Vielleicht war es genau an diesem Tag, nachdem wir drei, zwei haushohe Verlierer und eine Gewinnerin, die nichts hatte tun müssen, um zu gewinnen, weshalb es auch für Annika ein schaler Gewinn gewesen war, entmutigt nach Hause spazierten. Zuerst verschwand Annika in ihrem Plattenbau, dann, einen Kilometer weiter die Linienstraße hinunter, ließ ich Simon allein und verzog mich in unseren grau gewordenen Altbau – es fühlte sich immer so an, als würde ich ganze Tage auslöschen, wenn ich an diesen Ort, an dem sich das Leben auf so beruhigende Weise gleichblieb, zurückkehrte. Ich legte mich dann auf meine Matratze oder, wenn sonst niemand da war, auf das Wohnzimmersofa und tauchte ab in die Lektüre gewaltverherrlichender Comic-Bände wie Sin City oder Dragon Ball.
Ich versuchte, die Treppen hochzudribbeln, Stufe für Stufe hallende Paukenschläge durchs Treppenhaus zu schicken, was mir oft gelungen war, diesmal kam ich aber nicht weit. Der Ball prallte gegen die Kante einer Stufe, sprang die Treppe wieder runter, rollte bis an die Haustür, und das Gleiche beim zweiten Versuch.
Mit dem dritten Anlauf schaffte ich es bis zur vorletzten Stufe, an der es dann doch wieder abwärtsging. Ich lief dem Ball hinterher, hob ihn auf und gab es auf, was mir nach der Pleite gegen diesen Ralf den Rest gab.
Als ich endlich vor unserer Wohnungstür stand, alle Taschen meines Rucksacks absuchen musste, um meinen Schlüssel zu guter Letzt genau dort zu finden, wo ich ihn immer hintat, auch noch Schwierigkeiten hatte, das Schlüsselloch zu treffen, ich kratzte herum, bis der Schlüssel gnädig, wie von allein ins Loch sackte, war ich fast zu schwach, zu erschöpft, ihn umzudrehen. Geradeso, den Kopf gegen die kühle Tür gedrückt, schaffte ich es, aufzuschließen, sie zu öffnen, einzutreten.
Ich zog alles aus, Schuhe, Socken, ließ meinen Rucksack fallen, stieß den Ball den Flur entlang in Richtung meines Zimmers, zog mein T-Shirt aus, gern hätte ich mich restlos nackt ausgezogen, aber in so einer Familienwohnung wusste man nie, wer da oder nicht da war. Ich lauschte, hörte kein Geräusch, trotzdem war ich mir sicher, nicht allein zu sein. Ich ging ins Bad, um mir den Dreck von den Händen zu waschen, und sofort prallte mir das Gebrüll der Fußballer entgegen. Durchs offene Fenster konnte ich sehen, wie sie aufs scheunengroße Tor zustürmten und doch keinen Treffer landeten, cholerische Zinnsoldaten, die in ihren bunt gestreiften Kniestrümpfen und ihren sauber in die Hosen gesteckten Trickots mit kerzengeraden Rücken über den unfruchtbaren Kunstrasen rannten und sich ihre Seelchen aus den Leibern schrien. Vielleicht wäre es besser gewesen, einfach Fußballer zu werden, die durften ihren Ärger über den Platz brüllen, als wären sie allein auf dieser Welt, und machten sich dabei nicht einmal die Hände schmutzig, dachte ich, schloss das Fenster und wusch mir Hände, Nacken und Gesicht.
Als ich in die Küche kam, hätte ich sie beinahe übersehen. Meine Mutter saß regungslos am Küchentisch, die Ellenbogen aufgestützt, die Stirn in die Hände gelegt, die Finger ins Haar gekrallt, unter ihrem Gesicht glänzten zwei winzige Pfützen. Mit offenem Mund, hängenden Armen war ich mitten im Raum stehen geblieben und wollte doch nur ein Glas Wasser trinken, vielleicht ein Brot essen.
»Hallo, ich bin da, na, wo sind denn alle?«, hörte ich mich sagen.
»Jetzt nicht«, stieß meine Mutter hervor und versuchte, mich mit einem kraftlosen Wink aus dem Handgelenk wegzuscheuchen. Ohne zu wissen, was ich tat, ohne mich dafür entschieden zu haben, als wäre ein innerer Automatismus angesprungen, machte ich aber einen Schritt auf sie zu. Ich war drauf und dran, ihr, wie mein Vater es getan hätte, die Hand auf die Schulter zu legen.
»Wirklich nicht«, schluchzte sie mit Wut in der Stimme, sodass es mich rückwärts zurück in den Flur trieb.
Schnell und leise schloss ich die Küchentür; ich hätte sie auch abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte auf der anderen Seite. Ich hielt die Klinke umklammert, zwanzig Sekunden oder länger, dann kniff ich die Augen fest zusammen und riss mich los. Irgendeiner in dieser Wohnung musste mir doch erklären können, was hier los war.
In Antons Zimmer, im Zimmer unserer Eltern, im Wohnzimmer, in meinem Zimmer, im Zimmer von Johann: niemand.
Ratlos schlich ich durch den Flur zurück, legte die Hand aufs Milchglasfenster der Küchentür. Wie gern wäre ich einfach in mein Zimmer verschwunden und hätte meine am Küchentisch heulende Mutter vergessen. Trost wollte sie nicht, nicht von mir oder sonst wem. Aus alter blinder Gewohnheit lief ich rüber in Antons Zimmer, am riesigen Wäscheschrank vorbei, den er unbedingt hatte umstellen wollen, um sich eine von allen Seiten eingerahmte Nische für sein Bett zu bauen, eine gut abgeschottete Schlafhöhle. Ich ging ans Fenster, lehnte mich aufs Fensterbrett und sah hinaus. In der blütenweißen, mit vollkommener Stuckateurskunst verzierten Fassade des neuen, zukunftsweisenden Altbaus gegenüber erkannte ich gerade noch die abgebrannte Fassadenwand, die mich eine ganze Kindheit und länger begleitet hatte. Es war wirklich ein wunderschönes Haus geworden, noch von keinem einzigem Krakel befleckt; nicht mehr lange, dachte ich und überlegte auch, ob Simon und ich nicht ein letztes Mal unser Glück mit den Sprühdosen versuchen sollten. Ich seufzte, laut und wie ein trauriger Erwachsener, hätte nicht sagen können, warum – da stöhnte es hinter mir. Ich zuckte herum, blickte genau in die schulterbreite Öffnung der Schlafhöhle, genau auf meinen Bruder, der gegen die Wand gelehnt auf seiner Matratze saß, breitbeinig, die Hände lagen kraftlos auf seinen Oberschenkeln.
»Anton«, flüsterte ich, aber er sah an mir vorbei.
»Anton«, sagte ich etwas lauter. Er hob den Kopf, aber seine Augen blieben ins Vage gerichtet; er schaffte es kaum, sie offen zu halten. Ich trat auf ihn zu, streckte die Hand aus, wollte ihn berühren, wieder so ein merkwürdiger, fast elterlicher Impuls, aber er schlug nach meiner Hand und säuselte: »Lass ma, lass ma, alles gut.«
»Guck mich an«, sagte ich; er lächelte nur auf dämlich zwanghafte Weise.
Ich lief hinaus, in die Küche, zur Spüle, füllte ein Glas, trank es aus, füllte es wieder, ich drehte mich um, meine Mutter blickte mich aus rot geriebenen, feuchten Augen an. Was heulst du hier rum, warum tust du nichts, wollte ich ihr entgegenschimpfen, aber brachte nichts heraus. Sie muss es trotzdem gespürt haben, sagte nur: »Seid ihr denn alle bescheuert geworden, ihr spinnt doch alle?«
Beinahe hätte ich ihr das Glas Wasser ins Gesicht geschüttet, in ihr verkrampftes Gesicht, hätte sie noch ein Wort gesagt, mich noch eine Sekunde länger so hilflos angesehen, doch sie duckte sich weg, vergrub ihr Gesicht wieder in den Händen.
Ich lief zu Anton, hielt ihm das Wasser hin, er versuchte, mich abzuwehren, und schlug mir das Glas aus der Hand, dass mir das Wasser über die Füße floss, es war kalt und unerwartet.
Was war eigentlich los? Anton kauerte halb liegend, halb sitzend auf seinem Bett, träumte mit offenen Augen und schaffte es nicht aufzuwachen – so war es ihm als Vier- oder Fünfjährigem ergangen, da hatten ihn seine Albträume bis über den Schlaf hinaus verfolgt, er war zu den Eltern ins Wohnzimmer gerannt, hatte geheult und geschrien, weil Spinnen über seinen Körper krabbelten und Schnecken an seinen Händen und zwischen den Fingern klebten, und meiner Mutter gelang es nicht, ihn zu wecken, sie hatte ihn geküsst, gestreichelt, hatte besänftigend auf ihn eingesprochen, aber ihr Kind hatte geschrien, als würden unsichtbare Teufel ihm Brenneisen ins Fleisch bohren. Lange hatte es nicht gedauert, bis seine immer panischere Angst auch auf sie übersprang und dann beide heulten, als wäre wer weiß was hinter ihnen her. Sie hätte ruhig bleiben müssen, hatte mein Vater später erklärt, der in seiner Ruhe aber genauso nutzlos gewesen war. Er hatte alles ruhig mit angesehen und abgewartet, irgendwann würden sich auch die schlimmsten Tagträume in Luft auflösen, war seine Meinung gewesen, aber wie er da so still und teilnahmslos zugesehen hatte, nur immer mal wieder aufgestanden war, um die Verzweifelten zu umarmen oder ihnen seine kühle Hand auf den Kopf, die Schulter oder an die Wange zu legen, hatte etwas kalt Brutales an sich gehabt, als wäre er ein Forscher gewesen, der an seinen Liebsten ein ungeheuerliches Experiment durchführt. Jetzt träumte Anton nicht, denn damals hatte er mit weit aufgerissenen Augen und um sich fuchtelnden Armen herausgeschrien, was ihm solche Angst einjagte. Jetzt saß er da wie betäubt, bewegte sich langsam wie ein Tiefseetaucher und blickte in den dunkel funkelnden Ozean seines Rausches – so ahnungslos war ich nicht, dass ich nicht wenigstens ungefähr verstand, was passierte. Betrunken war er nicht, da war ich mir sicher, wahrscheinlich hatte er gekifft, vielleicht was Schlimmeres genommen.
»Bist du bekifft?«, fragte ich, aber mein Bruder reagierte nicht.
»Du hast dir nichts gespritzt oder?«, da verzog er angewidert das Gesicht, als hätte ich ihn beleidigt.
»Anton, hier, hier bin ich«, sagte ich und schnippte mit den Fingern, er blickte durch mich hindurch oder an mir vorbei, als würde ein dichter Nebel zwischen uns hängen. Er war unerreichbar, auf eine so seltsame Weise, denn er war ja da, genau vor mir, sein Körper in diesem Zimmer, auf dieser Matratze, aber sehen oder hören tat er mich kaum, und wenn ich ihm zu nahe kam, dann wedelte er mit den Händen, als umschwirrte ihn ein Schwarm Stechmücken.
Ich setzte mich hin, lehnte mich zurück. Wie ein lebendiges Bild hing er im Winkel zwischen Wand und Boden, das expressionistische Gemälde eines bekifften Jugendlichen oder eher eine lebendige Skulptur, die sich gerade so viel bewegte, dass niemand auf die Idee käme, sie sei aus Stein, das Gegenteil zu diesen Stillstands-Artisten, die Standbilder imitieren, eine Statue, die so tut, als lebe sie, blass war er ja, mein Bruder, sein Gesicht wie aus Marmor.
Es schien ihn zu stören, dass ich so vor ihm saß und ihn betrachtete wie ein absonderliches Ding. Einige Male mühte er sich an kraftlosen Gesten ab, die mich vertreiben sollten. Aber wer hatte nicht von Jimi Hendrix’ legendärem Tod gehört, der in zugedröhnter Umnachtung hatte kotzen müssen und daran erstickt war, am eigenen Erbrochenen, wie geraunt wurde, ein erbärmliches Ende, vor dem ich meinen Bruder, komme, was wolle, bewahren würde. Und es wurde nicht langweilig, ihm zuzusehen, wie er so wabernd dahinvegetierte, im Rausch – erst verzog er das Gesicht, als wollte er sagen: »Hör auf mit dem Quatsch«, dann lächelte er breit, ohne Anlass, schüttelte den Kopf, weil es ihm zu dumm war. Auf einmal sah er mich an, versuchte, sich auf mich zu konzentrieren, es gelang ihm nicht, er sank zurück, vielleicht schwindelte ihn.
»Na, hat er für dich auch noch was gehabt?«, schrie plötzlich meine Mutter, packte mich an der Schulter und zog mich zurück.
»Was hat der genommen, weißt du’s? Los, sag! Spritzt der, los, zieh ihm den Ärmel hoch, los!«, fauchte sie mich an.
Ich stand auf, griff ihre Oberarme und schob sie vor mir her aus dem Zimmer raus.
»Der hat gekifft, was sonst, inner Stunde ist das vorbei!«, flüsterte ich, und sie gab wirklich nach, ich merkte, wie sie sich beim Gehen auf mich stützte, nur leicht, und sie auf jeden meiner Schritte hin einen eigenen machte. Ich brachte sie zurück an ihren Platz in der Küche, füllte ihr ein Glas Wasser.
»Vielleicht wäre es besser, wenn du spazieren gehst, geh doch spazieren«, sagte ich noch.
»Ja, ja, vergiss es«, antwortete sie, und es klang wie: Verpiss dich.
Anton war noch tiefer gerutscht. Seine Füße ragten jetzt aus der Schlafnische hervor, das Kinn lag auf der Brust. Als ich mich wieder zu ihm hockte, blickte er mich an wie aus einer anderen Welt, aber jetzt lächelte er. Warum bist du überhaupt nach Hause gekommen, dachte ich, warum nicht einfach bei deinen Freunden geblieben, oder hast du Angst bekommen? Wolltest du nach Hause, weil du plötzlich gar nichts mehr wusstest, weder wo noch wer du bist? Immerhin hast du es geschafft, zu unserer lieben Mama, die dich so erleben musste, wie sie noch nie einen Menschen, geschweige denn sich selbst erlebt hat.
»Du Dummi«, sagte ich und tätschelte ihm den Fuß.
Ein wenig fühlte ich selbst mich jetzt wie ein fragwürdiger Wissenschaftler, der sich seinen Bruder als gut umsorgten Versuchsmenschen im Käfig hält, und was auch immer ich Anton gespritzt hatte, es funktionierte: Er war wie aus Teig geformt, winzige Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn, und das Weiß der Augen war feuerrot. Ich zog ihm die Schuhe aus, fragte ihn, ob es so besser sei, worauf er ein, ich glaubte, zustimmendes Geräusch von sich gab. Dann kratzte ich mit meinem Zeigefinger seine Fußsohle hinauf. Das Bein schreckte zurück, mein Bruder verzog ärgerlich das Gesicht und brachte ein undeutliches Was oder Lass heraus. Es stimmte nur zum Teil, dass er unerreichbar war – auf eine gewisse Weise war er erreichbarer denn je: Er konnte sich nicht abwenden, nirgendwohin gehen, kein Bild malen, kein Buch lesen, er konnte überhaupt nichts tun, nicht einmal einen klaren Gedanken fassen. Von seinen Freunden, die nie meine werden würden, war er zu uns nach Hause geflohen, und hier war ich es, der sich um ihn kümmerte. Anton war mir, sich selbst und auch den Umständen widerstandslos ausgeliefert, er war einfach da, wie ein Ungeborenes, das im Bauch der Mutter schwebt, manchmal strampelt oder unkontrolliert mit den Armen zuckt. Meine Hand lag auf seinem Fuß, ich schob sie etwas höher aufs Schienbein und spürte seine Haut. Jahrelang hatte ich ihn nicht mehr angefasst, nicht mehr seine Hand gehalten, ihn nie umarmt, wieso auch, Berührungen waren ab einem bestimmten Zeitpunkt einfach nicht mehr vorgekommen. Aber jetzt hielt ich ihn am Bein, spürte seinen Puls in meiner Handfläche, und er ließ es zu.
Ich weiß gar nicht, wie lange ich bei ihm saß, doch während wir so saßen, begann ich immer deutlicher die Veränderung wahrzunehmen. Unmerklich und unausweichlich waren die Kontinente auseinandergedriftet. Eine Bewegung fand statt, seit Langem schon und ohne absehbares Ende. Nicht wie ein Abgrund, nur wie ein weiter, unbestimmter Raum hatte sich eine Fremdheit zwischen uns aufgetan. Jetzt erkannte ich diese Fremdheit, sie war es, die ich gespürt hatte, wenn ich meinen Bruder vermisste, obwohl er nur zwei Zimmer weiter an seinem Schreibtisch saß oder mit neuen Freunden am anderen Ende des Schulhofs auf eine Weise sprach, die ich nicht beherrschte. Im selben Zug wurde ich mir aber auch der absoluten Nähe bewusst, die immer schon zwischen uns gewesen war: Anton lag vor mir, entstellt zum besinnungslos Berauschten, und klarer als sonst spürte ich, wie sehr ich ihn liebte. Die Welt, in der es uns auseinandertrieb, denn alles in diesem Universum trieb ja auseinander, hielt inne und war für einen Augenblick bedeutungslos. Wie durch ein Fernrohr konnte ich meinem Bruder über die fremde Ebene unserer Entzweiung ins Gesicht schauen, wo ich jene ursprüngliche Nähe fand, in der wir einst gemeinsam ins Leben getaucht waren. Merkwürdig war es natürlich, dass ich all das ganz allein empfand und da keinerlei Gegenseitigkeit war, denn Anton war völlig mit sich und seinem Rausch beschäftigt, er schmatzte und leckte sich die Lippen. Wieder bot ich ihm einen Schluck Wasser an, und jetzt nahm er ihn, den letzten Rest, den er nicht verschüttet hatte.
Er hielt mir das leere Glas hin, und ich nahm es ihm aus der Hand. Dann rollte er sich auf die Seite, zog sich Decke und Kissen heran, um sie zu umarmen und in ihren Falten zu verschwinden. Er würde einschlafen, nichts schien er sich sehnlicher zu wünschen.
Ich ging in die Küche; meine Mutter las Zeitung, trank Tee, schien mich nicht zu bemerken, sie war vertieft in einen Artikel oder in ihren Zorn oder ihre Angst. Ich ging an den Brotkorb, zog das Brot aus der Tüte, ich schnitt mir zwei Scheiben ab, nahm zwei Scheiben Käse aus dem Kühlschrank und verschwand dann schnell mit diesem trockenen Sandwich in den Flur, in mein Zimmer, schob den Riegel vor, den ich mir an die Tür gebaut hatte, um ungestört und heimlich mit meiner Softair-Pistole trainieren zu können – aus Alufolie hatte ich mir ein dürres Männlein geformt, auf das ich anlegte. An meinem Schreibtisch aß ich langsam, vergaß manchmal einen Bissen sekundenlang im Mund, bis ich plötzlich, aus einem Gedanken erwacht, weiterkaute. Ich wusste, dass sie da waren, Anton und meine Mutter, in ihren jeweiligen Zuständen, irgendwo auch mein Vater, Johann, Simon, alle, ich spürte sie wie mich selbst, obwohl ich vollkommen allein war.
Ich glaube nicht, dass an diesem Tag noch irgendetwas passierte, irgendein Wort gewechselt wurde, ich irgendwem noch begegnet bin, ich erinnere mich an nichts. Das Ende des Tages rollte heran, der Erdkreis kehrte sich dem Dunkel zu. Ich schloss die Augen, blickte noch eine ungewisse Zeit lang in meine Gedanken, bevor der Schlaf uns schluckte.
Am nächsten Tag fiel mir mein bekiffter Bruder erst wieder ein, als wir gemeinsam zur Schule aufbrachen. Kaum waren wir aus dem Haus, konnte ich das Schweigen brechen, das meine Mutter uns allen in dieser Sache auferlegt hatte.
»Na, besser geschlafen als sonst?«, fragte ich.
»Ja, tief geschlafen.«
»Was war denn los?«
»Was schon.«
»Sag.«
»Weißt du doch.«
»Und dann läufst du so nach Hause, zu unserer Mutter.«
»Wir haben gekifft, und dann haben die mir gesagt: Voll krass, is mit LSD bestäubt. Und da war ich sauer und bin gegangen.«
»Scheiße.«
»Egal.«
»Und wars?«
»Keine Ahnung, gibts so was?«
»Weiß ich doch nicht.«
»Tja.«
»Scheißfreunde.«
»Ich hätts eh geraucht.«
»Echt?«
»Denke schon.«
»Na ja.«
Da waren wir fast angekommen. Schüler, die vorm Schultor die erste Zigarette des Tages rauchten, schauten uns unbeteiligt entgegen, atmeten Rauchschwaden aus, beiläufig und mit einer scheinbar jahrzehntealten Selbstverständlichkeit, als hätten Zigaretten von Anfang an zu ihrem Körper gehört, wären nur ein weiterer natürlicher Teil ihres bedürftigen Organismus; diese Kinder aus höheren Klassen, ich kannte ihre Gesichter, sie sahen dich an, nur um dich übersehen zu können. Anton sagte nichts mehr, und auch ich wurde still, schlängelte mich zwischen den Grüppchen der Großen hindurch, nahm die steinernen Treppen, lief den breiten Gang hinab. Auf der Schwelle zum Klassenzimmer blieb ich stehen. Der hell erleuchtete Raum blendete, und es waren schon die meisten da, zogen Hefter aus ihren Rucksäcken, redeten über Tische gebeugt miteinander, blätterten in bunt eingeschlagenen Schulbüchern. Plötzlich schob mich jemand von hinten hinein, ich zuckte herum, es war Anton – ich war mir sicher gewesen, dass er vorm Schultor noch schnell, in gehetzt-wichtigen Zügen eine geraucht hatte. Er flüsterte mir etwas ins Ohr, wohin oder bis dann.
»Bis nachher«, sagte ich und suchte mir einen Platz an der Heizung, unter den hohen Fenstern, durch die ich direkt in die Baumkronen blicken konnte; das Herbstlaub glühte in der Morgensonne.