen – wenn er von der Schule nach Hause lief, müsste er eigentlich hier vorbeikommen, überlegte ich. Hätte ich schon ein Handy besessen, hätte ich natürlich angerufen und ihm ins Ohr geschmettert: Unbedingt herkommen, zum Koppenplatz, schnell, gleich knallts hier, und dann wäre er, egal, wo er gerade war, losgerannt. Hätte ich damals schon ein Handy gehabt, so ein Smartphone mit all den unbegrenzten Möglichkeiten, hätte ich ihm während des Unterrichts, wenn mich der Lehrer mit seinen Ausführungen bis zum Platzen langweilte, Nachrichten, Fotos, Filmchen schicken können, es wäre herrlich gewesen, als hätte er die Schule nie gewechselt. Aber so, ohne diese raumtrotzenden Kommunikationsgeräte, blieb Simon so lange verschwunden, bis ich ihn von zu Hause aus anrief und wir uns verabredeten.

»Ich geh jetzt, is mir egal«, sagte Anton und meinte es, glaubte ich, ernst.

»Bist du verrückt«, war alles, was ich da erwidern konnte.

Kaum hatte er sich umgedreht, tönte ein weiterer dieser rätselhaften Geheimcodes über den Platz und machte es ihm unmöglich, sich endgültig loszureißen. Ein in Schutzkleidung vermummter Mensch lief an den Kofferraum, beugte sich über die Zündvorrichtung, worüber sonst?, klappte dann die Kofferraumtür vorsichtig herunter und zog sich Schritt für Schritt zurück.

Wieder hieß es: »Achtung!«

Eine atemlose Stille setzte ein, in die nur ein paar nichts ahnende Vögel hineinzwitscherten. Hinter geschlossenen Lippen begann ich leise, den Countdown zu zählen:

Zehn

Neun

Acht

Sieben

Sechs

Fünf

Vier

Drei …

Es krachte, die Kofferraum- und Seitentüren flogen auf, ein Feuerball rauschte über dem Auto in die Höhe, verlor sich in einer Wolke pechschwarzen Qualms, ich spürte Hitze auf dem Gesicht und ein wunderbares Prickeln im Körper. Begeistert blickte ich zu Anton, der mit seligem Gesichtsausdruck den Rauchschwaden hinterhersah. Die Leute raunten Ahs und Ohs, nur die Vögel waren jetzt still. Zwei oder drei Sekunden hielt sich diese allgemeine Sprachlosigkeit, dann hieß es von den Ersten: »Na, da hat sich das Warten doch gelohnt«, und sie drängten aus der Menge heraus, um schleunigst weiterzukommen.

Immer wieder sah ich den Feuerball aufsteigen, wieder und wieder, während sich das Stück Himmel über uns dunkelgrau färbte.

»Toll«, sagte Anton.

»Buuum«, sagte ich und ließ das B zwischen meinen Lippen explodieren, sogar Speichel spritzte, wie Funkenflug oder die Scherben der zerborstenen Seitenfenster, dachte ich und wollte es gerade noch einmal versuchen, lauter und mit noch mehr Schwung.

»Was machst du jetzt?«, fragte Anton da.

Ich blickte ihn an und verstand erst nicht, was seine Frage bedeuten sollte, ahnte aber, dass sie etwas bedeutete.

Ich nuschelte etwas von Bei-Simon-Vorbeigehen.

»Okay«, sagte Anton und nickte, »dann sehen wir uns heute Abend. Ich geh noch mal zum Kolle, gucken, wer da so ist.«

»Gut, tschüss«, antwortete ich.

»Is ok, oder?«, fragte er noch mal, aber was sollte ich sagen: »Ja, ja, klar, bis später.«

Über dem Tacheles, das am Ende der Auguststraße als schwarzer Koloss zu erkennen war, stand die Sonne hinter einer kompakten Wolkenformation und blendete kaum. Ich öffnete die Augen weit, ohne zu blinzeln und mit offenem Mund, betrachtete sie, als könnte ich diese von Sonne durchschienene Zuckerwatte vom Himmel herunteratmen, sie einsaugen wie eine Art Extranahrung auf reiner Solarenergiebasis, um so die Leere zu füllen, die plötzlich da war, nach der Explosion, nach diesem ekstatischen Moment der Euphorie, der aber folgenlos verstrichen war und nichts außer einem Gefühl von Ziellosigkeit oder Beliebigkeit oder Bedeutungslosigkeit oder Ausweglosigkeit zurückgelassen hatte. Oder lag es an meinem Bruder, an Anton, an der Möglichkeit, dass er die ganze Zeit über ungeduldig darauf gewartet haben könnte, endlich allein loszuziehen, auf den Prenzlauer Berg, wohin es mich nie und nimmer verschlagen hätte. Ich fraß mich satt an dieser Wolke, starrte ins Licht, bis alles um mich herum nur noch unscharf zu erkennen war, dann tauchte ich ab ins Dunkel, ins Unkraut, in den Wildwuchs, der in jeder Baulücke, auf jeder Brache, an jedem freien Fleck so fröhlich gedieh, zwängte mich zwischen Holunderbüschen hindurch, mit jedem Schritt hüfthohe Brennnesseln niedertretend. Zuletzt zog ich mich die Mauer zu Simons Hinterhof hinauf, wo ich rittlings sitzen blieb, an diesem vermeintlich sicheren, erhöhten Punkt.

In Geschichten gab es Wesen, die an genau solchen Orten wohnten, im Abseits der Häuser, auf Mauern, in Ecken, in Nischen, wo sich entgegen aller architektonischen Wahrscheinlichkeit doch noch eine unscheinbare Tür befand. Und unbelehrbar, wie ich war, überkam mich an solchen Orten immer wieder die irrige Hoffnung, einmal einer solchen Existenz zu begegnen. Leise würde sie mich mit meinem Namen ansprechen, ich würde mich erschrocken umwenden, diese tief gebeugte Person mustern, ihr hintergründiges Lächeln nicht verstehen und ihre Einladung auf einen Tee in ihrer weltabgewandten Behausung mit voller Hingabe annehmen. Es war zum Verrücktwerden. Das Einzige, was einem hier begegnete, war das aufdringliche Glotzen der Hinterhoffenster. Misstrauisch beäugten sie mich wie ein Publikum alt gewordener, verbitterter Menschen, die schon alles gesehen haben und nichts mehr erwarten außer Krankheit, Schmerzen und Tod und dann doch überrascht sind, seit Jahren mal wieder eine junge Stimme zu hören oder ein junges Gesicht zu sehen. Im Winter hatte ich auf Wunsch meiner Mutter bei einem Benefizkonzert in einem Altenheim ein Weihnachtslied vorgetragen, seitdem begegnete ich den leblos blickenden Augen dieser grauen Menschenmasse nicht nur im Traum, sondern überall, wo mein Viertel sich fast genüsslich dem eigenen Verfall hinzugeben schien. Einige Fenster standen offen, und ich konnte metertief in die Räume hineinsehen, andere waren mit weißen Bettlaken verhangen, ein Fenster war mit Zeitung zugeklebt, wahrscheinlich ein Badfenster, und eine ganze Reihe von Fenstern war so stark mit Ruß und Staub bedeckt, dass sie undurchdringlicher wirkten als die mit Dreck verputzte Außenwand, die sie umgab.

Als sich in einem der unteren Fenster ein Spalt zwischen geklöppelten Gardinen auftat und sich das fahle Gesicht eines Erdgeschösslers an die Scheibe schob, ließ ich mich in den Hof hinab und schlich schnell wie ein Schatten ins Treppenhaus.

Ich überlegte noch, zuerst unten zu klingeln, rannte aber gleich los, mit großen Schritten in den Strudel des Treppenhauses hinein. Oben angekommen, hätte ich keine weitere Stufe mehr geschafft. Ich lehnte mich mit dem Daumen gegen die Klingel, hörte sie im Inneren der Wohnung läuten, aber kein Geräusch, keine Schritte antworteten, und ich klingelte, bis ich wieder vollends bei Atem war. Niemand war da. Unschlüssig stand ich vor der verschlossenen Tür, die wunderschön war, prächtig geschmückt mit Schnitzereien, aber in einem dunklen Braunton dick zugekleistert, als hätte sich jemand für die protzige Eingangstür geschämt. Ich strich den Staub aus den Rillen einer in sich verdrehten Ziersäule und schmierte ihn an meiner Hose ab.

Gut, dachte ich, sehen wir mal, ob oben offen ist.

Und oben war offen, ich drückte die Klinke der Dachbodentür hinunter und schob mich in den schummrigen Raum, sah mich nur kurz um, trat schon an die Leiter, um weiter hinaufzuklettern. Die Dachluke war nur mit ganzer Kraft zu bewegen, ich musste meine Schultern, meinen Nacken dagegendrücken, wie einen riesigen Felsen hob ich sie ächzend weg.

Hier war nie etwas los. An windgeschützten Stellen lagen zwar vereinzelt Matratzen herum – auf den Dächern zwischen August- und Torstraße gab es sogar ein Sofa, das irgendein willensstarker Sonnenanbeter durch eine der schmalen Dachluken gehievt hatte –, trotzdem war mir hier noch nie jemand über den Weg gelaufen.

Ich ging ein paar Flachdächer weiter, setzte mich auf eine niedrige Mauer und atmete die heiße Luft ein, die vom teerigen Duft der Dachpappe erfüllt war.

Wir kamen jetzt öfter her, nicht mehr, um im Höhentaumel begeistert herumzuklettern, meistens kamen wir, um abzuhängen, abzulästern, stundenlang herumzuwitzeln, manchmal ruhten wir einfach aus, wurden still und starrten in den Himmel. Es war wie an einem Strand hier oben, ein schwarzer, windstiller Strand, und das Meer war die Tiefe der Straße, sein Rauschen erreichte uns vom Asphalt her geradeso. Ich zog mir mein T-Shirt über den Kopf, stellte mich an einen niedrigen Schornstein und pinkelte ins Dunkel. Dann lief ich, das T-Shirt in den Nacken geschoben, zu einem zwischen Hauswänden versteckten Flecken, wo es Matratzen gab, Aschenbecher und leere Flaschen verstreut waren, selbst Bücher und Zeitschriften hingen in einem Plastiksack an einer verbogenen Antenne. Die Sonne schien auf meinen blassen Bauch und würde mich schnell verbrennen, morgen wäre ich dann braun wie ein Weltenbummler, hoffte ich. Ich breitete mein T-Shirt auf einer Matratze aus, die kaum löchrig, kaum verfault und nur wenig schwarz von getrocknetem Schimmel war, legte mich darauf, auf dieses wunderbare Vagabundenlager, und musste sofort die Augen zusammenkneifen. Die Sonne stand schon tief, und trotzdem ließ sie den Himmel noch blendend hell, in einem warmen, entrückenden Blauton erstrahlen.

Auf den Dächern konnte ich träumen, ohne zu schlafen. Die Explosion des Autos am Straßenrand, der Weg zu Simon unter einer verborgenen Sonne, das Kreiseln des Aufstiegs in die staubige, trübe Luft der oberen Stockwerke. Wir bewegten uns auf die Endzeit zu, hieß es neuerdings, das eintausendneunhundertundneunundneunzigste Jahr, in dem die auf dem Kopf stehende dreifache Sechs wie ein Zeichen diabolischer Vorfreude verborgen war, vor allem aber das von Gerüchten umwobene zweitausendste Jahr rückte näher. Und obwohl wir im Grunde sicher waren, dass auch diese Jahreswechsel wie alle anderen nichts Außerordentliches heraufbeschwören würden, liebten wir doch den Grusel der Maya-Prophezeiungen, den Grusel der Warnrufe vor einem globalen Systemabsturz, liebten die kitzelnde Angst vor dem Ende des alten und dem Beginn des neuen Jahrtausends. Selbst Simon, der jede esoterische Verlockung, ohne mit der Wimper zu zucken, als Blödsinn abtat, malte sich mit freudefunkelnden Augen das postapokalyptische Chaos aus, das wir wie die ersten Menschen durchstreifen würden, auf der Suche nach Essbarem, Kleidung und anderen Überlebenden.

Ich stützte mich auf die Ellenbogen, sah mich um, Bier- und Weinflaschen, abgebrannte Streichhölzer, Zigarettendreck, eine gammlige Unterlage, auf der ich beinahe eingeschlafen war. Ich stand auf, blickte über das Land der Dachpappe, über unsichtbare Straßenschluchten hinweg, am Horizont fraß sich ein glühendes Rot in den Himmel. Vielleicht war es längst so weit, die Apokalypse hatte stattgefunden, im Inferno der Weltkriege, und wir suchten in den Überbleibseln der Zerstörung nach Essbarem, Kleidung und anderen Überlebenden; das war es doch im Grunde, was wir tagtäglich erreichen wollten: so gut wie möglich gekleidet zu sein, Frühstück, Mittag, Abendbrot im Bauch, zwischendurch Kleinigkeiten, und mit denen lachen, mit denen wir in dieser Stadt zusammenlebten. Oder die Apokalypse war gar keine alles verschlingende Katastrophe, sondern ereignete sich peu à peu, seit Langem schon und immer noch, auch jetzt, während ich auf den Dächern war, ereignete sich in friedlicher Zeitlupe, von den Menschen übersehen oder willentlich ignoriert, eine unmerkliche Verschmutzung oder ein unaufhörliches Artensterben, Arten, von denen wir nicht einmal wussten, dass sie existierten, die noch keinen Namen von den Menschen erhalten hatten, und das Ozonloch, das irgendwo über Australien klaffte, riss weiter und weiter auf. Endzeitstimmung wehte über die schwarze Ebene, lebte im Geruch vom schmelzenden Teer und im leisen Rascheln von Müll, den der Wind in windgeschützten Ecken liegen ließ. Ich lief ein paar Schritte, hob ein Weinglas auf, ließ es in einen Schornstein fallen, lauschte auf ein Klirren, irgendein Geräusch, aber nichts, kein Krach, kein Echo, irgendwo dort unten war es zerschellt oder stürzte und stürzte. Ich wischte mir den Schweiß von der Oberlippe, trat so nah an den Dachrand, dass mir schwindelte. Um dort runterzukommen, müsste ich Leitern und Treppen steigen, Stufe für Stufe hinab, bis ich geläutert von den Träumen der Dachpappe zurück in diese fertiggestellte Welt treten würde, die nichts anderes zu beabsichtigten schien, als ihren eigenen Fortbestand zu sichern. Ich konnte mich nicht fallen lassen, um im eleganten Bogen wie eine Taube, eine Elster oder ein anderer Großstadtvogel wieder aufzusteigen. Stattdessen sammelte ich Speichel unterm Gaumen, holte Luft, bis mir Brust und Bauch spannten, und spuckte aus, mit Schwung aus dem Oberkörper heraus, in einem weiten, trotzigen Bogen, jedoch ohne Verachtung und ohne auch nur ein einsames Köpfchen dort unten treffen zu wollen, aber ich stellte mir vor, wie mein eigener, im Sturz zu tausend Bläschen zerstäubender Speichel später, wenn ich zurück auf die Straße treten würde, mein Gesicht benetzen und mir den Geist der Dachpappe wieder klar und deutlich ins Bewusstsein rufen würde.

Ich machte mich an den Abstieg, sah, als ich schon auf der Leiter stand, noch einmal in die untergehende Sonne, sie würde verschwunden sein, wenn ich unten angekommen wäre, und zerrte die Dachluke zurück über die Öffnung.

Während ich die Treppen hinablief, träge und abwesend wie ein Schlafwandler, nahm ich doch das Geräusch der Schritte wahr, das sich mir langsam und zögerlich näherte. Zwei Stockwerke tiefer stand Simon am Fenster und blickte in den Hinterhof.

»Da bist du ja«, sagte ich.

»Und du? Ist keiner da?«

»Nein, keiner, ich war oben.«

»Gut, gut, lass uns wieder hochgehen, ich zeig dir was.«

Simon hob eine Matratze an, zog einige Kerzen hervor, stopfte sie in Flaschenhälse und zündete sie an. Dann öffnete er seinen Rucksack, griff hinein und holte nacheinander eine Packung Twix, Snickers und Mars, je zwei Tüten Colorado und Tropic Fruits, eine ungarische Salami und drei Büchsen Cola hervor. Er strahlte mich an, guckte dann genauer, fragte: »Was bist du denn so rot?«

»War halt lange hier oben«, antwortete ich.

Simon schob die Unterlippe vor, brummte zustimmend, dann widmete er sich wieder dem Haufen an Süßigkeiten, als wäre alles gesagt. Er stapelte die Riegel übereinander, roch an seiner Salami, wahrscheinlich hielt er sich ein Geheimversteck und hortete Vorräte, dachte ich und dachte auch, dass Simon hier oben womöglich ganze Nächte verbrachte und dass er es war, der die Zeitschriften und Bücher regensicher an die Antenne gehängt hatte. Im Schein der Kerzen, vor dem sich verfinsternden Hintergrund der Dämmerung, war sein Gesicht von Schatten durchzogen, und als er zu mir herübersah, mir eine Cola-Büchse hinhielt, schienen seine Augenbrauen gewachsen zu sein, dicht und buschig.

»Wir klauen jetzt richtig, in der Ackerhalle, gehen einfach mit Rucksäcken durch die Regale und dann hinten wieder raus.«

Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen; ich blickte auf seinen Mund, während er erzählte, über seiner Oberlippe wuchsen Haare, dunkelbraune Haare. Ich versuchte, nur seine Worte zu hören und die Begeisterung und dieses Wir an mir vorbeirauschen zu lassen.

»Heute haben sie mich erwischt, haben mich sogar mitgenommen in die Wache an der Brunnenstraße, wollten nur Mist von mir wissen. Nächste Woche muss ich mit meinen Eltern wiederkommen, die werden sich freuen. Als ich gehen durfte, bin ich gleich zurück in die Ackerhalle, diesmal ohne Jacke und die Haare mit Wasser zurückgegelt.«

Ich klopfte mit dem Fingernagel auf die Öffnung der Büchse, ein leises metallisches Klacken, dann drückte ich den Verschluss auf, schlürfte süßen Cola-Schaum und trank die halbe Büchse, ohne abzusetzen. Simon lächelte, während er noch einmal seine Beute sortierte. Er riss eine Packung Riegel auf, nahm einen in die Hand und warf ihn mir zu.

»Geil«, sagte ich, laut und fröhlicher, als ich eigentlich war, aber ich musste aufholen, diese weite Strecke, die er mir plötzlich voraus war, so fühlte ich mich, hatte hier allein herumgesessen, mit geschlossenen Augen, während Simon unterwegs gewesen war. Es tat gut, dass er mit mir teilte und mich so zum Komplizen machte, als wäre es unsere Beute, die hier abgezählt und aufgeteilt wurde.

Ich aß den Schokoriegel; als ich fertig war, schob Simon mir sofort den nächsten zu, den ich genauso schnell aß wie den ersten.

»Macht ihr das oft?«, fragte ich.

»Alle paar Tage, in den Hofpausen«, antwortete er.

»Und mit wem?«

»So zwei Typen aus meiner Klasse. War gestern bei dem einen zu Hause, wir haben den ganzen Tag an einem kaputten Fernseher geschraubt, haben ihn aber nicht zum Laufen gebracht.«

»Ach so.«

»Ja, Kaspar heißt der.«

»Kenn ich den?«

»Glaub nicht«, antwortete Simon.

Dann saßen wir uns gegenüber, blickten in die Flammen der Kerzen, die wie winzige Lagerfeuer flackerten, und keiner sagte ein Wort; wir waren Goldgräber, hatten unser Glück im Norden gefunden und wollten es zurück gen Süden tragen, aber die Wildnis hatte uns geschluckt. Ein Rudel heulender Wölfe hatte sich uns an die Fersen geheftet, Simon wusste es und ich auch, aber was half es, darüber zu sprechen. Ich wollte mich hinlegen, mich zusammenkauern, um wenigstens ein paar Stunden zu schlafen, da seufzte Simon auf.

»Es ist schon viel zu spät, los, gehen wir.«

Mit zwei Handgriffen hatte er die restlichen Süßigkeiten wieder im Rucksack verstaut, die Kerzen mit dem angeleckten Zeigefinger ausgedrückt. Ich wäre liegen geblieben, wäre Simon einfach ohne mich gegangen, aber er stand über mir und wartete.

»Sieht nach Regen aus, oder?«, sagte er, und tatsächlich war kein Stern zu entdecken.

Er lief voraus, ich trottete hinterher, trottelte hinterher, so kam es mir vor, bis wir beide abrupt stehen blieben, wie Tiere, die Gefahr wittern. Ein Lichtschein stieg über den Dächern auf, dort, wo keiner sein konnte. In der Deckung der Schornsteine pirschten wir uns an. Das Licht schien tatsächlich aus dem Dach selbst zu kommen, als wäre dort ein Loch oder ein in den Boden eingelassenes Bassin voll leuchtendem Wasser. Auf allen vieren krochen wir bis an den Rand, und da war überhaupt kein Dach mehr, auch kein Dachboden, da war ein kleiner, mit Steinplatten ausgelegter Innenhof, eine Terrasse, von Wänden aus Glas umgeben, von einem Wohnzimmer, das hell erleuchtet war, alles leuchtete in diesem Zimmer, die Möbel, die Wände, der Boden. Und überall standen Menschen, von denen ebenfalls ein heller Schein ausging. Sie standen in kleinen Grüppchen, um ein schwarz funkelndes Klavier herum, auf dem niemand spielte, an einer Bar, hinter der jemand lachend einen Mixer schüttelte, vor einem Bücherregal, voll mit bunten, glänzenden Buchrücken, keine grau-beige Reclam-Wand, wie sie bei uns zu Hause einstaubte. Alle hielten sie Sekt- und Weingläser zwischen den Fingern, redeten und lachten mit aufgerissenen Augen und blitzenden Zähnen. Wie gebannt schauten wir in dieses fremde Leben, das sich doch auf unheimliche Weise vertraut anfühlte, an Ferrero Küsschen musste ich denken oder den Ford Ka, an diese Menschen, die an den besten Stellen unsere Lieblingssendungen unterbrachen. »Simon«, sagte ich, und er hauchte mir als Antwort ein lang gezogenes »Ja« zu. Ein Korken knallte, jemand kreischte vergnügt. Wir lockerten ein wenig die Beine und Arme, rückten noch etwas näher heran, wollten es uns bequem zu machen. Mit einem Mal wurde die Glastür zum Innenhof aufgerissen, und zwei Männer traten heraus. Wir schraken zurück, drückten unsere Köpfe aufs Dach, doch die beiden sahen sich überhaupt nicht um. Sie bellten sich eine Art Gespräch aus abgehackten Sätzen zu, von denen ich kein Wort verstand, behielten dabei aber den Blick unablässig auf die großen Scheiben der Wohnung gerichtet, hinter denen nach wie vor gelacht und geplaudert wurde. Schließlich fiel ihnen ein, wieso sie rausgekommen waren, einer rief: »Feuer?«, der andere antwortete: »Hab ich!« Ein Streichholz brannte auf, ließ für einen Moment ihre Gesichter merkwürdig verzerrt aufleuchten; sie zündeten sich ihre Zigaretten an, inhalierten tief und stöhnten, während ihnen der blasse Qualm aus den Mündern quoll, genussvoll auf, als hätten sie gerade erfolgreich ein Land erobert.

»Komm, komm«, flüsterte Simon, und leise schlichen wir weg.