Die Landschaft veränderte sich zusehends. Die Anhöhen wurden steiler, die Schatten hinter den Bergkämmen tiefer, und auch Giovannas Gefühlswelt ging auf Berg- und Talfahrt. Elli, ihre Elli, hatte sich auf eine Affäre eingelassen. Sie konnte es nicht glauben. Immer wieder sah sie verstohlen hinüber zu ihrer Freundin, die jetzt eine Pause in ihrer Erzählung gemacht hatte. Wahrscheinlich verlor sie sich gedanklich in Details, über die sie nicht sprechen wollte. Giovanna konnte sich auch so vorstellen, was passiert war, als Elli und Toni sich beim nächsten Mal getroffen hatten. Nach dem Date am See hatten sie sich ein paar Wochen lang nicht gesehen, hatte Elli ihr noch verraten. Es kam Weihnachten, es kam das neue Jahr, und es hatte sich keine Gelegenheit dazu ergeben. Ellis Kinder hatten Ferien und waren zu Hause, inklusive Lena, die aus ihrer Studentenbude in Wien wegen des Weihnachtsbratens und der selbst gebackenen Stollen ihrer Oma nach Hause gekommen war. Giovanna selbst hatte damals einige Tage bei Elli verbracht – und konnte kaum fassen, dass die damals schon ein Geheimnis mit sich herumgeschleppt hatte, das Toni hieß, sie aber auch nicht ein einziges Wort darüber hatte verlauten lassen, nicht mal zu ihrer besten Freundin. Dann, nach den Ferien – Matthias war an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt, die Kinder in der Schule –, hatte Elli Toni angerufen und sich mit ihm verabredet.
Giovanna fiel es schwer, sich auf das Fahren zu konzentrieren, sie nutzte jede Gelegenheit, einen Blick auf ihre Freundin zu werfen, noch immer ungläubig. Ein wenig konsterniert. Ein bisschen bewundernd.
Kaum zu fassen, dass sie aussah wie immer. Man hätte es ihr ansehen müssen, dachte Giovanna, ihr Lächeln hätte sie doch verraten müssen, ein besonderes Leuchten in ihren himmelblauen Augen.
Doch Giovanna sah nichts, was sie nicht schon seit Jahrzehnten gesehen hätte. Ellis blonde Löckchen, die auf Höhe ihres Kinns wippten, filigran, wie gezeichnet, die wie immer in erstaunlichem Kontrast standen zu Ellis markantem Profil mit dem kräftigen Kinn und der kleinen Falte der Entschlossenheit, eingefräst in die Haut neben ihrem Mundwinkel. Eine Entschlossenheit, die für Elli so typisch war, die sich jedoch so überhaupt nicht mit jener Zerrissenheit vertrug, die Giovanna jetzt bei der Erzählung der Freundin gespürt hatte. Elli war immer die Zielstrebigste von ihnen allen gewesen, hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie wusste, in welche Richtung sie zu gehen, welche Entscheidungen sie zu treffen hatte.
Sie hatte weinend ihren Vater beerdigt und voller Schmerz ihr erstes Kind betrauert. Doch dann war sie aufgestanden, hatte das Kinn nach vorne gereckt und war weitergegangen. Erst recht. Und immer geradeaus. Niemals hatte Elli den Anschein erweckt, dass sie ins Straucheln geraten könnte, trotz aller Steine, die ihr in den Weg gelegt worden waren. Und Matthias, der treue Matthias, war immer an ihrer Seite gewesen, wie eine Figur in ihrem Spiel. Keine, die einer Partie eine Wendung geben konnte, aber doch eine, die unverzichtbar war. Er war wie einer jener Bauern in den Schachpartien, die seine große Leidenschaft waren. Seine einzige, abgesehen von seiner Frau, wenn man so wollte. Manchmal spielte Giovanna mit ihm, wenn sie zu Besuch war.
Giovannas Vater Christian hatte seinen beiden Töchtern das Schachspielen beigebracht, kurz nachdem sie in München angekommen waren. Es mussten so viele Abende herumgebracht werden, an denen er sie davon ablenken wollte, dass ihre Mutter fehlte. Und obwohl Antonella und Giovanna seine Absicht durchschauten, ließen sie sich gerne darauf ein, und es dauerte nicht lange, da hatte Antonella ihrem Vater ein erstes Schachmatt abgerungen – wenn auch Giovanna davon überzeugt war, dass er ihre Schwester hatte gewinnen lassen.
Für Giovanna war das Schachspiel die einzige Ebene, auf der sie sich wirklich mit Matthias verstand, auf der ihr unterschiedliches Verständnis von Humor keine Rolle spielte. Giovanna mochte Matthias, sie schätzte ihn sehr für seine Treue zu ihrer Freundin, für die Stabilität, die er Elli und ihren Kindern gab. Niemals, da war sie sich sicher, niemals hätte er eine andere auch nur angesehen. Nicht einmal sie – und es kam wahrlich nicht oft vor, dass ein Mann nicht wenigstens einen zweiten Blick riskierte.
Doch Giovanna hatte nie so recht einschätzen können, was Matthias eigentlich von ihr hielt. Ihre ganz spezielle Art, mit Männern umzugehen, funktionierte bei Matthias nicht. Er war nicht empfänglich für ihren Charme, und sie legte es auch nicht darauf an. Vielmehr hütete sie sich, auch nur ansatzweise mit ihm zu flirten. Und Matthias forderte es nicht heraus. Doch so fehlte ihr die sichere Basis im Umgang mit ihm. Sie wusste nicht so recht, wie sie ihn nehmen sollte. Obwohl sie ihn mochte, vermied sie es, sich mit ihm allein zu unterhalten. Sie hatten sich einfach nichts zu sagen. Nur wenn ein Schachbrett zwischen ihnen lag, funktionierten sie miteinander, und Giovanna war froh darüber, dass sie das irgendwann herausgefunden hatten.
Giovanna war Ellis Trauzeugin gewesen, Elli hatte sie zur Patin ihrer jüngsten Tochter gemacht, all ihre Kinder nannten sie »Tante Giò«, und abgesehen davon, dass Elli ihre beste Freundin war, war diese Familie trotz des nicht ganz einfachen Verhältnisses zu Matthias Giovannas Hafen. Die Tür stand ihr jederzeit offen, das signalisierte ihr auch Matthias. Ob er in diesem Punkt seiner Frau und den Verpflichtungen ihrer Freundschaft zu Giovanna oder seinem eigenen Antrieb folgte, wollte sie gar nicht hinterfragen. Sie war froh, dass es so war, und schätzte die Sicherheit dieses Familienanschlusses.
Dass durch Ellis Fremdgehen all das in Gefahr geraten könnte, stürzte Giovanna in einen Strudel aus unterschiedlichsten Gefühlen.
Elli hat eine Affäre. Giovanna schmeckte dem Satz nach, der sich wie ein Perpetuum mobile in ihrem Gehirn immer und immer wieder erneuerte. Sie konnte es nicht fassen. Andere hatten so etwas, ja. Sie selbst hatte Affären, nicht zu wenige. Aber sie hatte auch keinen Matthias und keine Kinder. Sie lebte noch nicht einmal in einer Beziehung, geschweige denn in einer Familie, Gott bewahre!
Von einem objektiven Standpunkt aus aber erschien ihr ein Familienleben als der Idealzustand. Zumindest wenn man ihn so gestalten konnte, wie Elli und Matthias das – von außen betrachtet – taten. Ein Zustand allerdings, den sie für sich selbst nie anzustreben gewagt hatte.
Aber war es so? War Ellis Ehe tatsächlich ideal? Entsprach die Wirklichkeit denn dem Bild, das sich Giovanna davon gemacht hatte? Oder hatte es bereits vor Toni Anzeichen für einen Riss gegeben, die sie übersehen hatte? Vielleicht war ihre Freundin Elli viel weniger glücklich, als sie gedacht hatte. Oder ging es um etwas anderes? Irgendetwas musste ihr fehlen in ihrer Beziehung. Sonst tat man so etwas nicht. Glaubte sie zumindest. Aber was war es? Hatte Elli Signale ausgesandt, die Giovanna nicht bemerkt hatte? Die sie nicht hatte bemerken wollen? Weil sie gefürchtet hatte, jene Konstante in ihrem Leben zu verlieren, die Elli und ihre Familie für sie gewesen waren? Hätte sie als beste Freundin erkennen müssen, dass es anders war?
Elli war für Giovanna schon immer der beständige Fels in der Brandung gewesen, mehr als Marie, die sich ihr immer wieder entzogen hatte, nicht erst jetzt, als sie wortlos nach Italien abgewandert war. Ganz anders auch als Antonella, die sich als Kind eher an Giovanna angelehnt hatte als andersherum, und aus dem Strudel der Selbstzerstörung, der sie immer wieder erfasste, nur herausfand, wenn sie sich an ihre Schwester klammern konnte. Anders auch als ihr Vater, der auch mit seinen eigenen Abgründen und, abgesehen davon, im Geiste fast immer mit seiner Arbeit beschäftigt war. Viel mehr als »okay« und »ach ja«, war dann nicht von ihm zu hören, dann wirkte er abwesend, völlig in Gedanken, ging manchmal schon bei der geringsten Kleinigkeit in die Luft. Antonella verließ in solchen Momenten den Raum, selbst wenn sie gerade miteinander am Esstisch saßen. Giovanna verfiel in eisiges Schweigen, das sie selten lange durchhielt – dafür liebte sie ihren Vater viel zu sehr. In seinen guten Momenten war er für sie der beste Vater der Welt, konnte seine Mädchen um den Finger wickeln, war er bei ihnen und fing sie auf, ganz egal, was sie gerade belastete. Dann fand er die richtigen Worte für alles.
Doch das war jetzt vorbei. Giovanna konnte sich nicht vorstellen, wie sie ihm jemals verzeihen sollte. Nicht diesen Verrat. Aber darüber wollte sie im Augenblick nicht nachdenken.
Jetzt hatte sie erst einmal damit zu tun, sich im Hinblick auf diese ganz neue Elli klar zu werden, eine Haltung zu der Tatsache zu gewinnen, dass Ellis Fremdgehen auch ihr eigenes Leben tangieren konnte. Elli hatte nichts dazu gesagt, was sie nun vorhatte. Wie viel Toni ihr bedeutete. Genug, um Matthias zu verlassen? Genug, um ihre Familie zu sprengen? Giovanna bekam eine Gänsehaut, wenn sie sich das vorstellte. Nicht nur um Lilly, Nick und Max willen, natürlich auch wegen Matthias, nein, auch um ihrer selbst willen. Giovanna lebte seit Antonellas Tod halt- und ziellos, nur im Augenblick, ihr Liebesleben bestand daraus, in Beziehungen hineinzuschlittern und wieder herauszupurzeln. Ellis sauber geordnete Existenz war für sie eine Konstante gewesen – mehr noch, ein essenzieller Teil von Giovannas Betriebssystem, erprobt, schnörkellos, aber absolut zuverlässig. Keiner, der ein Update nötig hätte. Sie hasste Updates. Dabei war noch nie etwas Besseres herausgekommen. Never change a running system. Wollte Elli ihre Familie, ihre funktionierende Ehe ernsthaft aufs Spiel setzen? Wie hatte es dazu kommen können? Und wieso habe ich nichts davon bemerkt? Giovannas Gedanken drehten sich im Kreis, und sie wurde immer unruhiger, je mehr sie darüber nachdachte.
Mit jedem Kilometer, der unter ihnen dahinglitt, der sie weiter hinauf in Richtung Berge brachte, näher zu Marie und näher zur Konfrontation mit noch mehr offenen Fragen, schwand Giovannas ohnehin höchst fragile Gelassenheit immer mehr dahin. Der Optimismus, den sie gespürt hatte, als ihre Entscheidung für das Akkordeon endlich getroffen war, zerbröselte gerade zu Staub und wurde gemeinsam mit dem Abrieb der Reifen zu Schmutz auf dem heißen Asphalt der Straße.
So war die Stimmung nicht gerade überschwänglich im Auto, als sie schließlich die Strada Statale 4 verließen und in eine kleinere Straße einbogen. Chiesavalle lag, wie Marie es Elli beschrieben hatte, im Einschnitt eines tiefen Tals zwischen zwei Bergen. In engen Windungen zog sich der Weg dahin durch Wälder aus Eichen, Akazien und Kastanien hindurch. Ab und an zeugten einzelne Häuser von menschlicher Anwesenheit in dieser etwas unwirtlichen Gegend. Giovanna fühlte sich nicht recht wohl zwischen den dicht bewachsenen Abhängen, die an vielen Stellen bis direkt an die Straße heranrückten, und hoffte, dass es in Maries Tal ein wenig weitläufiger sein würde.
Gelegentlich lichteten sich die dicken Stämme, und Giovanna musste blinzeln, um ihre Augen nach dem dichten Schatten zwischen den Bäumen wieder an die Sonne zu gewöhnen. Dann, schließlich, machte die Straße eine weitere scharfe Kurve – und unvermittelt tauchte ein Ortsschild auf, halb versteckt im Gestrüpp, das offenbar schon lange nicht mehr ausgeschnitten worden war. Chiesavalle. Giovannas Herz machte einen kleinen Stolperer. Ockerfarbene und gelblich getünchte Häuser krallten sich rechts und links in den Berg. Nach einer weiteren Kurve durfte der Blick endlich schweifen. Sie bogen in eine wunderschöne schattige Pappelallee ein, die offenbar auf den Ortskern zuführte und an deren linker Seite ein kleiner Park lag. Unter einer mächtigen Linde, die einen schirmförmigen Schatten auf den augustbraunen Rasen warf, saßen ein paar alte Männer auf einer Bank und warteten dort auf das Vergehen der Zeit. Die Allee gabelte sich an ihrem Ende. Wo die Bäume aufhörten, verlief sie links herum offenbar außen am Ort vorbei. Der rechte Weg schien nach Chiesavalle hinein zu führen. Sie folgten dem Sträßchen ein Stück weit, geschlossene Läden kündeten von der Mittagsruhe, Macelleria, Panificio, Alimentari, alles, was das Geschäftsleben im Ort ausmachte, reihte sich hier aneinander. Häuser, deren Substanz der Staub von Jahrhunderten sein musste, standen hier Mauer an Mauer, direkt vor ihnen ragten sie zwei- oder dreistöckig in die Höhe, nicht hoch genug, um die steilen Anstiege im Hintergrund zu verdecken, das Städtchen nicht groß genug, um an den Hängen so weit hochgewachsen zu sein, dass es überhaupt Städtchen genannt werden konnte.
Trotz der Dachterrassen und einladenden Balkone mit ihren filigranen Geländern hatte die Kulisse für Giovanna nichts Liebliches. Der Taleinschnitt, in dem das Dorf lag, beengte sie auf Anhieb. Unwillkürlich drängte sich ihr die Vorstellung auf, wie es hier im Winter sein musste – hier, wo überall Verkehrsschilder an den Straßenrändern standen, auf denen das Symbol für Schnee prangte, gleich unter jenen, die vor plötzlichen Unwettern warnten. Giovanna mochte weder Schnee noch Berge und war froh, dass jetzt, mitten im August, zumindest mit Ersterem nicht zu rechnen war.
Im Vorbeirollen an Chiesavalles Hausfronten konnten sie das eine oder andere Loch im Mauerwerk erkennen. Elli, die sich vorgebeugt hatte, um besser sehen zu können, deutete auf eine Stelle, an der ein mindestens eineinhalb Quadratmeter großes Stück Putz herausgebrochen war und die Ziegelschicht offenbarte, die darunter lag.
»Erdbeben?«, fragte Elli. »L’Aquila – ist das nicht in der Nähe?«, fügte sie hinzu. »So lang ist das doch noch nicht her, oder?«
Giovanna war sich nicht sicher. »Ein paar Jahre vielleicht«, überlegte sie, da hatte es in der Provinzhauptstadt der Abruzzen ein schweres Beben gegeben, das die Stadt weitgehend vernichtet hatte. »Doch, da hast du recht.« Mit ihren Eltern war sie als Kind einmal in L’Aquila gewesen, aber daran konnte sie sich kaum mehr erinnern.
Das mulmige Gefühl in ihrem Bauch aber wurde stärker. Die Straße wurde schon so eng, dass Giovanna bezweifelte, mit dem Wagen noch weiterfahren zu können, da öffnete sie sich hinter einem steinernen Torbogen auf einen größeren Platz, der zugleich das Zentrum des Orts zu markieren schien. Vor und rechts von ihnen schien die Häuserfront geschlossen und rahmte den schönen Platz in einem Halbkreis ein, nach links öffneten sich zwei Gassen, wovon die eine an der hohen Mauer der Kirche entlangführte, die dem Ort wohl ihren Namen gegeben hatte.
»Hier gibt es kaum Parkplätze«, sagte Giovanna. »Vielleicht fahren wir zurück zur Gabelung, oder weißt du, wie es weitergeht?«
Elli schüttelte den Kopf und sah sich ein wenig unschlüssig um. »Nee, auch nicht genau.«
»Hast du keine Adresse?«
»Sie hat gesagt, wir müssen durchs Dorf durch, sie wohnt am anderen Ende«, erklärte Elli.
»Ein bisschen vage. Hier geht’s jedenfalls nicht weiter. Vielleicht sollten wir jemanden fragen, was meinst du?« Elli nickte. Giovanna wendete und fuhr den Wagen durch den Bogen zurück und die Hauptstraße entlang bis zu der Stelle, an der sie von der Allee in den Ort abgebogen waren. Dort hielt sie an und deutete auf eine Bar zu ihrer Linken.
»Schau mal, da ist jemand, vielleicht kannst du ihn fragen«, schlug Elli vor. »Und frag nach der Gruppo di Monaco, die kennt hier in dem Kaff wahrscheinlich jeder.«
»Ernsthaft? Gruppo di Monaco?« Giovanna konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ein bisschen mehr Fantasie hätte ich Marie schon zugetraut.«
»Ist ja nicht von ihr, der Name«, antwortete Elli.
»Okay, ich geh schnell«, rief Giovanna schon im Aussteigen und überquerte die Straße. Vor dem Café saß Zeitung lesend ein älterer Mann an einem Tisch mit Blumenmustertischdecke und mit einem viel zu großen Metallgestell als Brille auf der Nase, deren oberer Rand mit dem Pelz kollidierte, der seine Augenbrauen bildete. Er sah auf, als Giovanna näher kam, und ließ die rosafarbenen Seiten der Gazzetta sinken. Natürlich kenne er die Gruppo di Monaco, antwortete er etwas krächzend. »La Signora Marie? Ssssì, la conosco. Può trovarla nell’ultima casa del villaggio.«
»Im letzten Haus des Dorfs«, wiederholte Giovanna. So hatte Marie es auch Elli beschrieben. Aber wo genau sollte das sein? Fragend hob sie die Augenbrauen. »Ma dove si trova?«
»Ihr seid nicht von hier, oder?«, fragte der Mann auf Italienisch. Er lachte sie an und offenbarte dabei eine gewaltige Zahnlücke zwischen ein paar Schneidezähnen, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten. Dann stand er auf, faltete seine Zeitung zusammen und schob sie unter seine Kaffeetasse, damit sie im leichten Wind nicht davonfliegen konnte. Man sah ihm an, dass er Schmerzen hatte, als er sich jetzt mit beiden Händen auf die Tischplatte stützte und hochdrückte. Die Hüften, vermutete Giovanna. Ihr Vater stellte sich mittlerweile ähnlich an, wenn er länger gesessen hatte. Ach Papà …
»Allora, Signora.« Der alte Mann hatte sein Gleichgewicht gefunden und kam jetzt auf sehr kurzen Beinen um den Tisch herum. Aufrecht war er kaum größer als im Sitzen, bemerkte Giovanna amüsiert. Es kam nicht oft vor, dass sie jemanden traf, der kleiner war als sie. Der Alte reckte sich, als er bei ihr anlangte, berührte sie am Arm und bedeutete ihr, ihm auf die Kreuzung hinaus zu folgen. Mit der Hand zeichnete er den weiteren Verlauf der Straße nach, die hinter dem letzten Baum der Allee eine Linkskurve machte, dann nach rechts schwenkte, an den äußersten Mauern des kleinen Städtchens vorbeilief und sich in einer Rechtskurve hinter einem Haus verlor, das so windschief an der Böschung hing, als hätte ein Kind es aus Holzklötzen gebaut und beim Aufräumen mit der Hand einmal darübergewischt, es dann aber einfach stehen gelassen. Hier sollten sie weiterfahren, machte er ihr klar. Die Zahnlücke war wohl verantwortlich für das Lispeln, mit dem er sagte: »Dovete andare sssempre dritto fino al ponte.« Immer geradeaus, sollte das wohl heißen, bis sie an eine Brücke kommen würden. Dort rechts über einen Bach und dann weiter bis zum Ende des Ortes. »Fine del mondo«, hatte er allerdings gesagt, Ende der Welt, und Giovanna sah ihn zweifelnd an. »La fine del mondo?«
»Sssì, sssì.« Der Alte ließ ein schepperndes Lachen hören, bei dem er nicht nur seine Zahnlücke entblößte, sondern den Blick beinahe bis hinunter zu seinen Mandeln freigab.
»È la fine del mondo lì.« Er lachte wieder, dann stieß er Giovanna vertraulich in die Seite. »Sssto scherzando, bellissima SSSignora. Sssembra proprio cosssì.« Giovanna war sich nicht ganz sicher, ob er wirklich nur gescherzt hatte, der alte Mann, wie er gesagt hatte. Das mit dem Ende der Welt schien sich zu verdichten. Dann wandte der Alte sich wieder um, deutete auf ihr Kennzeichen – »Monaco, sssì?« – und verfiel wieder in sein seltsames Lachen, das diesmal in ein atemloses Husten mündete, aus dem er nicht mehr so leicht herauszukommen schien.
»Tutto a posto?«, fragte Giovanna besorgt, machte einen Schritt auf den kleinen Mann zu, der mitten auf der Straße stand und sich vor Husten schüttelte, und wiederholte noch einmal: »Alles in Ordnung?« Zum Glück kam hier wohl nur selten ein Auto vorbei, sodass er seine Hustenattacke ohne weitere Gefahr für Leib und Leben zu Ende bringen konnte.
»Sssì, sssì, sssempre dritto«, keuchte er, noch einmal mit scheinbar letzter Kraft die Straße hinauf winkend, als wolle er ein Insekt vertreiben, dann schleppte er sich zurück zu seiner Zeitung, während Giovanna ihm nachblickte, bevor sie wieder zu Elli ging und ins Auto stieg.
Sie sah gerade noch, wie die Freundin ihr Handy wegsteckte. Vermutlich hatte sie gerade diesem Toni eine Nachricht geschickt. Giovanna verkniff sich eine Bemerkung und wiederholte für Elli die knappe Streckenbeschreibung, die sie bekommen hatte.
»Na, dann wollen wir mal ans Ende der Welt fahren«, rief Elli betont locker, und Giovanna ließ den Motor an.
Außerhalb des Zentrums, das sie sicher in den nächsten Tagen anschauen können würden, hatte das Örtchen nicht viel zu bieten. Wenige Häuser duckten sich rechterhand ins Gesträuch. Ein Stück hinter der Kurve erreichten sie die beschriebene Brücke, sie zweigte nach rechts von der Straße ab. Ein Bauwerk aus steinernen Quadern, das aussah, als habe es schon den alten Römern zur Überquerung des Wasserlaufs gedient, der sich hier seinen Weg durch die Wildnis bahnte. Giovanna sah ein wenig zweifelnd zu Elli hinüber. »Kann er die gemeint haben? Die ist uralt, sieht aus, als ob sie jeden Augenblick zusammenbricht.«
»Na ja, allzu viele Brücken dürfte es hier nicht geben. Die wird schon halten. Und sonst kommen wir ja nicht über den Fluss.« Elli war pragmatisch wie immer.
»Du wirst schon recht haben«, sagte Giovanna und steuerte den Wagen vorsichtig über die schmale Fahrbahn auf die andere Seite des Flussbetts hinüber, das links und rechts dicht mit hohem, gelblich-braunem Gras bestanden war. Es war nicht mehr als ein Rinnsal, das die Brücke überspannte. Die Hitze, die seit Wochen über dem Land lag, war wie eine Brutglocke, und der Regenschauer vom Tag zuvor kaum mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein gewesen.
»Hat er gesagt, wie weit wir der Straße folgen sollen?«, wollte Elli wissen. »Hoffentlich sind wir bald da!« Sie wischte sich mit der Ecke eines ihrer weiten Ärmel über die Stirn. »Ich zerfließe bald.«
»Bis zum Ende sollen wir fahren«, antwortete Giovanna, »bis zum Ende, hat er gesagt.« Und sie spürte, wie sich ein paar Härchen auf ihren Armen aufrichteten.
Das mulmige Gefühl wollte gar nicht mehr vergehen und hatte sich in ihrer Bauchgegend festgesetzt. Sie hatte doch nichts Falsches gegessen?
Sie konnten kaum schneller als 25 km/h über das unebene Pflaster der schmalen Straße fahren, die sie ein Stück am Bachlauf entlangführte. Er schien aus einem Einschnitt zwischen zwei Berghängen zu kommen. Auch hier standen vereinzelt Häuschen, die etwas mehr Platz um sich herum hatten als unten im Dorf; manche waren von kleinen Gärten umgeben oder hinter Mauern verborgen. Dann verließ die Straße den Bachlauf, drehte nach rechts, ein, zwei Grundstücke kamen noch, ein kleiner Anstieg, links von ihnen ein Weinberg, rechts erstreckte sich ein kleiner Olivenhain, dann war die Straße zu Ende.
Zwei windschiefe Pfosten rechts und links der Fahrbahn, an deren einem ein ebenso schiefes Gatter hing, rahmten sie ein und markierten den Zugang zu einem recht großzügigen Platz, teilweise mit trockenem Gras bestanden, teilweise mit Kies bestreut, der von einem alten Schuppen und einem Hühnerstall begrenzt und von üppig wucherndem Buschwerk umgeben war. Das zugehörige Haus lag links von ihnen, Türen und Fenster waren geschlossen, wahrscheinlich, um die Mittagshitze fernzuhalten. Giovanna fuhr den Wagen ein Stückchen in den Hof hinein und schaltete den Motor aus.
»Scheint niemand da zu sein«, sagte Elli, die schon nach ihrer Handtasche auf dem Rücksitz angelte.
»Hhm«, machte Giovanna. Sie war so nervös, dass sie fürchtete, einen Hickser in der Stimme zu bekommen, wenn sie mehr sagen würde. Um das Haus besser sehen zu können, lehnte sie sich nach vorne. Im Erdgeschoß war eine neue Haustür aus hellem Holz eingebaut. An der Seite führte außen eine Steintreppe mit einem schmiedeeisernen Geländer zum ersten Stock hinauf. »Sieht aus, als gehörte der erste Stock gar nicht richtig dazu«, erklärte Elli. Giovanna machte wieder »Hhm«.
Sie merkte, dass ihre Hände leicht zitterten, als sie im Handschuhfach nach ihrem Handy wühlte und versuchte, den Moment noch ein bisschen hinauszuzögern, in dem sie die Türe öffnen und hinaussteigen würde. Eigentlich wäre sie jetzt am liebsten auf der Stelle wieder gefahren, ohne Marie gesehen zu haben. Sie kam sich so wenig willkommen vor wie überhaupt noch nie. War es richtig gewesen, hierherzukommen?
»Also, was ist jetzt? Schauen wir, ob sie da ist?« Elli wirkte, als würden sie mal eben einen Nachbarschaftsbesuch machen. Sie hat leicht reden; ich bin hier die Persona non grata.
»Und jetzt sag nicht wieder ›hhm‹!« Elli hatte schon den Griff der Autotür in der Hand, als direkt neben Giovanna das Gesicht eines weißgescheckten Hundes auftauchte, der seine riesigen Pfoten auf den Fensterrand gelegt hatte und nun durch das geöffnete Seitenfenster hereinhechelte. Sie zuckte zusammen und versuchte, so viel Abstand wie möglich zum Fenster zu bekommen, auch wenn das Tier keine unfreundlichen Absichten zu hegen schien. Es versuchte jetzt, mit der Zunge ihr Gesicht abzulecken, was Giovanna noch weniger schätzte.
»Bei aller Freundschaft«, sie hob abwehrend die Hände und erwog, den großen Kopf von sich fortzuschieben, der seine Liebesbezeugungen jetzt auf ihre Unterarme ausdehnen wollte. Aber vielleicht war es auch nur seine Absicht, sie ordentlich einzuspeicheln, um sie anschließend umso besser beißen zu können. Giovanna hatte es nicht so mit Hunden. Dann ertönte von draußen ein scharfer kurzer Befehl, und wie der Blitz war der Hund von der Tür verschwunden. Und ein anderes Gesicht tauchte in der Fensteröffnung auf.
Giovanna, die sich gerade die Hände an ihren Hosenbeinen abputzte und abgelenkt war, sah sie nicht gleich. Und dann brauchte sie einen Augenblick, um sie zu erkennen. Die Sonne stand genau hinter ihrem Kopf – und es war zu lange her, dass sie sich gesehen hatten. Marie.
»Na, wen haben wir denn da?« Maries Stimme. Aber hatte sie immer schon so dunkel geklungen? Giovanna wusste nicht, was sie fühlen, noch weniger, was sie sagen sollte. Zum Glück verschwand Maries Kopf in diesem Moment wieder aus dem Fensterrahmen, weil Elli drüben ausgestiegen und ums Auto herumgekommen war. Während Giovanna die Tür öffnete und sich hinter dem Lenkrad hervorquälte, beobachtete sie, wie die beiden Freundinnen sich umarmten – so, als hätten sie sich gestern zum letzten Mal gesehen. Und dann wandte sich Marie zu ihr. Sie stand ihr gegenüber, und Giovanna fühlte sich seltsam befangen. Marie sah sie an. Noch immer im Gegenlicht. Giovanna war sich nicht sicher, ob sie lächelte. Ob sie der Freundin um den Hals fallen oder ihr lieber die Hand reichen sollte. Fühlte sich Marie genauso? Hatte sie die gleichen Gedanken? Die Zeit schien festgetackert in diesem Augenblick. Auf diesem Stückchen Land am Ende der Welt. Zwischen diesen beiden Frauen.
»Also, irgendwas müsst ihr jetzt tun.«
Das war Ellis Stimme, die da plötzlich an ihr Ohr drang. Elli. Zum Glück. Sie löste die Erstarrung. Im selben Augenblick traten beide einen Schritt vor, aufeinander zu. Und umarmten sich. Vorsichtig. Ein bisschen steif. Nicht wie ein Paar, das sich zum ersten Mal in die Arme fällt und es kaum mehr erwarten kann. Eher wie zwei Verwandte, die es tun, weil man es eben so tut. Und doch fühlte es sich gut an für Giovanna. Es tat gut, den knochigen Körper der Freundin zu spüren. Erst in diesem Moment wurde ihr klar, wie sehr sie sie vermisst hatte. Und wie sehr das Gefühl des Vermissens ihr ganzes Leben prägte. Es fiel ihr nicht leicht, die Tränen zurückzuhalten, die in ihr hochstiegen, aber bei aller Distanz kannte sie Marie doch noch gut genug, um zu wissen, dass sie das wohl nicht goutieren würde. Und noch weniger würde sie selbst zeigen, dass ihr das Wiedersehen naheging. Wenn es ihr denn naheging. Doch davon war Giovanna ganz und gar nicht überzeugt.
Der Moment währte nur kurz, dann trat Marie zurück und rief ihren Hund zu sich, der sich auf ihren Befehl hin brav in den Schatten eines staubigen Ginsters gelegt und dort gewartet hatte. »Jimmy, komm her.« Das riesige Tier folgte sofort und sprang mit solcher Geschwindigkeit auf die drei zu, dass Giovanna erschrocken einen Schritt zurückwich. Quittiert von einem unwilligen Kopfschütteln Maries, bei dem sich ein paar graue Strähnen aus dem Tuch lösten, das sie sich um den Kopf gebunden hatte. »Du musst stehen bleiben, sonst meint er, er kann dir Angst einjagen«, erklärte Marie, »das ist ein starker Rüde, der merkt sofort, wenn er der Mächtigere ist. Du hast immer noch Angst vor Hunden, oder?«
Giovanna hob die Schultern, nicht ohne Jimmy auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Marie nahm sie am Arm und zog sie zurück auf die Stelle, an der sie zuvor gestanden hatte. »So, jetzt bleibst du genau hier stehen. Ich lass ihn jetzt da hinten Platz machen, und dann rufst du ihn. Und wenn er kommt – bleib auf jeden Fall stehen! Er wird dir nichts tun, aber sollte er hochspringen, hebst du die Hand und sagst ganz fest: Runter, Jimmy.« Marie fragte gar nicht erst nach, ob Giovanna einverstanden war mit ihrer kleinen Einführung in die Hundedressur. Sie ließ sie stehen, packte Jimmy am Halsband und führte ihn zurück zu der Stelle, an der er vorher gelegen hatte. Dort befahl sie ihm, sich wieder hinzulegen, sah zu Giovanna herüber und nickte ihr zu. »Jetzt kannst du.«
Kann ich oder muss ich? dachte Giovanna, wollte aber nicht riskieren, dass Marie vom ersten Augenblick an sauer auf sie wäre. Elli, die bisher nur danebengestanden und zugesehen hatte – sie liebte Hunde von klein auf und hatte noch nie Angst vor ihnen gehabt –, rückte etwas näher zu ihr hin. Giovanna registrierte dankbar, wie sie sich jetzt halb hinter sie stellte und »Ich bin da« flüsterte. Dann rief sie – mit einer Stimme, auf die sie selbst nicht gehört hätte – »Komm!«. Jimmy rührte sich nicht von der Stelle, ja, er zuckte noch nicht mal mit einem seiner halb herunterhängenden Ohren, so schien es Giovanna.
»Giò, mit dem Tonfall jagst du noch nicht mal einer Maus Respekt ein«, rief Marie herüber. »Jetzt stell dir doch einfach mal vor, du wärst der Chef!«
Chef, Chef, dachte Giovanna, was heißt Chef. Sie kam sich vor wie ein Depp, als sie jetzt erneut nach dem Hund rief. Diesmal hob er zumindest den Kopf und sah zu ihr herüber, dann blickte er auf sein Frauchen, und Giovanna meinte zu sehen, dass Marie ihm mit einer Handbewegung bedeutete, weiter liegen zu bleiben. Das konnte aber auch täuschen.
»Noch mal«, rief Marie jetzt, »das gibt’s doch gar nicht. Wenn du hierbleiben willst, musst du mit ihm klarkommen, sonst kann ich dich hier nie allein lassen.«
Soso, war das jetzt die Ausladung? Oder meinte Marie es einfach nur gut? Giovanna fühlte leichten Ärger in sich aufsteigen, und der fand seinen Weg in ihre Intonation, als sie noch einmal rief. »Jimmy, komm hierher!« Und, oh Wunder, es funktionierte. Nicht, dass Jimmy nicht noch einmal zu Marie geschaut hätte, bevor er losspurtete, aber er kam, rannte auf Giovanna zu, Beine, Ohren und die zotteligen Haare seines Fells flatterten, wehten und ruderten in alle Richtungen, und als Giovanna eben schon wieder nach hinten weichen wollte, spürte sie Ellis Hand in ihrem Rücken. Sie biss die Zähne zusammen, als Jimmy bei ihr anlangte und es einen Moment lang so aussah, als wolle er tatsächlich an ihr hochspringen. »Nein«, zischte sie ihm entgegen, »unten bleiben«. Und Jimmy blieb unten, wuselte aber aufgeregt um ihre Beine herum, schnüffelte an ihren Füßen und Händen.
»Das machst du gut«, brüllte Marie über den Platz. »Und jetzt soll er sich hinlegen.«
»Wie?«, rief Giovanna zurück.
»Indem du ›Platz‹ sagst«, raunte Elli ihr ins Ohr.
»Ernsthaft? Das heißt wirklich so?« Giovanna war ihr Leben lang allen Hunden aus dem Weg gegangen, wenn es ihr möglich war. Hatte nie den Drang verspürt, sich mit einem solchen gefährlichen Wolfsverwandten zu umgeben, und diese furchtbar deutsch klingenden Befehle kannte sie nur vom Hörensagen.
»Also, mach jetzt!« Das war wieder Elli. »Sonst gibt sie keine Ruhe.« Damit meinte sie Marie.
»Also gut.« Giovanna richtete ihren Blick auf den Hund, der gerade angefangen hatte, ihr Knie abzulecken. »Jimmy? Jimmy! Mach Platz jetzt.« Und als er nicht gleich von ihrem Knie abließ, brüllte sie ihn an: »Platz! Jetzt!« Ein Wunder geschah. Der Hund fiel gleichsam in sich zusammen und sank zu Giovannas Füßen auf den staubig trockenen Boden nieder. Er winselte ein bisschen.
»Na siehste. Genauso muss man es machen.« Marie kam mit einem frohlockenden Grinsen wieder zu ihnen herüber. »Ich wusste, du schaffst das!«
»Aber er winselt. Ist das normal?«
Marie musste lachen. »Klar. Er mag genauso wenig, dass ihm jemand sagt, was er zu tun hat, wie ich.«
Giovanna schenkte ihr ein süßliches Lächeln. Ich mag das auch nicht, dachte sie, sagte aber nichts. Dafür schaltete sich Elli jetzt wieder ein.
»Jimmy?«, fragte sie, an Marie gewandt, »ernsthaft?« Dass Marie schon als Elfjährige eine Vorliebe für James Dean gehegt hatte, wusste jeder. Aber dass sie ihren Hund nach ihrem Idol benennen würde …
Marie nickte. Die Ironie in Ellis Frage ignorierte sie. Zumindest tat sie so, als würde sie sie nicht bemerken. »Jimmy der Zweite, um genau zu sein. Sein Vorgänger ist vor eineinhalb Jahren unter die Räder gekommen«, erklärte sie ohne eine sichtbare Regung. »Wir mussten schnell einen Neuen anschaffen, sonst wäre Nicoletta durchgedreht.«
»Und wer ist Nicoletta?«, schaltete sich nun Giovanna ein, noch immer mit einem halben Auge nach Jimmy schielend, der erstaunlicherweise jetzt den Kopf zwischen die Pfoten gelegt hatte und sich völlig harmlos gab.
Marie sah sie an, und Giovanna konnte ihren Blick beim besten Willen nicht deuten. »Nicoletta ist meine Tochter.«
Elli riss es, das konnte sie spüren, genauso wie sie selbst. Es war, als hätte sich die Konsistenz der Luft um sie herum verändert. Giovanna hörte, wie Ellis Stimme vor Überraschung dünn geworden war, als sie fragte: »Deine Tochter? Also, wie? Ich dachte …«
»Ja, meine Tochter. Ich habe noch ein Kind gekriegt. Sie ist hier geboren«, fiel Marie ein, »ich ziehe sie allein groß, Larry hilft mir.«
»Aha.« Giovanna fiel nichts Besseres ein, was sie sagen konnte. Ohnehin fiel ihr langsam gar nichts mehr ein. Sie staunte nur noch. Zuerst Elli mit ihrem Toni – eine Enthüllung, die sie längst noch nicht verdaut hatte. Und jetzt das.
Marie war mit zwei Töchtern hierhergekommen, das wusste sie. Ohne deren Vater. Das wusste sie auch. Aber dass sie noch einmal ein Kind bekommen würde. Ausgerechnet sie. Schon die ersten beiden Kinder hatten Giovanna überrascht, hatte sie Marie doch nie als Mutter gesehen. Und jetzt noch eine Tochter. Marie war 45, genau wie sie alle.
»Nicoletta.« Giovanna ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. Und gleich noch mal. »Nicoletta. Ein schöner Name! Wirklich! So … so … italienisch!«
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft konnte Giovanna ein wirkliches, ehrliches Lächeln auf dem Gesicht ihrer alten Freundin erkennen.
»Ja, nicht?«, sagte Marie. »Ich wusste, dass er dir gefallen würde!«
Als hättest du ihn für mich ausgesucht, dachte Giovanna und konnte das leise, innerliche Grollen, das sie spürte, vor sich selbst kaum verhehlen. Laut sagte sie: »Und wie alt ist Nicoletta?«
»Sie ist gerade drei geworden«, antwortete Marie. »Aber ihr werdet sie ja bald kennenlernen.« Das war’s dann wohl fürs Erste, was sie über ihre Tochter sagen wollte.
»Jetzt müssen wir euch erst mal irgendwo unterbringen.« Sie warf einen Blick auf den Wagen und wandte sich dann an Elli: »Zum Campen werdet ihr ja nichts dabeihaben, oder? Sonst könntet ihr hinten im Garten zelten.« Giovanna war heilfroh, kein Zelt im Kofferraum zu wissen, sondern nur die Koffer und ihr Akkordeon. Campingurlaub gehörte gar nicht zu ihren Lieblingsvorstellungen.
»Oder aber«, setzte Marie wieder an, »ihr schlaft im Zimmer von den Mädels, solange die nicht da sind.« Sie dachte kurz nach, dann nickte sie. »Ja, das müsste gehen. Sie kommen erst in ein paar Tagen aus München zurück, das Zimmer ist frei.« Aha, sie sind also bei Marc. Giovanna hatte ein paar unschöne Gedanken, hütete sich aber, sie auszusprechen. Marie hatte derweil ein paar Hühner hinter ein improvisiertes Holztor zurückgescheucht, die im Begriff waren, aus ihrem Gehege auszureißen. Sie trieb sie in einen von Maschendraht begrenzten Verschlag vor dem Hühnerstall und schloss auch hier das Tor. Dann kam sie wieder zu Giovanna und Elli herüber, hatte jetzt allerdings ihr Mobiltelefon in der Hand und erklärte ihnen: »Ich muss schnell Tobias anrufen, er muss noch was für mich erledigen.«
»Tobias? Dein Bruder?«
»Er ist auch hier«, sagte Marie knapp.
»Tobias ist auch hier?« Es war wieder Elli, die fragte. Und Giovanna registrierte mit einer gewissen Genugtuung, dass auch Elli nicht über alles informiert war, was sich bei Marie so tat. Die ihr Telefon jetzt doch wieder in die Tasche ihrer Jogginghose steckte.
»Besetzt«, sagte sie erklärend und beantwortete dann erst Ellis Frage. »Seit fast zwei Jahren. Er hat mich vorher schon ein paarmal hier besucht und es hat ihm so gut gefallen, dass er mir gefolgt ist. Er wohnt aber in Ascoli. Er hat mir hier geholfen beim Umbau und Herrichten des Hauses. Und dann ist er geblieben.« Maries Blick schweifte ohne ein bestimmtes Ziel in die Ferne. »Ist schön hier.«
Giovanna folgte ihrem Blick, sah ein dichtes, dunkelgrünes Waldstück, das an den Flanken einer Bergwand emporkletterte und nach oben hin immer lichter wurde, sodass man graubraunes Gestein darunter sehen konnte. Dieser Ort, der so völlig isoliert mitten in der Wildnis lag, musste ihr erst einmal beweisen, dass er lebenswert war. Konnte man sich hier wohlfühlen? In dieser Abgeschiedenheit? Von der aus man ewig fahren musste, um irgendwo richtig unter Leute zu kommen oder um auch nur ordentlich einkaufen zu können. Ja, wenn der Ort wenigstens am Meer gelegen hätte, dann … Aber hier, mitten in den Bergen. Wahrscheinlich würde man Bären und Wölfen begegnen, wenn man sich nachts aus dem Dorfgebiet herausbewegte, oder riesenhaften Hunden wie Jimmy. Und die Kinder? Hatten die hier eine Schule?
Als hätte Marie ihre Gedanken erraten, sagte sie: »Die Mädels fahren in der Früh mit Larry zum Liceo in Ascoli, oder mit mir. Mittags holt Tobias sie dort ab. Er ist super zuverlässig.«
Elli schüttelte ungläubig den Kopf. »DER Tobias? Dein Bruder? Der, den wir kennen? Der war doch noch nie zuverlässig.«
Giovanna verkniff sich ein Grinsen; manchmal liebte sie Elli für die Unverfrorenheit, mit der sie Dinge ansprach. Gedacht hatte sie dasselbe. Doch Marie schüttelte die Bemerkung ab, wie Jimmy, der offenbar ein unmerkliches Signal zum Aufstehen von ihr erhalten hatte, den Staub.
»Du wärst überrascht. Er hat sich geändert. Ich sag ihm kurz Bescheid. Dann zeige ich euch das Haus.«
Während Marie noch einmal das Handy in die Hand nahm und jemanden an die Strippe zu bekommen schien, sprang Jimmy um sie herum, und Giovanna fragte sich unwillkürlich, wie die alte Freundin dabei die Nerven behalten konnte. Das Telefonat, das sie mithören konnten, war kurz, und der herrische Ton, den Marie dem Hund gegenüber angeschlagen hatte, war dabei höchstens um homöopathische Nuancen abgeschwächt. Scheinbar brauchte der zuverlässige Tobias eine starke Hand. »Dann ist alles klar«, hörte Giovanna Marie zum Schluss in ihr Handy sagen – und es klang nicht wie eine Frage.
Jimmy sprang vor den drei Frauen her zur Treppe, über die sie in den ersten Stock hinaufstiegen. Die obere Etage war von innen deutlich größer, als es von außen wirkte. Drei Schlafzimmer und ein Bad mit Dusche waren hier untergebracht, eines diente Marie – und vielleicht auch diesem ominösen Larry – als Schlafzimmer. Marie hatte allerdings »mein« Schlafzimmer gesagt. Marie deutete zu einer Tür, die ein Stück links von ihnen in den Boden eingelassen war. »Wenn ihr runter wollt in die Küche, könnt ihr außen langgehen oder dort hinten über die Wendeltreppe.«
Im kleinsten Zimmer schlief Nicoletta, in einem weiteren Raum auf dieser Etage die beiden größeren Mädchen. Den zeigte ihnen Marie. Poster schmückten die Wände, Kleider lagen mehr schlecht als recht zusammengelegt auf den Betten. Giovanna fühlte sich wie ein Eindringling. Sollten sie die Einladung wirklich annehmen? War es nicht vielleicht doch besser, sich ein Zimmer in einer Pension zu suchen für die Tage, die sie hierbleiben würden? Das Gefühl, von Maries Gastfreundschaft abhängig zu sein, behagte ihr gar nicht. Ob es Elli ebenso ging, konnte sie nicht abschätzen. Marie ließ aber keine Einwände zu, sie hatte schon wieder ihr Telefon gezückt und offenbar bereits eine ihrer Töchter an der Strippe, während sie die herumliegenden Klamotten mit der freien Hand zusammenschaufelte und Elli bedeutete, ihr einen leeren Wäschekorb hinüberzuschieben, der offenbar vergessen im Zimmer herumstand.
»Marlene, hör mir zu. Wann kommt ihr denn heim? Bleibt es bei Freitag? Elli und Giò sind zu Besuch, ich würde sie gern in euer Zimmer einquartieren.« Was am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde, konnte Giovanna nicht hören, aber die Begeisterung hielt sich wohl in Grenzen, weil Marie jetzt beschwichtigend und entschieden zugleich sagte: »Ist ja nicht für lange. Bis ihr kommt, finden wir was anderes für die zwei.« Dann legte sie auf, und Giovanna fühlte sich noch viel mehr wie ein Eindringling. Als sie erklären wollte, doch lieber ins Dorf zu wollen, schnitt Marie ihr rigoros das Wort ab. »Gar keine Frage. Ihr bleibt hier.« So, als müsse sie sich selbst davon überzeugen, dass jede andere Möglichkeit ausgeschlossen sei.