Ich hatte versucht, Simon anzurufen, ihn aber nicht erreicht, jetzt wollte ich klingeln. Der Weg war nicht weit, und ich hatte nichts Besseres zu tun. Meinen Ball trug ich zwar noch im Rucksack herum, aber inzwischen war es zu kalt geworden, um mit nackten Fingern stundenlang Körbe zu werfen, also lief ich im vertrauten Zickzack durch die Dämmerung, drückte seine Klingel, wartete mit eingezogenen Schultern. Als der Summer knarrte, stieß ich die Tür auf, dieselbe Tür, die ich schon Tausende Male aufgestoßen hatte, dieselbe, die schon Tausende Male hinter mir krachend ins Schloss gefallen war, rannte die Treppen hinauf, dieselben Treppen, im Kreis herum von Stockwerk zu Stockwerk, und oben leuchtete das Flurlicht aus Simons Wohnung ins staubige Treppenhaus hinaus.

»Simon?«, rief ich, und sofort trat er angezogen und bereit aus seinem Zimmer.

»Schießen gehen?«, war sein Vorschlag.

Meine Softair lag versteckt unter einem Stapel nie ausgefüllter Arbeitsblätter am Boden meines Rucksacks.

»Waren wir lange nicht mehr«, antwortete ich.

Und so zogen wir los, wieder hinaus in den Abend, der längst nachtschwarz war und kalt. Es war die Zeit der Straßenlaternen, des orangegelben Lichts, und bald der Regentropfen, dann der Schneeflocken, die durch die Lichtkegel fallen würden, geräuschlos fallen, wenn ich gelangweilt durch geschlossene Fenster in die Winterabende schauen würde. Aber noch wehte der späte Herbst durch die Straßen.

Wir suchten ein Baugerüst, um auf die Dächer zwischen August- und Linienstraße zu kommen, und nahmen das erstbeste. Inzwischen waren wir geschickt wie routinierte Bauarbeiter, stießen die Klappen auf, krochen von einer Etage in die nächste, ganz oben dann der eine weite Schritt hinüber aufs Dach. Kaum ein Licht brannte, und die Dachterrassen waren verlassen. Wir peilten denselben alten Dachboden an, auf dem Simon mich das erste Mal eliminiert hatte, ein Spielstand, der sich seitdem oft wiederholt hatte, bis Simons permanente Kopftreffer mir das Schießen mehr und mehr verdorben hatten; ich trainierte zwar an meinem Alumännchen, aber es half ja alles nichts.

Wir kletterten über kleine Mauern, stiegen Leitern rauf und runter, traten an den Rand der Dächer, um einen Blick hinunterzuwerfen. Ich kramte meine Softair heraus, zog eine Kugel in den Lauf und schoss auf eine übrig gebliebene Bierflasche, an der die Kugel mit einem sanften Klang abprallte, ohne irgendetwas zu bewirken. Wir lauschten in Innenhöfe hinab, in denen traumartige Ruhe herrschte: Die Leute hielten ihre Fenster geschlossen und nervten uns nicht mit ihrem Geschrei und Gerede, mit ihrer Musik und ihrem Stöhnen, wenn sie sich wieder übereinander hermachten, oder dem Gesurre ihrer Küchengeräte. Es war still, und wir konnten das Geräusch unserer Schritte hören.

Als wir an die Stelle kamen, an der wir damals die offene Dachbodenluke gefunden hatten, war sie nicht mehr da. Ein weißes blasenförmiges Dachfenster hatte die Luke ersetzt, ein undurchsichtiges Milchglasfenster, das merkwürdig organisch auf der Dachpappe klebte.

Simon rüttelte daran und konnte es einen Spaltbreit anheben, er schaute mich an, duckte sich dann, um in den Spalt zu gucken.

»Hast du dein Barlow dabei?«, fragte er – gerade heute hatte ich es wieder eingesteckt.

Vielleicht war da ein Haken, den er aus der Öse stoßen wollte, oder ein Strick oder so eine Plastikschlinge. Zehn Sekunden stocherte Simon mit dem Messer im Spalt, schon zog er es zurück, sah mich stolz und aufgeregt an und riss feierlich das Fenster auf, als würde er ein Geheimnis lüften.

Wir starrten ins Dunkel, versuchten, uns an die Tiefe zu erinnern, drei Meter oder mehr.

»Hallo«, rief Simon hinab, und ich pfiff, aber niemand hörte uns, nicht einmal das Echo oder der Hall antworteten.

»Los, holen wir uns ’ne Leiter«, sagte ich.

Ein paar Dächer weiter zogen wir eine Holzleiter aus dem schwarzen Loch eines Dachbodens, hier hätten wir schießen können, ungestört und unbemerkt, aber unsere Neugier war nun schon einmal geweckt.

Wir ließen die Leiter hinunter, sie war geradeso lang genug, und stiegen einer nach dem anderen ins Unbekannte.

»Hier liegt Teppich«, war das Erste, was Simon verwundert feststellte, als er den Boden betrat.

Dann tasteten wir uns die Wände entlang, bis ich unter meiner Hand etwas Glattes spürte.

»Ich mach Licht«, sagte ich, und Simon sagte: »Mach!«

Wir standen auf einem dunkelgrünen Teppich, dessen in sich verschlungenes Muster wie ein wucherndes Dornengestrüpp den Boden bedeckte, in einer Art Vorraum, von dem Türen in alle Richtungen abgingen.

»Krass«, flüsterte Simon.

»Ja«, sagte ich leise.

Und obwohl es war, als wären wir in den Hasenbau hinabgestiegen, um in ein Land, das vielleicht ein Wunderland war, hinauszutreten, wussten wir doch, was zuallererst zu tun war.

»Pack mit an«, sagte ich zu Simon, und gemeinsam schoben wir die schwere Kommode, die unter einem Spiegel neben der Garderobe stand, vor die einzige Tür, die einen Türspion hatte. In jedem Zimmer, das wir nun betraten, zogen wir zuerst die Vorhänge zu und suchten die kleinen, schwachen Tischlampen.

So kam ein wenig Licht in die Zimmerflut, die uns mit jedem Schritt weiter weg von den Dächern und hinaus aus unserem Viertel trieb. Vielleicht war es nur die Aufregung, die alles wunderschön, riesig und endlos erscheinen ließ, aber dass der alte Dachboden, in dem wir uns ja immer noch befanden, all das fassen konnte, war unvorstellbar. Es war kaum ein Jahr vergangen, seit wir hier zwischen Sperrmüll und Gerümpel gespielt hatten, und was bedeutete ein Jahr schon für ein Haus, für eine Stadt. Da waren jetzt gewaltige Ledercouches, so bequem, dass ich sofort hätte einschlafen können, eins der weichen Kissen unter dem Kopf und die schimmernde Seidendecke bis unters Kinn gezogen, in den betäubenden Geruch zentnerschweren, exotischen Parfüms gebettet, den diese Sofalandschaft wie schlafender Urwald ausdünstete. Unter dem Fenster stand ein eleganter Sekretär aus, was sonst sollte es sein, schwarzem Ebenholz, dessen Schubfächer sich völlig geräuschlos öffnen ließen, darin wohlgeordnete Bürokratie: ein Stapel neuer Kuverts neben einem Stapel geöffneter, in einer Schale aus Wurzelholz einige Büroklammern, ein altertümlicher, aber sicher funktionstüchtiger Locher, dazu noch ein Etui mit Füllfederhaltern, drei Päckchen Zigaretten und sogar, aus einem Notizheft herausragend, mehrere Scheine Bares. Ein schmaler Flur wurde durch einen orientalischen Läufer in eine Prachtstraße verwandelt, gerahmte Zeichnungen und Kupferstiche an den Wänden; im schummrigen Licht erkannte ich undeutlich die Körper entkleideter Frauen und Männer, Palmen und in Andeutungen die Ruinen griechischer Tempelanlagen. Vor dem pompösen Ehebett befand sich ein Wäscheschrank, hoch wie der Raum selbst, dort fanden wir zwei schlichte Reisetaschen, in die alles hineinpasste: die Stereoanlage, schwarz und glänzend wie geschliffener Edelstein, die schlanken Boxen, der kleine Fernseher, den ich mir schon immer gewünscht hatte, und all der edle Plunder. Es war ein unverhofftes Weihnachtsfest, in das wir da hineingeraten waren, der Zufall hatte uns mit einer offenen Dachluke beschenkt, und es spielte keine Rolle, dass es wie Raub aussah.

Als wir die letzte Tür öffneten, an die eine kindliche Buntstiftzeichnung geklebt war, fanden wir uns in einem winzigen Zimmer wieder, und da war ein Erschrecken, ein plötzliches Zögern. Wir witterten das Kind, meinten, seine Träume zu spüren, seine ängstlichen Nachtgedanken, als es uns durch die Wohnung hatte tappen hören und es die Wärme des Bettes, die Nähe der Eltern, dieses vermeintlich sichere Zuhause vergaß, in das wir wie böse Schatten eingedrungen waren. Wir sahen uns um: eine kurze Matratze auf einem Kinderbett, das Kissen aufgeschüttelt, die Bettdecke umgeschlagen und glatt gestrichen, das Ganze mit Kuscheltieren drappiert, an der Wand ein Poster, das die grinsende Pippi Langstrumpf zeigte, einige Kinderbücher waren ins Regal gestellt, von einer Porzellankatze als Bücherständer aufrecht gehalten – etwas stimmte nicht mit diesem Zimmer. Ich strich über das Fensterbrett, aber kein Staub war zu spüren, und der Teppichbelag leuchtete weiß unter unseren Füßen wie frisch gefallener Schnee. Dann entdeckten wir das Holzschwert, das auf zwei Haken gelegt über der Tür an der Wand angebracht war, ein mit Schnitzereien verziertes, bunt bemaltes Holzschwert, der Griff von einer dunkelgrünen Kordel umwickelt, für jeden lebendigen Kinderkopf ein einmaliges Zauberschwert, aber hier war es außer aller Reichweite zur Dekoration degradiert. Dieses Zimmer konnte kein echtes Kinderzimmer sein, vielleicht war es für ein nie angekommenes Wunschkind reserviert, eine Art Kinderschrein, in dem ein verzweifeltes Paar den Kindersegen erfolglos heraufbeschwor – bis jetzt, denn nun waren wir da, und wir waren echt. Simon zog einen Hocker heran, stieg darauf und nahm das Schwert in seine Hand, er musterte es, dann schob er es in seine Tasche.

Wir suchten noch die Küche, wollten wissen, was diese Menschen im Kühlschrank hatten, Essbares, sicherlich, wie alle anderen auch, doch möglicherweise wurden in diesem Haushalt ja ausschließlich Delikatessen verzehrt. Es gab Käse und Wurst, Joghurt im Glas und Butter in der Butterschale, alles etwas geordneter, etwas sauberer, als wir es kannten, aber doch das ewig Gleiche. Zumindest eine Flasche Champagner stand gekühlt in der Tür, die nahmen wir mit, ohne zu wissen, was wir damit anfangen würden. Simon fischte noch zwei legendäre Andy-Warhol-Büchsen Tomatensuppe aus einem Regal, dann war es Zeit zu verschwinden.

Wir rückten die Kommode wieder an ihren Platz, löschten die Lichter und stiegen leise die Leiter empor, ins blasse Mondlicht hinaus, schwerbepackt wie einsame Grabräuber. Simon verschloss das Dachfenster, während ich die Leiter zurück zu dem anderen Dachboden brachte, bald schon der letzte seiner Art, dachte ich, als ich die Luke schloss.

Über ein Baugerüst, nicht dasselbe wie beim Aufstieg, sondern ein hinter Planen verborgenes, stiegen wir zurück ins Viertel, sprachen wieder lauter, richteten uns auf und schulterten die Taschen, als wären wir auf dem Weg zum späten Training in der Sporthalle des Postfuhramtes. Aber es war gar nicht nötig, irgendwem etwas vorzumachen, niemand sah oder hörte uns, die Straßen waren leer, und der eine vereinzelte Fußgänger, der sich eilig an uns vorbeizwängte, hielt den Kopf gesenkt und sprach hektisch wispernd mit sich selbst oder einer unsichtbaren Person an seiner Seite. Lediglich die Kneipe an der Tucholsky Ecke Auguststraße war brechend voll. Eine dicht gedrängte Menschenmasse füllte die Schaufenster, waberte wie der Zigarettenqualm im Raum umher, immer war es voll hinter diesen Fenstern. Mit weit aufgerissenen Augen bliesen sich die Menschen ihren Qualm entgegen, bis sich ihre Gesichter im nebligen Dunst aufzulösen schienen, quasselten ihre Worte, brüllten ihr Lachen heraus, ohne einen einzigen Blick nach draußen zu werfen. Minutenlang konnten wir vorm Schaufenster stehen und in diesem überfüllten Aquarium die exzentrischsten Exemplare studieren, niemand würde uns bemerken. Wahrscheinlich war auch das geschmacklose, kinderlose, das schamlos reiche und nichts ahnende Pärchen, dessen Wohnung wir gerade durchwandert hatten, in dieser Bar, hockte am Tresen und versuchte, laut schreiend ins Gespräch zu finden, lass uns reden, und dann saßen die zwei trinkend und rauchend im aufgeregten Gekreische, grüßten hier und dort, und die Worte, die sie den gesamten Abend über wechselten, waren immer dieselben. Simon zog die Zigarettenschachteln aus der Tasche, die Zigaretten aus der Packung, drückte sie mir in die Hand; dann brachen wir neunzig Zigaretten auf einmal in der Mitte durch und verstreuten sie vor dem Eingang über dem Abtrittsgitter, ein armseliger, schadenfroher Protest, grinsend zogen wir ab.

Die Anlage, Boxen und den Fernseher stapelten wir als Elektroschrott getarnt in der Ecke eines Kellerabteils, in dem die Bewohner von Simons Haus ihr Gerümpel auf Nimmerwiedersehen abstellten. Simon zog sich einen Stuhl aus dem aufgetürmten Sperrmüll, sank nieder und atmete durch. Es war Zeit, die Korken knallen zu lassen. Ich schüttelte die Flasche, lockerte nur ein wenig den Draht, und der Korken schoss gegen die niedrige Decke, Champagner sprudelte und schäumte befreit. Ich schlürfte einen Schluck und spuckte aus, bittere Brühe, schon gab ich die Flasche an Simon weiter. Der nahm einen tiefen Schluck, gurgelte, spie aus, Brackwasser fluchend, und verschüttete den Rest über dem pechschwarzen Kellerboden, der aus unzähligen Schichten festgetrampelten Kohlenstaubs bestand.

In den nächsten Tagen trafen wir uns nicht. Ich brauchte Zeit, um durchzuatmen, und Simon wahrscheinlich auch. Ich aß Frühstück am Küchentisch mit meinen Eltern und meinen Brüdern, ich verabschiedete mich und ging mit Anton in die Schule, ich spielte Basketball in der großen Pause, redete mit Annika und ihren Freunden, ließ mich zurück ins Schulhaus treiben, ich erlebte diese Tage wie einen friedlichen Traum, und die ganze Zeit über war Simon mir sehr nahe. Dieser eine Abend hatte uns in eine völlig neue Zweisamkeit verwickelt und in ein gemeinsames Geheimnis getaucht, das mich wie ein kostbares Kettenhemd umhüllte und unberührbar machte. Die Alltäglichkeit ging mich nichts mehr an, ihr war der Boden entrissen, und die Tage erhoben sich über den dunklen Katakomben der Nächte, in denen sich im Traum wiederholte, was ich mit Simon erlebt hatte. Auf unseren Raubzügen kehrten wir in die verlorenen Gebiete zurück, machten Beute, waren Guerillakrieger, die ihr altes Land heimsuchten wie Totgeglaubte. Plötzlich war es egal, ob wir B-Baller, Hip-Hopper, Punks oder Checker waren – was da geschehen war, an diesem Abend, war radikaler als jeder Dresscode, gefährlicher als alles anarchische Gerede, jede coole Geste, jeder coole Spruch. Und es war unendlich viel aufregender, als irgendwer sein zu wollen. Und so war das Ziel unseres nächsten Ausflugs längst gesetzt, es brauchte keine Absprache, kein vorsichtiges Ausdiskutieren, wir waren bereit.

An zwei aufeinanderfolgenden Abenden robbten wir über die Dachpappe an den Rand der winzigen Terrasse, die wir im Sommer entdeckt hatten. Ein erfindungsreicher Architekt hatte sie direkt in unsere Dächer gestanzt. Kein Mensch war zu sehen, doch hinter den Fenstern brannte Licht. Erst am dritten Abend war es endlich dunkel dort unten. Ohne lange zu überlegen, ließ ich mich hinab und drückte mein Gesicht gegen eine der großen Scheiben; da war kein Kerzenschein, kein Bildschirmflimmern, nur die verheißungsvolle Dunkelheit.

»Ich geh und guck, ob jemand was hört«, flüsterte Simon, und ich blieb allein.

Die Scheibe glänzte nicht, unsichtbar stand sie zwischen mir und dem schwarzen Raum dahinter, ein weit offenes Tor, dachte ich, denn ich würde sie zerschlagen. Ich hob einen faustgroßen Stein auf, einen Flussstein, von seinem Ufer weggetragen, damit er hier, an diesem gut ausgedachten Ort, etwas von seiner in einer Ewigkeit angesammelten Kraft ausstrahlte. Ich wog ihn in der Hand, strich mit dem Daumen über die kühle Oberfläche, und ich hatte das Gefühl, dass der Stein auf meiner Seite war, lange schon hatte er darauf gewartet, dass ich kommen und seine eigentliche Kraft mit einer einzigen fließenden Bewegung freisetzen würde. Ich holte aus, atmete tief ein, dann schleuderte ich ihn gegen das Glas.

Kaum ein Geräusch, der Stein fiel klackend auf die Betonplatten, die am Boden ausgelegt waren. Ich verstand nicht, was passiert war, und wollte es auch nicht verstehen; sofort packte ich den einen Stuhl, der im Hof stand, einen schweren gusseisernen Gartenstuhl, und schwang ihn gegen die Scheibe – nur ein leiser metallischer Klang, der Stuhl vibrierte für einen Augenblick in meinen Händen. Ich versuchte es noch einmal, mit einem Schritt Anlauf, all meiner Kraft, einem scheuen Kampfschrei, aber nichts, nur der dumpfe Klang und dann wieder Ruhe, als wäre ich nie da gewesen oder wäre eine Fliege oder nur eine sanfte Brise. Ich war fassungslos angesichts dieser harten Wand aus Glas.

»Simon!«, rief ich zu den Dächern hinauf, wartete aber nicht, sondern kletterte sofort mithilfe des nutzlosen Stuhls aus dem Innenhof raus, lief zu Simon, der auf einem Schornstein hockte.

»Was denn? Hast du’s?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf und wollte nur noch aufgeben, abhauen und runter von den Dächern, um nie wiederzukommen. Natürlich hatten diese Menschen längst an uns gedacht, als sie sich in ihren Palästen einmauerten. Wieso wollten sie denn sonst hier hinauf, auf die Dächer, wo der Lärm des Viertels ein fernes Meeresrauschen war? Wo die Stadt nicht existierte und doch so nah war. Was hatte ich geglaubt? Bald schon wären alle Baugerüste abgebaut, alle Hauseingänge abgeschlossen, jeder Dachboden einer Architektenvision gewichen, jedes Dach das Dach eines zum Edelbungalow umkreierten Dachgeschosses. Ein Stein, der auf meiner Seite war, mehr gab es nicht. Es würde bei unserem ersten, zufälligen Einbruch bleiben, vielleicht war es besser so.

»Los«, sagte ich zu Simon, und er sprang vom Schornstein, lief zum Loch des Innenhofs, kletterte hinunter. Ich sah ihm nach, unentschlossen, was zu tun war. Wieder das Geräusch der Schläge, leiser jetzt, da ich abseits stand und auf Simon wartete, doch ich lauschte wie gebannt. Zuerst war es nur ein Keuchen, ein restloses Ausatmen, das sich jedoch schnell zu einem vorsichtigen Schreien hochschaukelte, immer lauter wurde, immer freier, bis ein rückhaltloses Gebrüll aufloderte, Schlag auf Schlag, ein Schrei folgte dem anderen, Wut- und Kriegsschreie, da war Simons Hass, dem er freien Lauf ließ.

Und plötzlich, wie eine einsame Silvesterrakete, die über den Dächern explodiert und sich als glühender Regen in die Nacht ergießt, war da ein Knall, und Glas prasselte zu Boden. Ich rannte zum Hof, Simon stand wie ein Mörder in der offenen Tür und lachte schwer atmend zu mir hinauf.

Wir zogen uns unsere Bandanas über den Mund, die Kapuzen in die Stirn, knipsten die Taschenlampen an und stiegen über die knirschenden Glassplitter ins Haus. Ein riesiger verwinkelter Raum, der unmöglich auf einen Blick zu erfassen war, überall Nischen und Türen und Möbel, die wie Wände mitten im Zimmer standen, aber wir mussten die Eingangstür finden. Wir hatten alle Fenster von außen geprüft, nirgendwo hatte Licht gebrannt, und kein erwachsener Mensch lag abends um acht im Dunkeln und schlief. Doch meine Hand zitterte bei jeder Tür, die ich öffnete. Ich sah sie vor mir, die eine fensterlose Kammer, von der wir nicht hatten wissen können, in der ein Mensch über eine geheime Arbeit gebeugt saß, erschrocken aufhorchen, dann aufspringen würde, wenn er mich im Türspalt entdeckte, wir würden uns ansehen, eine endlose Sekunde lang, und was dann passieren würde, war nicht auszudenken. Abstellkammer. Kleiderkammer. Küche. Auf einmal blickte ich ins Treppenhaus, die Treppen hinunter, in diesen bedrohlichen Schlund, durch den die Bewohner kommen würden, die Pizzalieferanten, Postboten, Hausmeister, Fensterputzer, im Zweifelsfall die Polizei. Ich schloss die Tür, stemmte mich dagegen, als kämen die Ersten schon heraufgetrampelt, und rief Simon mit hoher Stimme. Er leuchtete mir ins Gesicht, ich leuchtete zurück. Dann suchte Simon wild herum, bis der Lichtkegel auf einen großen Schuhschrank gerichtet blieb. Prüfend rüttelte er daran, war einverstanden und winkte mir zu. Wie wir es ohne Lärm und mit wenigen Handgriffen in Sekunden schafften, den Schrank so zu platzieren, dass die Eingangstür derart verbarrikadiert war, dass es eine Axt gebraucht hätte, um reinzukommen, erschien mir als ein kleines, vielversprechendes Wunder. Vor lauter Aufregung rieb ich mir mit den Händen übers Gesicht. Hunger hatte ich, Heißhunger, der nur mit Zucker zu stillen war; ich lief in die Küche, zerrte den Kühlschrank auf, das Eisfach, fand einen Pappbecher Eis, eine englische Sorte, Cookie Dough, was auch immer das heißen sollte, musste drei Schubladen aufreißen, bis ich endlich das Besteck fand, und dann begann ich Eis löffelnd durch die Wohnung zu schlendern, es schmeckte himmlisch.

Simon grinste mich über eine schnittige Sonnenbrille hinweg an, wedelte mir mit einigen Scheinen zu. Am liebsten hätten wir Musik aufgedreht, hätten jetzt schon wieder die Korken knallen lassen, aber so blöd war kein Mensch und wir erst recht nicht. Aus einem Bücherregal zog ich eingeschweißte Comichefte, die hier anscheinend keiner lesen wollte, und steckte sie in meine Reisetasche vom letzten Mal. Simon blätterte sich erst durch die Schallplattensammlung und stöpselte dann den Plattenspieler ab. Ich versuchte, einen zierlichen Bonsai in der Tasche unterzubringen, doch er hätte es wohl nicht überlebt und tat mir leid, deshalb ließ ich ihn, wo ich ihn gefunden hatte, strich ihm zum Abschied über die winzige Krone. Wir heimsten noch Zigarren ein, CDs, Kleinkram, weniger als beim letzten Mal, denn die Geräte, die sich dieser Mensch zum Fernsehen und Musikhören angeschafft hatte, waren untragbar riesig. Überhaupt war hier alles riesig und dazu nagelneu: die weiße Ledercouch, der Couchtisch aus Glas, die menschenverschlingenden Sessel, im begehbaren Kleiderschrank lagerte Kleidung penibel gebügelt und gefaltet, farbrikfrisch. Es war keine sympathische Wohnung, auf den ersten Blick geschmacklos, auf den zweiten seelenlos, die Wohnung eines Idioten mit zu viel Geld, der eifrig versuchte, alles richtig zu machen, also kaufte und kaufte er, was Herren-, Mode- und Einrichtungsmagazine anpriesen, und alles verblieb im unpersönlich Beliebigen, als wären wir in die Schaufenster des KaDeWe eingestiegen. Egal, was wir stehlen würden, nächste Woche wäre es schon wieder da, neu und noch besser, vom Versicherungsgeld bezahlt – zumindest mussten wir keine Rücksicht auf Sentimentalitäten nehmen. Ich ging aufs Klo, pinkelte in die blütenweiße Kloschüssel und überlegte, ob ich mir die Flasche Hugo mitnehmen sollte, die über dem Waschbecken stand. Was solls, dachte ich und ließ es bleiben. Auf einem gerahmten Foto sah ich drei verzerrte Männerfressen, die in die Kamera lachten, voller Stolz auf ihre gepflegten Dreitagebärte, ihren bronzenen Teint, ihre makellosen Frisuren, ein Bild, das auch in einer IKEA-Ausstellungsetage, zwischen hohle Buchreihen gestellt, Leben heucheln könnte. Ich suchte Simon und fand ihn im Kleiderschrank, wo er Winterjacken anprobierte.

»Gute Idee«, sagte ich und prüfte selbst eine Reihe von Jacken und Jacketts, albern prachtvolle Exemplare, die zu tragen mir eine Qual gewesen wäre. Wahllos stopfte ich einige T-Shirts in meine Tasche, die genauso gebügelt, gefaltet und gestapelt wie die Hemden im Regal lagen. T-Shirts konnte man immer gebrauchen, vor allem wenn irgendwann nach diesem langen, bedrückenden Winter die Basketballsaison wieder beginnen würde.

Simon gab es auf, sich in ein Paar Wanderstiefel hineinzuzwängen, und schleuderte sie weg.

»Wollen wir?«, fragte ich, und er nickte nur.

Diesmal räumten wir nichts auf, ließen die Tür verrammelt, die Schubladen offen. Die Idee, alles zu verwüsten und ein Trümmerfeld zu hinterlassen, kitzelte in den Fingerspitzen, aber da waren wir schon wieder an der kühlen Nachtluft, über uns das tränende, wolkenverhangene Himmelsauge, das gleichgültig auf alles und uns niedersah.

Über zwei Nachbarhäuser ging es zurück. Durch den Dachboden, das Treppenhaus, durch den langen Flur schlichen wir uns in Simons Zimmer. Er machte Licht, und wir ließen uns die Taschen von den Schultern gleiten wie wertlosen Ballast.

»Geil«, sagte Simon.

»Du bist völlig ausgerastet? Mit dem Fenster?«

»Keine Ahnung, ja, ich wollte da rein.«

»Komische Wohnung.«

»Ich würd sie nehmen und verkaufen.«

»Ja.«

Dann wühlten wir in unseren Taschen, guckten, was der andere hatte, tauschten eine Sonnenbrille gegen fünf CDs, teilten das Geld auf, Simon behielt die Platten und den Plattenspieler, ich die Comics, alles ohne Streit, ohne Neid, unser Zeug war es ohnehin nicht, und zwei Stunden früher hatten wir nichts davon vermisst.

Es war spät, als ich wieder auf die Oranienburger trat, das Geld in der Hosentasche, die Comics im Beutel, ohne Eile stand ich da, sog die kühle Luft ein und hauchte sie aus, spürte den festen Boden der Granitplatten unter den Füßen. Autos rauschten über den Asphalt, Fußgänger beeilten sich, in die nächste Kellerbar hinabzusteigen, eine Prostituierte rief einem zögerlich heranrollenden Fahrradfahrer etwas zu. Der hielt an, und die beiden unterhielten sich, leise, geschäftig, bis die Frau abwinkte und sich umdrehte. Die ängstlich rausgemurmelte Beleidigung des Fahrradfahrers, der sich hinter ihrem Rücken an den Lenker klammerte, überhörte sie, stolzierte zurück auf den Bürgersteig und bemerkte plötzlich mich. Aus einem gelangweilten Brauenheben wuchs ein belustigt interessierter, bohrender, zuletzt alles durchdringender Blick. Als spürte sie das Geld in meiner Tasche oder etwas anderes, das sich verändert hatte. Nie hatten sie uns angesehen, nicht auf diese Art. Die Frau machte einen Schritt auf mich zu. Sie war riesig auf ihren ellenlangen Absätzen; in funkelndes Latex gekleidet und das Korsett gnadenlos festgezurrt war sie die fleischgewordene Cyborg-Queen – im letzten Sommer erst war ich in die Cyborg-Kriegerin Alita verliebt gewesen, die so tödlich wie unschuldig war, eine Heldin wie für mich gemacht, Band für Band hatte ich ihre Geschichte aufgesaugt, dann hinter geschlossenen Augen unser gemeinsames Abenteuer erträumt. Die Prostituierte blitzte mich aus ihrem bis ins Unmenschliche geschminkten Gesicht an, lächelte auf eine Art, als kenne sie meine Zukunft, mein Schicksal, weil es das Schicksal von Hunderttausenden war, von all den Männern, die sich ihr offenbarten.

»Na, Kleiner, wat stehste hier rum?«, fragte sie und kam noch näher. Ich roch sie, ihr Parfüm, das durch die Luft züngelte.

»Wat denn, kannste nich sprechen?«, sagte sie.

»Na, hau ab, du Gaffer!«, schimpfte sie auf einmal, hob drohend die Hand, aber ihre Augen blickten unverändert, schläfrig und amüsiert.

Meine Zunge zuckte im Mund, ich wollte etwas erwidern, hatte aber keine Worte, nicht für diese Frau, die mein Herz schlagen ließ, wie es noch nicht geschlagen hatte. Ich machte einen Schritt zur Seite, machte den nächsten, sehr vorsichtig, ich wollte nicht stolpern. Den Blick starr geradeaus, mit steifen Beinen, begann ich hektisch zu gehen, versuchte, nicht ins Rennen zu geraten, zur nächsten Kreuzung, um schleunigst abzubiegen, weg von der Oranienburger, weg von diesen Frauen, die mich von nun an auf jedem spät gewordenen Heimweg auffordern würden, doch mal stehen zu bleiben. Doch die Stimme, mit der mich die Cyborg-Queen so schulterzuckend abgefertigt hatte, hallte noch durch meinen Kopf. Alita hätte nie so geredet, ihre Sprache wäre von einem außerirdischen Klang beseelt gewesen, selbst wenn sie im derbsten Tokio-Dialekt auf mich eingeschimpft hätte. Sie hätte Distanz gewahrt zu diesem Allerweltsprinzip der Sprache, hätte dieses Instrument nicht so barsch und direkt benutzt wie ein Handwerker seinen Hammer, um Nägel einzuschlagen, eine Reinigungskraft den Wischmopp, um Dreck verschwinden zu lassen, nicht wie jemand, der einfach mal sagt, was eben die Lage ist. Dreckige Hure, dachte ich und wünschte, sie hätte geschwiegen, hätte mir einen Zettel gereicht, mit der Ziffer drauf, mich dann ruhig angesehen, um an meinem Gesichtsausdruck abzulesen, ob ich bereit wäre, den Preis zu zahlen und ihr zu folgen. Wie peinlich es mir gewesen wäre, die zerknitterten Scheine aus meiner Hosentasche zu ziehen und sie ihr in die offene Hand zu zählen. Dann wären wir hinabgestiegen in die geheimen Kellerkammern der Bordelle, wo sie mich mit in ihre Welt genommen hätte, die von da an auch meine hätte werden können, eine zügellose Welt, impulsiv und gefährlich, uralt, aber gleichzeitig bedingungslos der Gegenwart verpflichtet, von stillen Übereinkünften unzuverlässig geordnet. Sie hätte mich in ihren abgelegenen Winkel gebracht, die Vorhänge zugezogen … Ich musste nach Hause, ins Bett, die Comics konnten warten, diese Fantasien mussten jetzt sofort hinter geschlossenen Augenlidern weitergemalt werden.

Eine Gruppe von Männern und Frauen, die einander Satzfetzen zuriefen, kreischend und polternd lachten, kam mir entgegen. Ich senkte den Kopf, um sie vorüberziehen zu lassen, da fielen mir etliche helle Punkte auf, die in den Fugen des Gehwegpflasters wie freiradierte Stellen aufleuchteten: die von uns verstreuten, inzwischen zertrampelten Zigarettenstücke. Ich blickte auf. Im diesigen Kneipenrauch hinterm Schaufenster saß eine Frau und sah zur Straße hinaus, in meine Richtung, und ihr Gesicht, die großen glänzenden Augen, der kleine gefährliche Mund, es war das Gesicht meines Battle-Angels Alita. Ihr Körper war jedoch keine perfekte Maschine mehr, sondern aus Fleisch und Blut, in Jeans und Pullover gekleidet. Dem Typ, der an ihrem Ohr hing, so nah, dass seine Lippen es berührten, schien sie überhaupt nicht zuzuhören, ihr Blick war leer, ohne Aufmerksamkeit. Wie durch Gucklöcher in einer spanischen Wand betrachtete ich sie, die dunklen Augenbrauen, die weite Stirn, den schwarzen Haaransatz, ein lebendes, blutdurchströmtes Geschöpf; ich wollte ihren Atem hören, ihre Wärme spüren, ihre Haut schmecken, mein Gesicht über ihres reiben. Ich flüsterte: deine Augen, deine Lippen. Berührte meine eigenen Lippen mit meiner Zungenspitze. Und sie antwortete: Ihre Lippen, von Speichel verklebt, öffneten sich; als sie schluckte, rollte eine kleine Welle ihren Hals hinab, und mit einem Mal blickte sie mir genau in die Augen, jagte mir einen Stromstoß durchs Hirn. Ich wandte mich nicht ab, ich hielt es aus, bis mir klar wurde, dass sie mich selbst jetzt noch nicht gesehen hatte, ihr Blick ja rein zufällig auf meine Augen gerichtet war. Ohne auf das zu achten, was vor ihr lag, die Straße, das Viertel, ich, redete sie zu dem Mann an ihrer Seite. Vielleicht lag es an den Lichtverhältnissen, die mich versteckten, am helleren Innen und am dunkleren Außen, trotzdem hatte ich mit einem Mal genug. Ich trat auf sie zu, ließ eine letzte Sekunde verstreichen, aber es war, als existierte ich nicht. Da klatschte ich mit der flachen Hand direkt auf ihr wundervolles Gesicht, dass die Scheibe bebte. Die Frau schrak zurück, einen Schrei glaubte ich zu hören, in die Blässe ihrer Wangen schoss fleckige Röte, und nun sah sie mich, jedoch ohne etwas zu verstehen. Wir standen einander gegenüber, blickten uns an, über diesen wilden, wütenden Strom hinweg. Alita gab es nicht, nur diesen verschreckten, anonymen Menschen auf der anderen Seite. In meine Richtung lief ich weiter, nach Hause, in mein Zimmer.

Ein empört-dämliches Hey wurde mir hinterhergerufen, von ihrem Mann, Herrn und Beschützer, Einflüsterer, dem der Boden unter seinen Füßen, wo auch immer er stand, gehörte. Ich drehte mich nicht um, trotzdem konnte ich ihn vor mir sehen, wie er herangestürmt kam, bereit, mich für die Ehre, seinen Stolz, für Gerechtigkeit, Rache oder einfach aus Leidenschaft zur Rechenschaft zu ziehen, mich also anzubrüllen oder mir eine zu verpassen, irgendso ein Mist. Die Polizisten vorm Beth Café beäugten mich misstrauisch, warteten aber auf einen entschiedeneren Ruf: »Haltet den Dieb!«, und sie hätten sich auf mich gestürzt und mir mit ihrem läppischen Kung-Fu die Arme auf den Rücken gebogen, aber der Ruf blieb aus, und so glotzten sie mich nur an wie einen aus mangelnder Beweislast schuldig Entlassenen.

Vielleicht war das das Leben, das ich von nun an zu führen hatte. Unauffälligkeit, Beobachtungssinn, Geduld und die Bereitschaft, im richtigen Moment alles zu riskieren – das waren die Tugenden des Diebes, der ich geworden war. Die Welt durfte nicht wissen, dass es mich gab, niemand durfte es wissen, nicht meine Eltern, selbst mein Bruder nicht. Die einzige Familie, die mir blieb, war mein Komplize. Ich trug das Geld eines anderen in der Hosentasche, seine Comicbände unterm Arm. Simon hatte die Scheibe zu Fall gebracht, und wir waren ins Jenseits unserer Welt vorgedrungen, dort taten wir, was uns gefiel, und das war alles, worauf es im Augenblick ankam.

Als ich die Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte, trat Anton aus dem Bad und kam den Flur hinunter auf mich zu.

»Na«, fragte er, »was hast du gemacht?«

»Nichts«, sagte ich, »ganz normal, mit Simon.«

»Ach so, na dann, bis morgen.«

»Gut«, antwortete ich, »schlaf schön«, und lief zu meinem Zimmer, durchs Wohnzimmer hindurch, in dem meine Eltern auf dem Sofa saßen, von ihren Büchern aufsahen, als sie mich hörten, aber es gab nichts zu erzählen.

»Schlaft schön«, rief ich ihnen zu, und sie nickten nur.

Zuletzt lag ich in meinem Bett unter dem Podest, das mein Schreibtisch war. Ich hatte es aus Brettern, zwei Schreibtischen und dem riesigen Schild einer Baustelle, die längst keine mehr war, zusammengelegt, ohne Schrauben, ohne Nägel, erdbebensicher. Unter der niedrigen Decke dieser schmalen Höhle lag ich auf dem Rücken, schob meine Hände auf meinen Bauch, versuchte, die Augen geschlossen zu halten und wie ein Einschlafender zu atmen, tief und leise, aber ich spürte meinen Herzschlag an der linken Schläfe, ein hartes Pochen, als wäre die Ader an dieser Stelle auf einmal zu eng. Der Tag war noch da. Blitzte vor der Dunkelheit meiner zusammengekniffenen Augenlider mit einer Deutlichkeit auf, die alles, was ich wenige Stunden zuvor erst erlebt hatte, überstieg: der blasse Stein in meiner blassen Hand, der verhangene, von der Stadt erleuchtete Nachthimmel im Augenblick, als die Scheibe krachend zerbarst, die Glassplitter, die am Boden glitzerten wie verspritztes Wasser, wie das Licht der Straßenlaternen auf dem Latexkörper der Prostituierten, deren Stimme jetzt wieder durch das hallte, was ich für meinen Kopf hielt, eine hohle, lichtlose Kapsel, in der meine Zungenspitze unwillkürlich zuckte, als wäre es nicht längst zu spät, dieser Stimme etwas zu erwidern, den ewig selben Schwur, dass ich an mein Ziel gelangen würde, so wie Battle-Angel Alita, die ihren Feinden die Köpfe von den Hälsen schlug, um kurz darauf ihren traurig-ernsten, fatalistischen Blick in meinen zu bohren, der ich mich durch ihre Geschichte blätterte, die kein Ende fand, nur die Comicbände, das Material selbst waren endlich. Hinter der Scheibe, gegen die ich meine flache Hand klatschte, warteten schon die Polizisten, die mich fassen würden, sobald die Scheibe brach, und ich hätte kein Schwert, um mich zur Wehr zu setzen, müsste mich hingeben oder fliehen, für immer, das Land verlassen, in einem apokalyptischen Tokio stranden, in dem das Kind Akira zur Bombe anzuwachsen drohte, die alles – und dieses Mal endgültig – vernichten würde, um doch wieder eine letzte Welt, eine letzte Herausforderung, in der sich die vereinzelt Überlebenden behaupten müssten, zu hinterlassen, eine weitere Schicht des Untergangs, Trümmer über Trümmer … Wie ein Feuer lag ich da, war selbst die Glut, selbst die Flamme, selbst der Wind, der immer neue Ausgeburten dieser Geisterwelt, die da in mir war, auflodern ließ. Es war aussichtslos, in diesem Chaos ein Ufer zu suchen. Irgendwann, in einer Stunde oder viel früher, vielleicht viel später, wäre ich eingeschlafen, das wusste ich, dann wäre alles eine Nacht lang vorbei.