8.
CASA MARIE.

Elli

Elli hatte sich leichter getan mit dem Wiedersehen. Nicht nur wegen der Sache mit dem Hund. Es war unschwer zu erkennen gewesen, wie Giovanna sich fühlte. Hatte Marie sie vorführen wollen? Oder war ihr die Demütigung gar nicht bewusst gewesen, die sie Giovanna zufügte? War es tatsächlich eine Inszenierung ohne Hintergedanken gewesen? Elli nahm sich vor, mit Marie darüber zu reden, wenn sie zu zweit wären. Was war es nur, das zwischen ihr und Giovanna stand? Was war passiert in den vergangenen Jahren, dass aus Freundschaft Distanz geworden war? Oder war es sogar mehr als Distanz?

Elli konnte nicht aufhören, darüber nachzugrübeln, während sie ihr Gepäck ins Zimmer von Josefine und Marlene schleppte. Ein Jugendzimmer, in dem es noch Stofftiere gab, die auf Regalen über den Betten ihr Dasein fristeten, aber auch Plakate mit irgendwelchen Popsternchen, welche die Wände zierten.

Fast wie bei uns früher, dachte Elli, nur dass die Porträtierten keine Föhnwellen mehr trugen und sie die Gesichter auf den Bildern nicht mehr kannte. Ihre beiden Söhne hatten keinerlei Starkult betrieben, bei Lena war die Teenie-Zeit schon zu lange her, und Lilly tapezierte ihre Wände bisher noch mit Pferdepostern und Waldlichtungen. Einen Augenblick lang blieb Elli stehen, studierte die Aufschrift auf einer der Darstellungen und starrte dann auf das sorgsam angemalte Konterfei einer Influencerin, die so aussah, als ob sie in einer Kosmetikabteilung wohnte, aber nicht so, als ob sie in ihrem Leben schon mal ein Buch gelesen hätte. Sie war sich sicher, dass Marie jedes Mal genervt versuchte, daran vorbeizusehen, wenn sie ins Zimmer ihrer Töchter kam.

Marie selbst hatte, wie Elli sich nur zu gut erinnerte, natürlich Che Guevara über ihrem Bett hängen gehabt. Irgendwann hatte sie das Bild der revolutionären Kultfigur der 70er- und 80er-Jahre gegen ein Plakat getauscht, das die aufgerollte Sardinendose von Klaus Staeck zeigte, »Die Gedanken sind frei«. Elli musste schmunzeln, als ihr in den Sinn kam, wie Antonella sich die Nase zugehalten hatte, als sie in Maries Zimmer die Karikatur zum ersten Mal erblickte.

»Wie kannst du so was nur aufhängen?«, hatte sie kopfschüttelnd gefragt, und Maries Hinweis auf die politische Botschaft des Plakats konnte sie nicht mit dem Anblick versöhnen. Erst recht nicht. Sie setzte sich so hin, dass sie es nicht sehen musste. Giovanna hatte sich davorgestellt, die Aufschrift gelesen und es eine Weile nachdenklich betrachtet.

»Und?«, hatte Marie gefragt, während sie einen Fuß auf ihre Bettkante gestellt und ihre Doc Martens zugeschnürt hatte.

»Ich versteh’s nicht«, hatte Giovanna geantwortet und auf die offene Sardinenbüchse gedeutet, die statt eines Kopfs auf dem Hals eines Anzugträgers saß.

»Heißt das jetzt, dass seine Gedanken Sardinen sind? Dass es ihnen zu eng war und sie abgehauen sind? Dass sein Kopf leer ist? Oder dass er Hunger auf Fisch hat?«

Marie hatte gelacht. »Vielleicht ein bisschen von allem. Ich denke jedes Mal darüber nach, wenn ich mich ins Bett lege.«

»Oh Gott, da könnte ich ja nicht mehr schlafen, wenn ich vorher immer erst über ausgebüxte Gedanken nachdenken müsste. Und über Fische. Dabei würde ich eher wieder wach werden.«

»Tja.« Marie war, einen der schweren Schuhe noch in der Hand, neben Giovanna getreten und hatte ihr den freien Arm um die Schultern gelegt. »Das ist vielleicht der Unterschied zwischen uns beiden. Ich brauche so kompliziertes Zeug zum Einschlafen, du zum Aufwachen.« Giovanna hatte den Satz in all seiner Ambivalenz weggelächelt, Marie einen Kuss auf die Wange gegeben, dann waren sie aufgebrochen zu irgendeiner Party, oder einfach nur, um zusammen in einen Biergarten zu gehen.

Damals war noch alles gut gewesen. Damals hatte noch keine die andere infrage gestellt. Irgendwie muss ich die beiden wieder zusammenbringen, dachte Elli und kramte abwesend in der Reisetasche nach ihrem Waschbeutel.

Natürlich hatte sich auch zwischen ihr und Marie viel verändert.

Immerhin hatte die alte Freundin es geschafft, auch sie zu überraschen. Präsentiert uns in einem Nebensatz ihre Tochter. Das kann doch nicht wahr sein! Warum hat sie mir das nicht erzählt? Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie alles miteinander geteilt hatten. Jeden Schmerz, jede Freude, jeden Ärger, jede Hoffnung und jede Enttäuschung. Jedes einzelne Verliebtsein und jeden noch so großen Liebeskummer, und ja, auch die Beschwernisse jeder Schwangerschaft – soweit die sich teilen ließen. Doch wie lange lag das eigentlich schon zurück? An welcher Stelle ihres Lebenswegs war aus der selbstverständlichen Gemeinsamkeit diese argwöhnische Distanz geworden, die sie jetzt erlebten? Wo war ihnen das Vertrauen verloren gegangen? War das überhaupt noch Freundschaft? War es nicht gerade das Teilen der Erfahrungen, das Freundschaft ausmachte? Das gemeinsame Durch-die-Zeit-Gehen? Wenn man alles voneinander wusste, weil man es miteinander erlebte? Und wenn dem so war – was waren sie dann jetzt füreinander? Waren sie noch Freundinnen? Oder nur noch Darstellerinnen eines Films, an dessen Inhalt sich keine mehr erinnerte? Protagonistinnen ohne Drehbuch?

Vielleicht lebten sie nur noch die Erinnerung an ihre Freundschaft. Und vielleicht hatte Marie das längst erkannt, und nur Elli und wahrscheinlich auch Giovanna waren so sentimental, einem Zustand zu huldigen, den es nicht mehr gab, einer Gegenwart, die lange schon Vergangenheit war, einer Idee, die sich selbst überholt hatte. Nun, die nächsten Tage würden vielleicht die eine oder andere Antwort auf diese Fragen bringen.

Elli sah auf, als Giovanna hereinkam und ihre Reisetasche neben dem zweiten Bett abstellte. Ob sie dieselben Überlegungen wälzte? Nach Maries eigenartigem Empfang musste sie sich noch mehr als zuvor fragen, ob ihre Entscheidung herzukommen richtig gewesen war.

Elli hatte sich eigentlich unendlich gefreut, Marie wiederzusehen, die auf den ersten Blick so unverändert schien. Ein bisschen dünner vielleicht noch als früher. Ein bisschen schmaler im Gesicht, das so braun gebrannt war, dass die wenigen hellen Strähnen, die sich unter ihrem um den Kopf gewickelten Tuch hervorstahlen, fast weiß wirkten. Vielleicht waren sie es auch. Es hätte nicht zu Marie gepasst, sich die Haare zu färben, die immer dunkelblond gewesen waren. So wie sie sich auch nie geschminkt hatte – abgesehen von den schwarzen Augenringen ihrer Wave-Phase. Vorhin hatte sie in einer weiten Jogginghose gesteckt, die um ihre schmalen Hüften waberte. Und in einem weißen T-Shirt – auch das viel zu weit und schlampig in den Hosenbund gewurschtelt. Maries Shirt sah außerdem aus, als hätte es dringend eine Wäsche nötig, bemerkte Elli, als Marie jetzt ins Zimmer hereinblickte, und sie selbst, als hätte sie seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen.

»Alles in Ordnung bei euch?«, fragte Marie, »unten im Kühlschrank ist etwas Kaltes zum Trinken. Ich mach mir gleich einen Kaffee. Wenn ihr mittrinken wollt …« Sie beendete den Satz nicht, verschwand wieder aus der Tür, und Elli sah fragend zu Giovanna hinüber, die am Auspacken war. War das jetzt eine Einladung gewesen oder nur Höflichkeit?

Andererseits, Höflichkeit war nicht unbedingt Maries hervorstechendstes Merkmal.

»Kaffee könnt ich schon vertragen«, brummte Giovanna und zog ein frisches Oberteil aus ihrem Koffer, das sie sich überstreifte, nachdem sie das getragene neben dem Bett auf den Boden fallen gelassen hatte. Elli warf einen scheelen Blick darauf und schluckte den Rüffel hinunter, den ihre Kinder in diesem Moment zu hören bekommen hätten.

»Dann lass uns runtergehen«, sagte sie stattdessen und marschierte entschlossen voraus. Wie sie es immer getan hatte.

Sie hatten die Koffer über die Außentreppe nach oben getragen. Im Innern des Hauses war wohl früher der erste Stock das einzige Wohngeschoß gewesen, darunter nur der Stall. So wie es in vielen alten Bauernhäusern gehandhabt worden war, um die Abwärme des Viehs, die von unten kam, zu nutzen. Auch in Italien konnten die Winter kalt werden, und hier in den Tälern des Zentralapennin erst recht. Einen direkten Zugang vom Obergeschoß in den Stall aber hatte es meist nicht gegeben.

Hier aber war der Holzboden, der früher die Decke über dem Stall gebildet haben musste, mit Beton verstärkt, ein Loch herausgeschnitten und wiederum mit einem Holzrahmen versehen worden, von dem eine enge Wendeltreppe hinunterführte, mitten hinein in eine große, aber sparsam möblierte Wohnküche. Der Küchenzeile sah man an, dass sie zwar recht neu, aber nicht besonders teuer war. Der Boden war mit offenbar gebrauchten und unregelmäßig gebrochenen rötlichen Steinfliesen belegt, die Wände großzügig weiß getüncht. Eine Ecke nahm ein grob strukturierter Holztisch ein, den Elli, als sie ihn näher betrachten konnte, als ehemalige Tür identifizierte, die jemand glatt geschliffen hatte, um dann Beine aus dem Sortiment eines schwedischen Möbelhändlers dranzuschrauben. Zusammen mit den alten Fliesen und dem von Westen hereinscheinenden Sonnenlicht verlieh der Tisch mit seiner lebendigen Maserung dem Raum eine heimelige Atmosphäre, in der Elli sich sofort wohlfühlte. Eine Atmosphäre, die auf den ersten Blick so gar nicht zu der umtriebigen, nervösen und immer unzufriedenen Marie von früher zu passen schien. Aber gab es diese Marie überhaupt noch?

Elli sah sie am Herd stehen, als sie gemeinsam mit Giovanna die letzten Stufen der Wendeltreppe herunterstieg. Marie war tatsächlich noch dünner geworden, als Elli sie in Erinnerung hatte. Drei Kinder und kein Gramm Speck auf den Hüften – die Welt ist ungerecht, dachte sie. Marie hätte in jedem Abendkleid eine tolle Figur gemacht, doch Elli war sich ziemlich sicher, sie noch nie in einem solchen gesehen zu haben – was auch in Zukunft nicht passieren würde. Angesichts der Jogginghose, die Marie gerade trug, war das auch eine absurde Vorstellung. Wie immer schien es ihr egal zu sein, wie sie aussah und wie sie wirkte.

Doch Elli kannte sie besser. Sie war sich sicher, dass Maries Garderobe auch jetzt noch viel mehr war als nur der Versuch, sich möglichst unkompliziert zu kleiden. Nein. Es war ein Statement, auch heute noch – es war ihre Ansage an die Welt, mit der sie ausdrücken wollte: »Sieh her, mir ist alles egal, ich mache mein Ding.« So hatte sie es immer gehalten, in ihren gemeinsamen Jugendjahren und auch als sie bereits das Geld besessen hatte, über ihren Kleiderschrank selbst zu entscheiden. Ihr Verzicht auf Mode war demonstrativer Natur gewesen, darin ihr Versuch erkennbar, sich zu widersetzen – der Erwartung ihrer Eltern ebenso wie der Mehrheitsmeinung ihrer Klassenkameradinnen und deren unterschiedsloser Verehrung von grellen Schulterpolsterblusen, asymmetrisch geschnittenen Frisuren und rosafarbenem Lipgloss. In jenen Jahren waren Statement und Selbstverständnis Maries nicht dasselbe gewesen. Doch im Gegensatz zu damals schien beides jetzt kongruent.

Schon der eine Moment, in dem Marie den Hund von Giovannas Autofenster weggezogen hatte, zurückgetreten war und dem Tier mit unerschütterlicher Autorität befohlen hatte, sich neben sie zu setzen, hatte Elli genügt, um das zu erkennen.

Und als sie sie jetzt am Herd hantieren sah, mit den zielsicheren Handgriffen eines Menschen, der ebendiese in immer gleicher Routine, immer gleichem Rhythmus ausführt, fühlte sie sich in ihrer Wahrnehmung bestätigt. Marie tat genau das, was sie tun wollte. Wo sie es tun wollte. Sie war angekommen bei sich selbst. Mochte auch das Haus alt sein, der Hof mit Sicherheit keine großen Gewinne abwerfen, mochten ihre Töchter von diesem vergessenen Winkel der Welt aus eine halbe Tagesreise brauchen, um in die Schule zu kommen und wieder zurück, mochte es auch vielleicht schwer sein für Marie, ohne ihre Familie und ohne ihren früheren Ehemann ihr Auskommen zu bestreiten und ihr Mädelhaus zusammenzuhalten – sie schien Elli so zufrieden, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Und so schön, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Trotz der Jogginghose, der Flecken auf dem Shirt, der ganz sicher ungewaschenen Haare unter dem Tuch. Nicht schön per se, nicht in einem klassischen Sinn wie Giovanna, sondern als die, die sie war. Als unfraglicher Bestandteil ihrer Umgebung, unverzichtbares Element dieser alten, neu getünchten Mauern mit ihrer kunterbunt zusammengewürfelten Einrichtung, Teil dieses Gehöfts mit seinem wilden Buschwerk draußen vor der Tür und dem Gegacker der Hühner, das durch ein offenes Fenster zu hören war. Marie gehörte dazu. Als hätte dieser Ort auf sie gewartet, und als sei sie ein Teil seiner Geschichte. Als wäre sie dafür geboren, diese Geschichte weiterzuerzählen.

Als Marie, die Hand auf den Kopf des Hundes gelegt, darauf gewartet hatte, dass sie beide aus dem Wagen stiegen, war sie ganz bei sich selbst gewesen. Obwohl doch auch Marie, da war sich Elli sehr sicher, dem Wiedersehen mit den alten Freundinnen nicht ganz unbewegt entgegengesehen hatte. Aber auf eine andere Weise als Elli das tat. Und noch mehr unterschied sich ihre Erwartung vermutlich von der Giovannas.

Elli hatte eine Welle von Mitleid durchflutet, als sie Giovannas Furcht vor dem Hund bemerkt hatte und ihre anschließende Umarmung mit Marie beobachtet. Genau hätte Elli nicht erklären können, warum sie so empfand, aber auf Giovanna musste die neue Stärke Maries einschüchternd gewirkt haben, ähnlich wie auf sie selbst, nur viel heftiger. Was nicht nur Giovannas augenblicklichem Zustand völliger Ziellosigkeit geschuldet war, sondern auch ihrer Unsicherheit, die sie im Hinblick auf Maries Einstellung ihr gegenüber empfinden musste. Umso schwächer musste sie sich fühlen, umso verletzlicher.

Während Marie so sturmsicher verankert schien, hier in ihrem neuen Leben, dessen Fundamente sie ohne die Hilfe ihrer Freundinnen errichtet hatte, trieb Giovanna steuerlos mitten im Meer ihrer Bedrängnisse, bedroht vom Ertrinken in den Strudeln ihrer Albträume und auf der Suche nach einem Kompass, der sie endlich in einen sicheren Hafen führte. Vielleicht auch nach einem Lotsen. Ob sie den in Marie finden würde? Elli wusste, wie oft Giovanna von Maries Entschiedenheit profitiert hatte, von ihrer intelligenten und schonungslosen Analyse der Dinge, die, aus einer Position der unbedingten Zuneigung getroffen, Giovanna so manches Mal aus einem Dilemma geholfen hatte. Doch Elli war skeptisch, ob es zwischen den beiden noch eine Basis gab, die tragfähig genug war, um den jetzt eher als ungleiche Kontrahentinnen auftretenden Frauen als Bühne zu dienen. Kontrahentinnen, ja, Freundinnen sah sie im Moment keine, wenn sie die beiden miteinander beobachtete. Elli hatte förmlich die Luft angehalten, als sie sich umarmt hatten. Verkrampft und gezwungen. Und an der Art, wie Giovanna sich anschließend schnell zur Seite gedreht hatte, hatte Elli erkannt, dass sie weinte und das vor Marie zu verbergen suchte. Vor Elli hätte sie sich ihrer Tränen nie geschämt, bei Marie aber war das anders.

Giovanna war jetzt neben Marie an den Herd getreten und hatte gefragt, ob sie etwas helfen könne, und Marie hatte nur gebrummt. »Na, das schaff ich schon allein mit dem Kaffee. Da drüben, setzt euch doch.« Sie hatte mit der Hand in Richtung Tisch gewedelt und Elli mit einer Kopfbewegung in ihre Aufforderung einbezogen. Und wieder war da diese selbstverständliche Entschiedenheit, die Elli schon zuvor wahrgenommen hatte, eine beneidenswerte Entschiedenheit, von der sie selbst in ihrer augenblicklichen Situation nur träumen konnte. Auch sie stand in diesen Tagen und Wochen ein bisschen hilflos in der Gegend herum, fast genauso orientierungslos wie Giovanna. Mit dem Unterschied, dass es für sie eigentlich nur zwei Wahlmöglichkeiten gab. Matthias oder Toni.

Entschied sie sich für Matthias, würde die Familie sie auffangen, und sie würde mit Matthias in ihrem bisherigen Arrangement weiterleben. Es gab Schlimmeres! Matthias mit seiner unverbrüchlichen Treue würde immer für sie da sein. Würde sie immer machen lassen, was sie wollte, ohne Fragen zu stellen. Elli stieß einen tiefen Seufzer aus; das war es ja gerade, was sie von ihm weggetrieben hatte. Das, was sie bei Toni suchte. Toni mit seiner Aufmerksamkeit, seiner Entschlossenheit, seinem Widerspruchsgeist. Kein Thema, zu dem er keine Meinung hatte. Manchmal, wenn sie sich getroffen hatten, nur zu einem gemeinsamen Mittagessen, manchmal auch bei ihm – wenn sein Sohn bei seiner Mutter war oder bei einem Freund –, hatten sie sich geliebt und dann diskutiert. Toni konnte stundenlang um ein Thema kreisen, es immer wieder neu beleuchten, in der Hinsicht hatte er Ähnlichkeit mit Marie. Er war immer voll bei der Sache. Kein Abnicken, kein kritikloses »Jaja« in vorauseilendem Gehorsam wie bei Matthias. Das war es, was Elli an ihm gefiel. Na ja, seine Berührungen natürlich auch. Sein Begehren, sein Fordern, die Art, wie er durch ihre Kleidung zu blicken und darunter einen Körper zu sehen schien, der ihr selbst neu war. Die Art, wie er eine Schönheit an ihr wahrnahm, die Elli noch nie an sich bemerkt hatte, wie er ihre Hüften, ihre Brüste, ihr Gesicht, ihren ganzen Körper zu etwas Besonderem machte, allein dadurch, dass er sie anfasste. Wenn sie mit Matthias und den Kindern unterwegs war, erwartete sie schon lange nicht mehr, als Frau gesehen zu werden. Da war sie nichts anderes als eine Mutter, die im besten Fall dafür taugte, ihren Nachwuchs in Schach zu halten. Bei einem Urlaub in Kroatien vor zwei oder drei Jahren war der Wirt eines Grillrestaurants so weit gegangen, sie als »Mama« anzusprechen. Höflich, aber ohne irgendeine Art von Neugier hatte er ihr einen Stuhl herangezogen, so als wäre sie eine alte Frau, der man auf ihren Platz helfen musste. Sie hätte genauso gut durchsichtig sein können. Elli hatte nie sehr viel Wert auf männliche Anerkennung gelegt – wozu auch, sie hatte ja Matthias. Doch dann war Toni aufgetaucht und hatte etwas in ihr erkannt, das sie selbst vergessen hatte: dass sie eine Frau war.

Wenn auch eine mit einer gehörigen Midlife-Crisis, spottete Elli über sich selbst. Immer wieder hatte sie darüber nachgedacht, wie es weitergehen sollte, wie lang es dauern würde, bis auch aus ihrer stürmischen Affäre eine abgeklärte Beziehung werden würde. Bei aller wiedergefundenen Jugendlichkeit – sie wurde nicht jünger. Sie musste der unerschütterlichen Tatsache ins Auge sehen, in wenigen Jahren ihren 50. Geburtstag zu feiern. Wie lang würde Tonis verliebte Aufmerksamkeit anhalten? Und würde sie sich danach an seiner Seite besser fühlen als an der von Matthias? Konnte das mit Toni überhaupt halten? Bei Matthias war sie sich sicher. Er würde an ihrer Seite bleiben, auch wenn die Kinder aus dem Haus sein würden. Nichts würde sich ändern. Er würde so weitermachen wie bisher. Darauf warten, dass sie ihm sagte, wo es langging. Gerne dabei auf dem Sofa sitzen. Elli stellte sich in solchen Momenten das etwas rundlich gewordene Gesicht ihres Mannes vor, wie die Polstergarnitur nachgab unter seinem Gewicht, ohne Zweifel, ein paar Pfunde zu viel. Nun, sie wollte nicht ungerecht sein, ein bisschen Sport in den letzten Jahren hätte ihnen beiden nicht geschadet, könnte man immer noch anfangen … Aber dazu würde sie ihren Matthias mit Sicherheit nicht bewegen können. Toni ging joggen und zweimal die Woche zum Schwimmen. Die Konsequenzen konnte sie bewundern, wenn sie mit ihm im Bett lag.

Kurz, Toni tat, Matthias wartete darauf, dass sich was tat. Matthias hätte ihr niemals einen Wunsch abgeschlagen, aber sie musste ihn erst äußern. Es kam nicht vor, dass er die Initiative ergriff, heute nicht mehr. Nach den vielen gemeinsamen Jahren, in denen Matthias ihre Stärke erlebt hatte, hatte Elli das uneingeschränkte Sagen in ihrer Beziehung, auch in der Familie – und sie genoss es so sehr, wenn sie bei Toni war, einfach mal die Verantwortung abgeben, ihm die Führung überlassen zu können. Er schlug vor, in welches Restaurant sie gehen sollten, er organisierte die Karten fürs Kino, er hatte immer eine Idee für einen Ausflug, der sich zwischen zwei Terminen unterbringen ließ.

Doch konnte all das genug sein, um ihr bisheriges Leben infrage zu stellen? Die Entscheidung für Toni wäre auch eine Entscheidung gegen ihre Familie. Eine Vorstellung, die sie bisher kaum zugelassen hatte und die ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Konnte ein Leben mit Toni so viel besser sein, dass sie ihre Familie für ihn opfern würde? Stellte sich die Frage überhaupt? Nein, dachte Elli, nein, gar nicht weiter drüber nachdenken. Vielleicht kann ich einfach alles so lassen, wie es ist …

»Marie, wie geht’s deinen Mädels?«, fragte Elli, als sie sich neben Giovanna am Tisch niederließ. Sie hatte das Gefühl, die Unterhaltung in Gang bringen zu müssen. »Gut geht’s ihnen«, rief Marie vom Herd herüber. Sie war mit den Tassen beschäftigt. »Sie sind riesig geworden. Ihr würdet sie nicht wiedererkennen.« Da hast du vermutlich recht, warum wohl? dachte Elli, warf einen unauffälligen Blick zu Giovanna hinüber und vermutete, dass sie Ähnliches gedacht hatte.

Marie hatte die Tassen jetzt auf ein Tablett gestellt und balancierte sie herüber zu ihnen an den Tisch. »Sie kommen ja am Samstag zurück, waren die letzten zwei Wochen bei Marc.«

»Ah, das funktioniert mit Marc? Wie viel Kontakt habt ihr?«, wollte Elli wissen.

Marie schien einen Augenblick zu zögern, bevor sie antwortete. »So viel wir müssen.« Die Antwort kam knapp. Unfreundlich. Und verschaffte Elli und Giovanna einen guten Eindruck der Atmosphäre, die bei Maries Treffen mit ihrem Ex herrschen dürfte. Elli fröstelte es fast ein wenig. Es streifte sie eine Ahnung davon, dass es besser war, Maries Freundin zu sein als ihre Feindin. Marie hatte ihnen die Kaffeetassen hingeschoben, ihre eigene aber schon im Stehen ausgetrunken.

»Ich hab jetzt gerade gar nicht viel Zeit, ich habe noch eine Ladung frühe Trauben im Hänger liegen, der steht draußen. Der muss heute noch rüber in die Presse. Ihr kommt zurecht?«

»Ja. Sicher.« Elli nickte ein bisschen überrascht, hörte, wie Giovanna sich beeilte zu sagen: »Klar doch, wir wollen dir ja nicht im Weg sein«, und war sich nicht ganz sicher, ob sie nicht ein ganz klein wenig Ironie in Giovannas Stimme hörte. Sie hätte es begrüßt, wenn es so gewesen wäre. Unterwürfige Höflichkeit passte gar nicht zu ihrer stolzen Freundin. Doch wenn Giovannas Bemerkung ironisch gemeint war, schien Marie es nicht registriert zu haben, die schon auf dem Weg nach draußen war. Die Klinke in der Hand, wandte sie sich in der offenen Tür noch einmal um und rief: »Sorry Mädels, aber wir treffen uns heute Abend, und dann quatschen wir, ja?« Dann war sie verschwunden. Elli atmete so hörbar auf, dass Giovanna sie ansah.

»Bist du so froh, dass sie draußen ist?«, wollte sie wissen.

»Nein, das nicht. Also nicht so direkt.«

»Nein, nicht so direkt«, wiederholte Giovanna im gleichen Tonfall. »Aber mir geht’s ganz ähnlich. Sie ist so … so unnahbar. Ich hab wirklich das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen, dass wir hier sind.«

Elli nickte. »Das habe ich bemerkt.«

Giovanna sah sie ratlos an. »Ich bin mal gespannt, wie das weitergeht. Ich seh uns schon morgen wieder heimfahren.«

»Nein«, entgegnete Elli entschieden, »nein. Sicher nicht. Jetzt lass uns doch mal heute Abend abwarten. Da haben wir wohl mal Gelegenheit, mit ihr zu reden.« Sie trank den letzten Schluck Kaffee. »Inzwischen könnten wir uns ja mal in der Gegend umsehen.«

Giovanna nickte zustimmend und stand auf. »Treffen wir uns im Zimmer. Ich hol noch schnell das Akkordeon aus dem Auto.« Giovanna verließ die Küche nach draußen, während Elli die Kaffeetassen in die Spüle räumte und über die Wendeltreppe nach oben stieg, dabei die schöne Holzarbeit bewunderte. Im Gegensatz zur Küchenzeile wirkte die Treppe recht teuer, und sie wunderte sich ein wenig, wieso Marie für so etwas so viel Geld ausgab. Eine schlichte Holzleiter wäre eher ihr Stil gewesen. Vielleicht hatte Tobias sie gemacht, war er nicht Schreiner geworden? Im Zimmer kamen sie fast gleichzeitig an, Giovanna hatte den Weg über die Außentreppe genommen und platzierte ihr neues Instrument schwer atmend in einer Ecke. Elli schmunzelte, während sie ihr zusah. Obwohl es nur ein kleines Akkordeon war, eins mit 72 Bässen, wie Giovanna ihr erklärt hatte, wirkte der Koffer doch viel zu mächtig für die zarte Gestalt ihrer Freundin.

»Vielleicht hättest du dir doch ein etwas leichteres Instrument aussuchen sollen«, scherzte sie, »Mundharmonika statt Ziehharmonika. Mir tut der Rücken schon beim Zuschauen weh.« Giovanna richtete sich auf. Ein Lächeln strich flüchtig über ihr Gesicht, dann war es wieder verschwunden. Sie setzte sich auf den Stuhl, neben dem das Akkordeon stand, und legte eine Hand leicht auf den mächtigen schwarzen Koffer. Sie sah Elli nicht an, ihr Blick verlor sich in einer immateriellen Ferne.

»Wann wirst du es spielen?«, fragte Elli. »Du hast es noch nicht aufgemacht, seit du es aus dem Laden gebracht hast.«

»Ich weiß es nicht.« Giovanna schien sich konzentrieren zu müssen, um die Antwort zu finden. »Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«

»Und wann ist der?«

Jetzt sah Giovanna Elli an. »Das merke ich dann, wenn es so weit ist. So wie ich gemerkt habe, dass es Zeit ist, es zu holen.«

Elli hätte noch mehr sagen können. Giovanna hatte Angst, das war unübersehbar. Angst vor den Erinnerungen, die in ihr hochkommen würden, wenn sie die Hand auf die Tasten legte, Erinnerungen, die möglicherweise in den Tönen schlummerten. Natürlich wusste Elli um die Geschichte, die Antonella und Giovanna erlebt hatten, bevor sie nach München gekommen waren, um jene Geschichte, die nach ihrer Mutter auch Antonella das Leben gekostet hatte. Aber sie kannte keine Einzelheiten. Giovanna hatte es nie geschafft, darüber zu sprechen. Nach Antonellas Tod erst recht nicht.

Irgendwann wirst du dich stellen müssen, dachte Elli, irgendwann wirst du stehen bleiben müssen und dich umdrehen. Dann wird es besser.

Nun, vielleicht würde es dann besser werden. Auf sie selbst traf das zu. Sie hatte immer die Kraft gehabt, zurückzublicken, und das hatte geholfen. Aber sie war nicht Giovanna, und gewiss konnte man ihre Geschichten auch nicht vergleichen. Elli hatte sich entscheiden können, ihrem Vater an einem Punkt ihrer Geschichte tatsächlich »Lebewohl« zu sagen, was ihr geholfen hatte, über ihre schwierige familiäre Vergangenheit leichter hinwegzukommen. Giovanna hatte diese Wahl nicht gehabt.

Giovanna saß noch immer neben ihrem Akkordeon und machte keine Anstalten, sich für einen Spaziergang fertig zu machen.

»Alles okay mit dir? Ich würde schon mal rausgehen, telefonieren. Ja?«, fragte Elli. Die Freundin gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass sie nicht auf sie warten sollte. Offenbar brauchte sie noch einen Moment für sich. Elli verließ das Zimmer.

Gleich daneben führte eine Tür zur Außentreppe, deren Treppenabsatz wie ein winziger Balkon an der Mauer des Gebäudes hing. Hier oben blieb Elli stehen, erschnupperte den milden Duft von sonnenwarmem Gras und klebrig-süßen reifen Feigen. Sie ließ den Blick über die kaum zu bändigende Natur schweifen, die Maries Hof von allen Seiten einzunehmen trachtete. Dort, wo Marie dem Drängen Gegenwehr geleistet hatte, schlängelten sich in regelmäßiger Reihe gepflanzte Tomatensträucher an Rankhilfen empor, erstreckten sich Beete mit verschiedenen Gemüse- und Salatgewächsen. Elli konnte nicht alles sehen, was wohl zu Maries Reich gehörte, und selbst wenn, hätte sie nicht jedes Kraut, das aus der Erde ragte, richtig benennen können. Sie würde Marie danach fragen, und sie freute sich darauf. Hinter den Tomatenreben stieg das Gelände leicht an bis zu einer Art Plateau offenbar, das bis zur Flanke des nächsten Berges reichen mochte, die sich, bedeckt von dichtem Wald, dem Himmel entgegenreckte. Auf dem Hang wuchsen Olivenbäume, einige von ihnen alt und knorrig. Sie kündeten von den Generationen, die vor Marie und ihrer Familie hier dem Boden seine Früchte abgetrotzt, gelebt hatten und gestorben waren. Einige Bäume dagegen waren noch sehr jung und sicher von Marie selbst angepflanzt worden. Elli genoss den vorabendlichen Windhauch, der sich hier oben im Geländer der Treppe verfing. Die Gewalt der südlichen Sonne und die Hitze tagsüber, in der sie angekommen waren, hatte sie gut genug in Erinnerung, um ermessen zu können, welche Kraft diese jungen Pflanzen aufbringen mussten, um sich dagegen zu behaupten. Bestimmt mussten die kleinen Bäume in diesen Wochen jeden Tag gegossen werden. Was für eine Arbeit! Die beiden Töchter konnten Marie keine große Hilfe sein, schließlich besuchten sie die meiste Zeit des Jahres über die Schule, was sie für mehr als den halben Tag aus Chiesavalle wegführte. Vielleicht aber, hoffte Elli, waren die anderen Mitglieder des Farmerzusammenschlusses, der Gruppo di Monaco, zur Stelle, wenn es auf Maries Hof ans Ernten und Verarbeiten ging. Und dann gab es ja auch noch diesen Larry. Elli war gespannt darauf, den neuen Mann an Maries Seite kennenzulernen.

Durch die offene Tür hinter sich hörte Elli die Zimmertür, sah Giovanna den Weg ins Bad suchen. Da fiel ihr ein, dass sie doch eigentlich hatte telefonieren wollen. Matthias würde sicher schon daheim sein und wäre erleichtert zu hören, dass sie wohlbehalten in Chiesavalle war. Toni würde es nicht anders gehen. Sie nahm ihr Handy. Steckte es wieder weg. Wollte sie überhaupt telefonieren? Wollte sie mit einem der beiden Männer sprechen? Dann holte sie das Telefon doch wieder heraus und tippte eine Nachricht. »Wir sind jetzt bei Marie. Melde mich. Küsse.« Die schickte sie an Matthias und kopierte sie, um sie auch an Toni zu schicken. Sie hatte schon den Finger auf »senden«, kam dann aber ins Grübeln. So abgebrüht konnte sie doch nicht sein, oder? Dieselbe Nachricht für beide Männer, als wäre es das Normalste der Welt? Sie löschte die Nachricht im Chat mit Toni und tippte neu: »Wir sind gut angekommen. Du fehlst mir! Ich melde mich.«