Elli fühlte sich alt. Sie waren noch lange draußen gesessen am Abend zuvor, sie hatte zu wenig geschlafen, obwohl es schon nach elf Uhr war, als sie die Augen aufschlug und zum ersten Mal auf ihr Handy sah. Giovannas schlechte Laune machte nichts daran besser. Sie saß mit einem Buch in der Hand im Bett nebenan und hatte offenbar nur darauf gewartet, dass Elli endlich ansprechbar war. Und dann schimpfte sie auch schon los. Über Marie, die kein Wort davon gesagt hatte, dass sie den Abend nicht für sich haben würden, über Larry, den sie ganz schrecklich fand, und über all »diese Leute«, die in ihren Augen entweder versnobt, verschroben oder verkorkst waren. Vielleicht hatte sie auch verkokst gesagt. Elli war noch zu müde, um derartige semantische Unterschiede heraushören zu können, und so brauchte sie auch eine Weile, um ganz vorsichtig einzuwenden, dass die Mitglieder der Gruppo vielleicht ja einfach nur Menschen waren, die sich in die Einöde der Berge zurückgezogen hatten, weil sie mit der Welt da draußen nichts mehr zu tun haben wollten, vielleicht auch, weil sie Berührungsängste hatten.
Daraufhin tickte Giovanna völlig aus. »Von wegen Berührungsängste«, zeterte sie und wurde dabei so laut, dass Elli ihr mit einer Handbewegung bedeutete, sich ein wenig zu mäßigen. Es gab aber niemanden im Haus, der sie hätte hören können. Marie war schon in aller Früh losgezogen, um irgendwelche Besorgungen zu erledigen.
»Das sind keine Berührungsängste«, wiederholte Giovanna, »das ist die pure Hybris! Die wollen uns nicht. Die kommen sich vor, als wären sie etwas Besseres, nur weil sie so total alternativ sind.« Aus Giòs Stimme troff Sarkasmus, und bitterer Groll überzog ihre Miene mit einem dunklen Gewittergrau. Giovanna hatte offenbar recht zügig zu einem Urteil über Maries neue Freunde gefunden, das Elli aber nicht so rasch unterschreiben wollte. Ein bisschen dünnhäutig fand sie ihre Freundin schon.
»Jetzt warte doch erst mal ab«, erwiderte sie, »du hast jetzt auch nicht gerade den Anschein vermittelt, dass du dich über sie freust.«
»Hab ich ja auch nicht«, giftete Giovanna, und Elli konnte es ihr noch nicht mal übel nehmen. Jedenfalls war auch ihr keiner von Maries neuen Freunden so richtig sympathisch gewesen – und von wegen »neue« Freunde. Vielleicht sollte es besser einfach nur »Freunde« heißen: Maries Freunde. Einen Anspruch auf Exklusivität hatten sie und Giovanna, die sogenannten alten Freundinnen, mit Sicherheit schon lange nicht mehr. Zwei unter vielen. Nur weil sie sich schon so lange kannten, begründete das noch lange keine gottgegebene Hierarchie. Oder? Immerhin, das Attribut »alt« konnte ihnen keiner nehmen. Die Frage war nur, was es noch wert war.
Während sie noch vor sich hin gegrübelt hatte, war Giovanna genervt aus dem Bett gesprungen, in Shorts, T-Shirt und Turnschuhe geschlüpft und hatte mit den Worten »Ich brauch frische Luft, ich lauf mal ins Dorf hinüber« das Zimmer verlassen. Ein paar Augenblicke später wurde die Tür wieder geöffnet. Giovannas Gesicht tauchte noch einmal auf. Mit weitaus freundlicherer Stimme als zuvor sagte sie: »Ich würde im Ort vielleicht irgendwo einen Cappuccino trinken, wenn das für dich in Ordnung ist. Oder soll ich bleiben und wir frühstücken zusammen?« Elli winkte ab. Sie sah ein, dass Giovanna sich abreagieren wollte. Und außerdem stand ihr der Sinn gar nicht nach Gesellschaft.
Als Giovanna weg war, quälte sie sich aus dem Bett und stieg nach unten, wo sie in der Caffettiera auf dem Herd noch einen Rest Espresso fand. Sie sah sich vergeblich nach einer Mikrowelle um, in der sie den Kaffee aufwärmen konnte, suchte sich dann ersatzweise einen Topf, um sich ein wenig Milch auf dem Herd heiß zu machen, die sie mit dem Espresso mischen konnte. Beim Gedanken an kalten Kaffee zog sich ihr der Magen zusammen. Die kurze Zeit, bis die Milch warm geworden war, nutzte sie, um sich rasch in ihrem Zimmer ein Kleid überzuwerfen, und kam gerade rechtzeitig zurück, als es im Topf zu blubbern begann. Natürlich hatte sich die Milch auf dem Boden des Gefäßes angelegt. »Jetzt nicht«, brummte Elli ärgerlich und verfrachtete den Topf mit einem ordentlichen Spritzer Spülmittel und heißem Wasser ins Waschbecken, wo sie ihn zum Einweichen stehen ließ. Marie würde es ihr schon nachsehen, wenn sie die Milchkruste erst später entfernte, hoffte sie. Mit ihrem Getränk in der einen, dem Handy in der anderen Hand zog sie dann nach draußen, holte sich einen der Liegestühle, die an der hinteren Hauswand lehnten, und trug ihn an eine sonnige Stelle zwischen den Gemüsestauden, wo sie sich mit einem erschöpften Seufzer niederließ.
Elli war immer noch bleiern müde. Jede Bewegung war ihr zu viel. Zu Hause ließen ihr die Terminflut und das Adrenalin ihrer prall gefüllten Tage selten Zeit für Erschöpfung. Scheinbar witterte ihr Körper jetzt die Gelegenheit, Ruhe zu bekommen, und wollte nichts anderes, als einmal alle viere von sich zu strecken.
Oder es ist ein Wink mit dem Zaunpfahl? überlegte Elli. Vielleicht sollte ich mich endlich wieder meinem Alter entsprechend benehmen. Vielleicht sollte ich aufhören, so zu tun, als sei ich ein junges Mädchen. Früher hat uns das alles nichts ausgemacht. Früher waren sie nächtelang zusammengehockt und hatten gequatscht, sie und die Mädels. Oft war Matthias dabeigesessen, ihre Hand in der seinen, meistens schweigend. Später war dann Marc dazugestoßen, selten schweigend. Da hatte es schon angefangen, weniger Spaß zu machen.
Vor wie vielen Jahrhunderten war das eigentlich gewesen? Elli rieb sich die Stirn. Ein leichter Schmerz hatte sich dort eingenistet, doch sie wollte keine Tablette nehmen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Wieso nur hatte sie am Vorabend kein Ende gefunden? So interessant war das Gespräch mit dieser Christine wirklich nicht gewesen – konnte es nicht gewesen sein, denn wenn sie jetzt darüber nachdachte, war sie kaum mehr in der Lage, sich an den Inhalt zu erinnern. Offenbar war es ihr schwergefallen, sich voll auf das Gespräch einzulassen.
Und überhaupt hatte auch sie sich über Marie geärgert, die sie und Giovanna mit keinem Sterbenswörtchen darauf vorbereitet hatte, dass sie den Abend nicht allein verbringen würden. Was sollte das? Marie hatte doch gewusst, dass ihre beiden ältesten Freundinnen kommen würden – und hatte es nicht für nötig gehalten, ihnen ein paar exklusive Stunden zu reservieren. Ellis Kopfschmerzen wurden stärker. Zuerst hatte alles so vielversprechend ausgesehen. Mit Marie durch den großen Garten zu schlendern, war schön gewesen. Es hatte sich vertraut angefühlt. In der erträglicher werdenden Wärme des frühen Abends waren sie bis zu den Olivenbäumen auf dem Hügel gelaufen, der die äußerste Grenze von Maries Grund markierte. Marie hatte ihr das verzweigte Schlauchsystem erklärt, das dazu diente, vor allem die jüngeren Bäume zu tränken, die noch nicht in der Lage waren, ausreichend Feuchtigkeit zu speichern, um über die Hitze des Tages zu kommen.
»Hast du das alles allein geschafft?«, hatte Elli gefragt.
»Nein, zum Glück habe ich hier echt viel Hilfe. Die Gruppo ist immer da, wenn ich was brauche, wir unterstützen uns ja alle gegenseitig. Vor allem Roberto aber hat mir anfangs viel geholfen, er kennt sich gut aus mit Bewässerung und Baumpflanzung.«
Elli hätte gerne noch mehr erfahren über jenen Roberto, aber Marie war losgelaufen, um einen gut versteckten Wasserhahn aufzudrehen. Dann waren sie den Hügel hinaufgeklettert, um das Funktionieren der Wasserverteiler zu überprüfen, und Elli war von der schweißtreibenden Klettertour die Luft ausgegangen. Keine weiteren Fragen möglich.
Zurück beim Haus hatten sie sich gemeinsam auf Giovannas Pasta gestürzt, die schon so oft Anlass geboten hatte, sich miteinander an einen Tisch zu setzen und zu reden. Ein Glas Wein dazu … Es hätte gut werden können. Und hatte sich auch gut angelassen, auch wenn Giovanna und Marie kaum einen Satz wechselten, der nicht unter Spannung stand. Elli war dennoch zuversichtlich gewesen. Ganz behutsam hatte sie versucht zu moderieren, hatte mal Marie, mal Giovanna ein Stichwort gegeben. Sie wollte beide Frauen dazu bringen, etwas von sich zu erzählen, in der Hoffnung, das Eis zwischen ihnen zu brechen. Dieses dicke Eis, das sich während der letzten Jahre gebildet hatte, wie auf einem See, der einen ganzen Winter lang unter eisigen Temperaturen liegt und dem zugleich die Zuflüsse fehlen, deren Strömung das Zufrieren verhindern könnte.
Vielleicht waren es ja nur diese fehlenden Zuflüsse, also die Abwesenheit von Bewegung in ihrer Freundschaft, die die Beziehung hatte erkalten lassen. Sie musste nur neue Nahrung bekommen in Form von Gesprächen, von Austausch, um wieder lebendig zu werden, hoffte Elli. Es hatte doch einmal eine Zeit gegeben, in der diese Freundschaft funktioniert hatte.
Doch dann, kaum waren die Teller leer gegessen, waren auch schon Maries Freunde aufgetaucht und hatten die zarten Sprösslinge aufkommender Wohlstimmung zwischen den Freundinnen zertreten. Unabsichtlich, ohne zu wissen, was sie taten, wie Elli annahm. Sie hatte Giovanna den stillen Vorwurf angesehen, den sie ebenso gut auf ein Plakat hätte schreiben und vor sich hinstellen können, so glasklar war er von ihrem Gesicht abzulesen. Und die Abneigung, die zwischen Giovanna und Larry herrschte, hätte Elli beinahe greifen können – da war es ihr mit ihrer Gesprächspartnerin besser ergangen. Sie und Christine hatten sich später in der Nacht sogar ausgesprochen freundschaftlich verabschiedet. Ellis Hoffnung, sich durch das Gespräch von ihrem höchsteigenen Dilemma abzulenken, hatte sich zwar nicht ganz erfüllt: Ihre Gedanken waren die ganze Zeit über voll von Toni und Matthias und ihren Kindern gewesen. Immerhin hatte sie aber mitbekommen, dass auch Christine eine Tochter hatte und dass es um deren pubertäre Befindlichkeiten nicht zum Besten stand. Ein guter Ansatzpunkt für eine weitere Begegnung, hatte Elli zufrieden vermerkt.
Dass Giovanna dagegen so gar keinen Weg in die unerwartete Situation gefunden hatte, bedauerte Elli. Sie hatte die Freundin immer wieder aus dem Augenwinkel beobachtet, hatte auch ihre unfruchtbaren Versuche, mit Larry in Kontakt zu treten, wahrgenommen und für sich beschlossen, dass dieser Larry ein rechter Kotzbrocken sein musste, wenn er ihre Freundin so unhöflich abblitzen ließ. Dann war Giovanna frühzeitig mit Nicoletta nach oben gegangen und nicht wieder aufgetaucht. Elli hatte sie später bei der Kleinen im Zimmer gefunden, wo sie auf der Matratze neben Nicoletta eingeschlafen war, hatte sie geweckt und zugesehen, wie Giovanna ganz benommen in ihr eigenes Bett hinübergetorkelt war. Nicht, bevor sie dem Mädchen mit großer Zärtlichkeit über den Kopf gestrichen hatte.
Schon seltsam, dachte Elli jetzt, während sie die letzten Schlucke aus ihrer Tasse schlürfte, wie sehr Giovanna Kinder mochte und wie leicht es ihr fiel, sie für sich zu gewinnen. Doch eigene Kinder waren für sie nie infrage gekommen, und sie wollte auch nicht mit Elli darüber reden. Als hätte sie auch dieses Thema in jenen schwer gesicherten Tresor gepackt, in dem so vieles von ihrer Vergangenheit steckte.
Und dabei war sie, Elli, es gewesen, bei der Giovanna eines Sonntagmorgens vor gut zwanzig Jahren Sturm geläutet hatte, um die Schlaftrunkene mit elektrisierenden Worten in die nebelkalte Realität jenes Novembertags zu holen: »Elli, hilf mir. Ich bin schwanger.« Dann war sie wie der Herbstwind selbst hereingefegt und immer wieder mit den gleichen Worten um Elli in ihrem Frotteeschlafanzug herumgelaufen: »Elli, Elli, das geht nicht. Das kann ich nicht. Das geht nicht, Elli. Das kann ich nicht.« Bis Elli es geschafft hatte, die Freundin am Arm zu packen und in die Küche zu ziehen, war sie selbst wach genug gewesen, um die Tragweite von Giovannas Worten halbwegs zu begreifen.
Sie hatte sie auf einen Stuhl am Esstisch geschoben und die Küchentür geschlossen. Das Drama hatte ja nicht die ganze Familie mitkriegen müssen, die damals erst aus ihr selbst, Matthias, Lena und ihrer Mama bestand. Lena war gerade erst in den Kindergarten gekommen, und Giovanna seit – Elli hatte flugs im Kopf nachgerechnet – vier Monaten Single gewesen. Ein halbes Jahr lang hatte sie es davor mit Armin ausgehalten, einem ehemaligen Klassenkameraden, und ein paar Wochen lang hatte Elli gedacht, Giovanna habe tatsächlich jemanden gefunden, der zu ihr passte und bei dem sie bleiben würde. Doch Anfang Juli in jenem Jahr hatte sie ihm von jetzt auf gleich den Laufpass gegeben.
»Und warum?«, hatte Elli damals gefragt.
»Warum, warum«, hatte Giovanna gesagt und dabei in den Boden hineingestarrt, als stünde dort die Antwort geschrieben, »darum halt. Weil es nicht mehr ging. Er wollte bei mir einziehen.« Giovannas immerwährende Sehnsucht nach Freiheit.
Und jetzt sollte sie plötzlich schwanger sein?
»Von wem denn, Giò, um Himmels willen? Doch wieder Armin?«, hatte Elli wissen wollen.
Die Freundin hatte den Kopf geschüttelt. »Nein, Armin habe ich nicht mehr gesehen seit damals. Nein, es muss nach der Wiesn passiert sein. Du weißt schon, dieser Spanier, den wir kennengelernt haben.«
»Giovanna«, jetzt hatte Elli wie ihre eigene Mutter geklungen, »du hast mir doch geschworen, dass da nichts gewesen ist mit diesem Pablo.«
»Raul«, hatte Giovanna sie trocken verbessert.
»Dann eben Raul. Du spinnst doch! Warum?«
Giovanna hatte sie mit großen Augen angestarrt und ihre Frage völlig ignoriert. »Elli, ich kann es nicht behalten.«
»Natürlich nicht«, hatte Elli spontan geantwortet, dann aber innegehalten und nachgefragt. »Bist du dir sicher? Ich meine, so eine Entscheidung sollte doch gut überlegt sein.« Schon wieder war da dieses Gefühl gewesen, ihre Mutter würde aus ihr sprechen.
»Ist schon überlegt«, hatte Giovanna knapp gesagt, und Elli war klar gewesen, dass sie gar nicht mehr weiter in sie zu dringen brauchte.
Am nächsten Tag hatte sie Giovanna bei ihrer eigenen Frauenärztin angemeldet, von der sie wusste, dass die kein Urteil über sie fällen würde. Doch bevor die Freundin den Termin wahrnehmen konnte, hatte bei Elli das Telefon geklingelt: »Elli, ich hab meine Tage bekommen«, hatte Giovanna überglücklich irgendwo in der Toilette eines jener Haidhauser Cafés in ein Münztelefon gebrüllt, die zu ihrem regelmäßigen Münchner Ausgehrevier gehörten, und damit war die Sache erledigt. Ob tatsächlich in ihr ein Kind am Werden gewesen war, erfuhren sie nicht, und Giovanna wurde nie wieder schwanger.
Elli musste über ihren Grübeleien eingeschlafen sein. Kopfschmerzen waren das Erste, das sie wahrnahm, als sie die Augen wieder aufschlug. Kurz nach zwei war es inzwischen, verriet ein Blick auf ihre Armbanduhr. Ob Giovanna zurück war aus dem Ort? Und Marie? Elli fasste sich an die Stirn und erwog, nun doch eine Ibu zu nehmen. Gegen vier, hatte Marie angekündigt, würden sie aufbrechen in Richtung Meer. Sie wollten ein Volksfest besuchen, das Palio di San Giovanni in Porto Recanati. Dieses Mal wirklich zu dritt, wie Elli hoffte – zumindest hatte sich bisher noch keine zusätzliche Gesellschaft angesagt. Aber das war ja gestern auch nicht anders gewesen. Auf einen weiteren Abend mit halbgarer Konversation hatte sie jedenfalls keine Lust. Schon gar nicht mit diesem Druck im Kopf. Elli raffte sich auf, lauschte noch ein paar Augenblicke auf das sanfte Wispern des Windes in den Blättern der Stauden und ging dann zum Haus zurück, wo sie im Näherkommen die Stimmen von Marie und Giovanna vernahm. Sie traf sie beide in der Küche – der Milchtopf noch in der Spüle, wie Elli ihn zurückgelassen hatte –, und sie unterhielten sich so freundschaftlich, als hätte es nie einen Zwist zwischen ihnen gegeben. Nur jemand, der beide so gut kannte wie Elli, wäre in der Lage gewesen, die Zwischentöne herauszuhören. Elli nutzte die Gunst der Stunde und überließ die beiden Frauen sich selbst, um sich oben eine Tablette zu holen und unter die Dusche zu gehen.
Eineinhalb Stunden später saßen die drei Frauen mit Nicoletta zusammen im Auto auf dem Weg nach Porto Recanati. Elli und Giovanna hatten die Hinweisschilder auf den Ort und das Fest schon auf dem Weg hierher gesehen. Knapp eineinhalb Stunden würde die Fahrt dauern, hatten sie von Marie erfahren. »Wird der Ausflug nicht zu lang für Nicoletta?«, hatte Elli gefragt, als sie zu Maries Auto gegangen waren. »Ach nee, das schafft sie schon. Sie kann jetzt auf der Fahrt schlafen. Und abends hält sie in der Regel gut durch.« Dann hatte Marie mit einer gehörigen Portion Verachtung in der Stimme hinzugefügt: »Es ist ja nicht wie in Deutschland, wo die Kinder um sieben ins Bett müssen.« Dann waren sie in Maries blauen Van gestiegen, Elli vorne bei Marie, Giovanna hinten auf die Rückbank zu Nicoletta. Dem Van fehlte die hinterste Sitzreihe, und überhaupt wirkte der Wagen für vier Personen etwas überdimensioniert. Offenbar hatte Marie das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen. »Ich muss mein Obst und Gemüse transportieren, sonst würde ich nicht so ein Riesending fahren«, hatte sie erklärt, während sie Nicoletta in den Wagen gehoben und angeschnallt hatte.
Als ob ich nicht ganz andere Probleme hätte als die Ökobilanz von deinem Auto, hatte Elli gedacht und ein angedeutetes Lächeln von Giovanna eingefangen, das Marie zum Glück nicht bemerkt hatte, das aber sicher Ähnliches bedeutete.
Jetzt lenkte Marie den Wagen in Richtung der steinernen Brücke, am Ort vorbei und durch die Allee in die Richtung, aus der Elli und Giovanna gekommen waren, und begann vom Palio in Porto Recanati zu schwärmen. »Ihr werdet es lieben, das Fest ist wirklich einzigartig. Es geht auf eine alte Tradition zurück, ist aber erst Mitte der 90er wiederbelebt worden. Es ist jetzt das dritte Mal, das ich hinfahre. Im ersten Jahr hat mich Roberto mitgenommen, es ist immer am dritten Samstag im August.«
Von hinten war das Kichern Nicolettas zu hören, die von Giovanna gekitzelt wurde. Marie sah in den Rückspiegel, suchte Giovannas Blick, wie Elli bemerkte. Dann sprach Marie weiter. »Letztes Jahr war Nicoletta ja noch sehr klein, aber sie hat sich total geekelt, weil einer gestolpert ist und die Fische oben rausgeglitscht sind.«
»Ist das wahr? Du hast dich geekelt?«, hörte Elli Giovanna fragen. Sie drehte sich um und sah die Kleine eifrig nicken – auch wenn die bestimmt nicht wusste, wovon überhaupt die Rede war.
»Aber wieso Fische?«, fragte Giovanna dann verwirrt. »Palio – da dachte ich an Pferde.«
Marie lachte. »Enttäuscht? War ich beim ersten Mal auch. Aber in Porto Recanati schleppen Menschen Fische und nicht Pferde Menschen.« Sie machte eine kurze Pause. »Und irgendwie finde ich das auch gerechter.« Klar, das war typisch Marie.
»Hhm«, sagte Giovanna unschlüssig. »Und wie sieht das dann aus?«
»Immer zwei Fischer tragen den frischen Fisch in so einem Riesenkorb – Coffa nennen sie das Ding – an einem Stock zwischen sich und rennen damit durch die Straßen. Nach einer Weile geht der Korb an die nächsten beiden, und so weiter. Es gibt Mannschaften aus den verschiedenen Ortsteilen, das ist wirklich wie beim Palio in Siena. Aber jede Mannschaft hat mehrere Zweierteams.«
»Und was soll das?«, wollte Elli wissen.
»Es waren wohl ursprünglich mal zwei Fischer, jeder von ihnen wollte mit seinem Fang schneller beim Markt sein als der andere, um das bessere Geschäft zu machen. Und dann haben sie eine Tradition daraus gestrickt. Zu Beginn gibt es einen Einmarsch mit alten Kostümen. Ein Riesenspektakel.« Marie geriet richtig ins Schwärmen, und Elli sah amüsiert zu ihr hinüber.
»Puh, ich fürchte, da riecht’s dann nicht so gut«, mutmaßte Giovanna wieder an Nicoletta gewandt, »was meinst du?«
»Riecht nich gut«, sekundierte die Kleine und schob ein angeekeltes »Bäh« hinterher.
»Vielleicht hilft ja ein Eis gegen den Geruch, was meinst du? Was ist denn dein Lieblingseis?«
Elli hörte von hinten nur noch ein vergnügtes Glucksen, dann begeistertes Händeklatschen und musste lächeln.
»Ob es wohl weltweit ein Kind gibt, das kein Eis mag?«, sagte sie dann zu Marie.
»Ich glaub nicht«, antwortete die lachend, um dann nach hinten zu rufen: »Schoko und Erdbeere mag sie am liebsten, die Klassiker.«
»Lilly steht total auf Walnuss«, erzählte Elli, »Lena mag Mokka, und die Jungs lieben beide Melone.« Ein wenig Sehnsucht überfiel sie, als sie an ihre Kinder dachte. Wie schön wäre es, wenn sie jetzt dabei sein könnten. Und Matthias. Ellis verwirrtes Gehirn gönnte sich eine kleine Denkpause, suchte nach Orientierung, ihre Fingerspitzen fanden ihre Stirn und den Schmerz dahinter, der immer noch nicht ganz verschwunden war. Sie kniff die Augen zusammen, als könne sie so die Bilder besser sehen, die in ihrem Inneren auftauchten: Die Kinder, wie Orgelpfeifen aufgereiht fürs Familienfoto vor irgendeinem Hafen. Lena und Max, ungeduldig neben ihr auf und ab hüpfend, weil die Warterei vor dem Eisstand kein Ende nehmen wollte, Lilly, noch im Kinderwagen, und Nick, wieder einmal ausgerissen, um auf eine erschreckend hohe Mauer zu klettern – im kroatischen Rovinj musste das gewesen sein. Die Aufgabe, ihn wieder einzufangen, übernahm zuverlässig Matthias. Wie Fotos hatte sie die Szenen vor Augen, Aufnahmen, aus denen alle Störungen beseitigt, in denen alle Farben aufgehübscht, alle Kanten weichgezeichnet waren. Festgehalten nur der perfekte Moment, eingefroren in der Sicherheit der längst geschehenen Zeit, deren Kümmernisse nicht mehr präsent und schon vergessen waren.
Doch sie würden niemals wiederkehren, diese Momente. Nicht nur, weil jene Phase ihres Lebens lange vorbei, die Kinder unwiderruflich keine Kleinkinder mehr waren, sondern auch, weil es jetzt Fragen gab zwischen ihr und Matthias. Weil es damals keine Fragen gegeben hatte, die sie an ihn gestellt und auf die sie keine Antwort bekommen hätte. Wo waren sie jetzt hergekommen, all diese Zweifel?
Elli bemerkte, dass Marie zu ihr herübersah. Sie sagte jedoch nichts. Von hinten war wieder das gackernde Lachen Nicolettas zu hören. Giovanna schien alles zu geben, um der Kleinen die Fahrt bis zum Meer zu versüßen.
Marie sah in den Rückspiegel, und ein leichtes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Auf dem Heimweg wird sie eh schlafen, da brauchst du nicht mehr den Babysitter zu spielen.«
Giovanna lachte gutmütig. »Mach ich doch gern, kein Problem.«
Und Elli nutzte die Gelegenheit, ein bisschen Werbung für Giovanna zu machen, konnte ja nicht schaden. »Meine Kinder lieben Giò, weißt du? Ich weiß nicht, wie sie es macht, aber wenn sie sich zwischen mir und ihr entscheiden müssten, dann würde ich wahrscheinlich den Kürzeren ziehen.«
»Du übertreibst gnadenlos«, rief Giovanna von hinten, aber Elli wusste, sie hatte sich über die Bemerkung gefreut, und sie registrierte, dass Marie erneut in den Rückspiegel sah, diesmal mit einem prüfenden Ausdruck im Gesicht. Dann wandte sie sich an Elli.
»Wie geht’s denn bei dir daheim?«
Elli zuckte zusammen, fühlte sich ertappt, beruhigte sich aber wieder, als Marie weiterfragte: »Was machen die Kinder? Nick müsste inzwischen 15 sein, oder? Und Max? Er macht jetzt dann Abi, oder nicht? Oder hat er schon?«
»Nein, im kommenden Schuljahr ist es so weit, 2017. Wenn er nicht vor lauter Flausen im Kopf eine Ehrenrunde dreht«, antwortete Elli.
»Was für Flausen? Mädchen?«
»Er hat eine Freundin seit Kurzem, hängt jede freie Minute mit ihr rum«, erzählte Elli.
»Da spricht die verlassene Mutter – Abnabeln ist angesagt, meine Liebe.«
»Ach, ich habe deine Sticheleien ehrlich vermisst«, platzte es spontan aus Elli heraus. Doch sie sah, wie Marie grinste, und stellte für sich fest, dass es wirklich so war. Mit Marie Zeit zu verbringen, war selten ganz harmonisch gewesen, und niemals langweilig. Und das schien sich nicht geändert zu haben.
Aber Marie hatte ja recht mit ihrer gnadenlosen Prognose.
»Klar ist das nicht leicht. Vor allem, weil mein kleiner Max gar nicht mehr ohne das Mädchen zu kriegen ist. Als wäre er früher nur ein halber Mensch gewesen.«
»Ha, das erinnert mich schwer an eine alte Freundin von mir«, Marie ließ sich Zeit mit ihrem Satz. »Elli hieß sie, glaub ich. Gerade noch da und plötzlich war sie weg, als ein Typ namens Matthias aufgekreuzt ist. Und da war sie noch keine 18.«
»Das war doch was anderes«, widersprach Elli.
»Für mich nicht. Und für Giovanna auch nicht, stimmt’s?«, fragte Marie nach hinten. »Wir haben dich verloren an diesen Matthias.«
»Ihr wart aber nicht meine Eltern, das ist doch noch ein bisschen ein Unterschied.«
»Meinst du?«, fragte Marie zweideutig und sah wieder in den Rückspiegel zu Giovanna. »Na ja, vielleicht. Und wie geht’s überhaupt Matthias? Hat mich schon gewundert, dass er dich allein hat fahren lassen. Ist wohl nix mehr mit der innigen Liebe, hm?«
Jedes Wort ein Schlag für Elli. Ob Marie etwas ahnte? Aber würde sie dann dermaßen in die Offensive gehen? Nein, so gemein war sie nicht. Ja, sie konnte frotzeln und piesacken, aber wenn etwas ernst war, dann schaltete sie ganz schnell um und wurde eine einfühlsame Zuhörerin, die beste, die Elli kannte.
»Es geht ihm gut. Er war froh, zu Hause bleiben zu können. Er genießt es, wenn er mich und die ganze Bande mal für ein paar Tage los hat, glaube ich«, erklärte Elli und war froh, dass sie Giovanna nicht ansehen musste. Die Blicke, die sich in ihren Nacken bohrten – oh ja, ihre Haut glühte an dieser Stelle –, waren schwer genug auszuhalten. Aber gelogen habe ich noch nicht, beruhigte sie sich selbst. Im Geiste erklärte sie das auch Giovanna, aber sie konnte es nicht laut sagen; es war nicht der richtige Augenblick für die ganze Wahrheit. Noch nicht. Noch fehlte ihr es an Vertrauen zu Marie, sie waren sich nicht mehr – oder noch nicht wieder – nahe genug.
Wie Marie angekündigt hatte, war der Ort am Meer voller Menschen. Entlang der Straßen hatten sie sich versammelt und auf den Plätzen, saßen auf Gehsteigen und in den Cafés und Bars, um auf das Spektakel zu warten. Marie fuhr das Auto zu einem Parkplatz in Meeresnähe, wo Elli eine frische Brise wahrnahm, welche die Hitze des späten Nachmittags für einen Moment ein wenig milderte, und führte sie dann in Richtung der zentralen Piazza und des Castello Svevo, auf der Suche nach einer Stelle, von der aus sie eine gute Sicht auf die Sciabegotti haben würden.
»So heißen die Wettkämpfer«, hatte sie ihnen im Auto erklärt. »Da vorne ist eine Lücke«, rief Marie jetzt und eilte mit zügigem Schritt voraus. Sie winkte die Freundinnen zu sich, und kaum hatten sich Elli und Giovanna mit Nicoletta in die dichte Reihe der Menschen gedrängt, brandete Beifall auf. Dann waren die ersten Schläge der Trommler zu hören, die in mittelalterlich anmutenden Spielmannskostümen die Straße vom Castello Svevo herkamen. Für einen Augenblick schien das brodelnde Stimmengewirr, das über dem Zentrum lag, zu erlöschen. Staunend schienen die Wartenden wie auf Befehl alle zugleich den Atem anzuhalten, bis ein kleines Mädchen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, vielleicht ein Jahr älter als Nicoletta, begeistert brüllte: »Mama, guarda, paromp-pa-pom-pom, paromp-pa-pom-pom!« Die Umstehenden fingen an zu lachen, und das Reden und Erzählen setzte wieder ein, begleitete die Teilnehmer des Festmarsches in ihren Kutten oder Roben auf ihrem Gang die Straße entlang, während alle aufgeregt dem Wettkampf entgegenfieberten. Das eigentliche Rennen der Sciabegotti fand erst statt, wenn es dunkel geworden war, weil die Fischlein in der Sonne sonst verderben würden, hatte Marie vermutet. 30 Kilogramm Fisch hatte jedes Läuferpaar auf seinen Schultern zu transportieren, und die Wettkämpfer mussten nicht nur möglichst schnell zum Ziel gelangen, sondern auch möglichst viel Fisch mitbringen, und das in gutem Zustand. Eine weitere Reminiszenz an die Tradition, schließlich lebten die Fischer von den Tieren, die sie aus dem Meer zogen.
Der späte August hatte noch einmal alle Kraft in diesen Tag gelegt und zeigte, dass er sich in Sachen Sommerhitze mit dem Vormonat messen konnte. Elli spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken und die Beine hinunterlief, sie war froh über das leichte, lange Kleid, für das sie sich entschieden hatte. So würde wenigstens keiner die Nässe an ihren Schenkeln und Waden bemerken. Dennoch versuchte sie immer wieder unauffällig, die Beine mit dem Stoff des Kleides abzutupfen.
»Wie können die es nur in diesen dicken Stoffen aushalten?«, fragte sie Marie und Giovanna, auf eine Dame in einer roten, mittelalterlich aussehenden Festrobe deutend, die eine mächtige Schleppe hinter sich herzog.
»Du gewöhnst dich dran«, antwortete Marie leichthin, Elli beobachtete allerdings, wie sie sich selbst hin und wieder rasch über die Stirn wischte, und konnte sich ein feines Lächeln nicht verkneifen. Giovanna schien sich dagegen richtig wohl in ihrer Haut zu fühlen, ihr Haaransatz zeigte noch nicht einmal eine Spur von Feuchtigkeit, und dabei hatte sie die Kleine huckepack genommen. Ein junger Mann, der selbst mit einem Mädchen an der Hand neben ihr stand, scherzte mit Nicoletta, die von ihrem Thron hoch über Giovannas dichter Haarmähne herunterlachte, und Elli beschlich der Verdacht, dass dem kontaktfreudigen Vater weniger an der Unterhaltung mit dem Kind als vielmehr mit der hübschen Frau darunter gelegen war, die er sicher für die Mutter der Kleinen hielt. Elli schüttelte staunend den Kopf. Wie machte Giovanna das nur? Sie stupste Marie in die Seite und deutete mit dem Kopf in Richtung der Freundin. Marie sah nur kurz hinüber und flüsterte Elli ins Ohr: »Immer noch die Alte, sie hat sich nicht geändert.«
Da bin ich mir nicht so sicher, dachte Elli und erinnerte sich an das Bild ihrer völlig verlorenen Freundin vom Abend zuvor, die so gar keinen Anschluss gefunden hatte. War Marie das denn gar nicht aufgefallen? Sie hörte Giovanna jetzt laut auflachen, während ihr Nebenmann ein befriedigtes Gesicht machte. Elli hätte gern gewusst, was er ihr gesagt hatte, aber was auch immer, sie war froh darüber, Giovanna wieder fröhlich zu erleben. Vor ihnen ging die Sfilata, der Festzug, weiter. Ein schwarzes Pony, das ein Mann hinter sich herzog, brachte Nicoletta zum Jauchzen, eine Musikgruppe mit Akkordeon und einem Tamburin erregte Giovannas Aufmerksamkeit. Sie fing mit dem Kind auf den Schultern spontan zu wippen an, was bei Elli unwillkürlich Sorge um ihr Gleichgewicht auslöste. Nicoletta war zwar ein zartes Kind, im Vergleich zu Giovanna mit ihrer zierlichen Jungmädchenfigur aber hätte sogar ein Zweijähriger gewichtig gewirkt.
»Ich kann sie gern auch mal nehmen«, rief sie ihr zu und machte entsprechende Gesten, um sich in dem lärmenden Gemisch aus Gesprächsfetzen, Trommelschlägen und dem Geschrei von zwischen den Beinen der Menschen spielenden Kinder verständlich zu machen. Giovanna hob den Daumen, winkte aber ab, Elli konnte die Worte von ihren Lippen ablesen: »Es geht schon.« Offenbar hatte Marie sie auch etwas gefragt, denn Elli sah, dass Marie Giovanna die Hand auf den Arm gelegt hatte. Die schüttelte nur lachend den Kopf und ruckelte das Kind auf den Schultern zurecht. Die Durchsagen, die jetzt per Lautsprecher übertragen wurden, konnte Elli nicht verstehen, und sie beugte sich zu Giovanna hinüber, um sie sich übersetzen zu lassen. Die Erklärung bekam sie aber von Marie – natürlich, nach bald vier Jahren in Italien war es klar, dass auch sie die Sprache verstand. Jede Gruppe einzeln werde nun auf einer Bühne im Castello vorgestellt und mit Glückwünschen versehen, berichtete Marie – »Das kann eine Weile dauern«, fügte sie hinzu. »Wir müssen nicht hier stehen bleiben, aber wenn wir gehen, ist der Platz wahrscheinlich weg.« Elli, die noch immer mit dem Schweiß an ihrem Rücken kämpfte, fragte sich zunehmend gestresst, wie schnell sie zum Meer laufen und sich dort mitsamt ihrer Kleidung ins kühlende Nass stürzen könnte.
»Da kann ich ja gottfroh sein, dass die nicht in der Mittagshitze rennen«, stieß sie energisch und entsprechend laut hervor und erntete einen mitleidigen Blick von Giovanna.
»Sollen wir dir ein Eis holen? Ich glaub, mein Passagier da oben könnte auch eins brauchen«, brüllte sie. Sie wandte sich zu Marie, die gerade ihr Handy checkte. »Marie? Ist das in Ordnung?«
Die nickte, steckte ihr Mobiltelefon in die Tasche ihrer Jeans und begann, in ihrer großen Schultertasche zu wühlen. »Eis« und »zahlen« verstand Elli. Schon hatte Marie ihren Geldbeutel gefunden und zog einen Schein heraus. Doch Giovanna winkte ab und rückte ein Stückchen näher heran, um besser verstanden zu werden.
»Elli, welche Sorte? Marie, du magst ja kein Eis, wie ich dich kenne.«
»Stimmt. Noch immer nicht.« Marie hatte sich nie viel aus süßen Sachen gemacht, »Ich bleibe hier und verteidige unseren Platz. Elli, geh ruhig mit, dann kannst du selbst schauen und aussuchen.« Sie deutete den Corso hinunter. »Geht dort entlang, da kommen einige Eisdielen, die haben die verrücktesten Sorten.« Elli nickte, und sie ließen Marie stehen und bahnten sich mit Mühe einen Weg durch die Wartenden. Die Theke in der Gelateria entschädigte sie reichlich für die Anstrengung. Elli ließ die Auswahl »senza zucchero« mit einem Schulterzucken links liegen – jetzt musste eine ordentliche Portion Süßes her. Dem bunten Angebot an Eissorten »ohne Zucker« gönnte sie also keinen Blick, sich zu ihrer Waffel mit Bacio und Limone aber noch eine Ladung Sahne obendrauf. Giovanna begnügte sich mit einer einzigen Kugel Mokka und überredete Nicoletta dazu, ihrem hellen Kleid zuliebe einen Becher statt einer Waffel zu nehmen. Bis sie wieder zurück bei Marie waren, hatte sich das Kind trotz aller Vorsichtsmaßnahmen einen rötlich-braunen Erdbeerbart zugelegt, und Elli teilte sich ein inzwischen recht unansehnliches Papiertaschentuch mit den anderen beiden, um die Hände halbwegs sauber zu bekommen. Vom Rubbeln hatte es sich bereits in unpraktische Fetzen aufgelöst, die überall haften blieben und die Hände so klebrig ließen wie zuvor. Sie pappten, genauso wie Ellis Kleid an ihrem Rücken, und sie begann sich den Liegestuhl hinter Maries Haus zurückzuwünschen, mit einem großen Wasser und vielleicht einem Glas Wein dazu. Matthias, dachte sie, Matthias würde jetzt eine Wasserflasche aus seinem Tarnfarbenrucksack zaubern. Das schmutzig-grüne Utensil schleppte er immer und überall mit sich herum. Hin und wieder hatte Elli versucht, ihm den Rucksack auszureden, der nicht nur aussah, als stamme er aus den 50er-Jahren, sondern das vermutlich auch tat. Ein paarmal hatte sie ihn in einem Kellerschrank verschwinden lassen, hatte Matthias als Ersatz einmal einen wunderbaren Lederrucksack und ein andermal einen gemusterten Eastpack zu Weihnachten geschenkt, mit einer großen Außentasche. Doch Matthias hatte sie alle nach dem ersten Mal Tragen in den Schrank geräumt und das Haus auf den Kopf gestellt auf der Suche nach seinem Armeerucksack, von dem er nicht einmal sagen konnte, wie er in seinen Besitz gelangt war. Bis Elli ihm verriet, wo er ihn finden konnte. Den Lederrucksack hatte sich dann Lena geschnappt, und den Eastpak verwendete Max als Schultasche. Elli hatte versucht, sich nicht über Matthias und sein stures Beharren zu ärgern. Und wenn er dann zum richtigen Zeitpunkt ein Pflaster aus einem der unzähligen Fächer ziehen und auf eine Blase an einer Ferse kleben konnte, wenn er eine seltsamerweise immer volle Packung Taschentücher oder auch einen Flaschenöffner darin fand, wenn er am Rand eines Jugendfußballplatzes im Spätherbst aus einer Thermoskanne heißen Tee in Becher verteilen konnte oder im Wartezimmer eines Kinderarztes mit einem Mau-Mau-Spiel aufwarten, um Zeiten des Leerlaufs und der Ungeduld zu überbrücken, dann war sie ihm jedes Mal unendlich dankbar gewesen. Ob Toni wohl auch so einen Wunderrucksack hatte? Immerhin – auch er war Vater, auch er hatte zwei Kinder … Ach, Elli, was soll das? Was willst du denn, einen zweiten Matthias?
Sie brach die Grübelei an dieser Stelle ab und zwang sich, keine weiteren Vergleiche zwischen ihren beiden Männern anzustellen. Jetzt war nicht die Zeit dazu. Um sie herum waren die Gespräche und Rufe der Zuschauer verstummt, gespannte Erwartung lag in der Luft. Dann hörte Elli vom Castel Svevo her den Ruf des Starters: »Coffe in spalla« – was Marie ihr rasch übersetzte: »Die Coffe auf die Schultern« –, dann ertönte der Startschuss. Das Palio hatte begonnen.
Die ersten beiden Zweierteams rannten schon kurz darauf in einem erstaunlichen Tempo an ihnen vorbei, gemessen an der doppelten Last, die sie mit sich schleppten – jene der beiden jeweils 15 Kilogramm schweren Körbe und die andere der großen Erwartungen, welche die jauchzenden Zuschauer auf sie setzten. Auf ihren Schultern hüpften die dicken Stangen unter dem Gewicht der Körbe, die zwischen den Läufern daran aufgefädelt waren. In den Körben taten die toten Fische dasselbe, so als seien sie noch lebendig. Elli verspürte tiefes Mitleid mit den gebeutelten Kreaturen, die auf solch unwürdige Weise zu ihrer letzten Bestimmung reisten. Und schon kamen die Nächsten angerannt, wieder hüpfende Fische, nachvollziehbar, dass Nicoletta sich davor ekelte. Marie zupfte Elli am Arm, deutete auf eines der Läuferpaare, mit blauen knielangen Hosen und ebenso blauen Shirts dazu.
»Die mag ich am liebsten«, brüllte sie über den Lärm hinweg. Elli nickte, und ihr Blick blieb fasziniert an den Wadenmuskeln der jungen Männer hängen, die unter der Last der Coffe wie gemeißelt hervortraten, und sie antwortete Marie mit spontaner Begeisterung in derselben Lautstärke: »Hoffentlich gewinnen sie!« Die klebrigen Handflächen, die Hitze und ihre Müdigkeit waren plötzlich vergessen, und schon bald hörte sie sich ebenso begeistert schreien und rufen wie Marie und all die Zuschauer um sie herum. Elli war so hingerissen von dem Wettkampf, dessen Zeugin sie wurde, dass sie Maries Freunde erst bemerkte, als sie ein Klopfen auf ihrer Schulter wahrnahm. Sie erkannte Larry, Christine und Ottavio. Christine war es, die sie berührt hatte, während Ottavio Marie mit einem Küsschen auf die Wange begrüßte. Larry – der laue Larry, wie Giovanna ihn in ihrer morgendlichen Unterhaltung über den Abend zuvor getauft hatte – nahm Marie gar nicht mehr so lau in den Arm und signalisierte zu Ellis Überraschung einen gewissen Besitzanspruch. Elli tauschte einen Blick mit Giovanna, die an Maries anderer Seite stand, und sah die Freundin eine genervte Grimasse ziehen. Elli konnte sich vorstellen, was Giovanna von der ungewollten Gesellschaft hielt. Damit war der Abend zu dritt schon wieder passé. Möglicherweise bezog sich Giovannas Mimik aber auch auf Maries ganz eindeutig ambivalente Reaktion auf Larrys Umarmung. Ihre Körperhaltung – halb hingegeben, halb trotzig abgewandt – war Ausdruck ihres offensichtlichen Versuchs, Unabhängigkeit oder doch zumindest Neutralität zu demonstrieren. Derweil bot Ottavio Elli die Hand zum Gruß, und der kurze Blick, den er ihr schenkte, ließ sie erkennen, dass er umwerfend schöne melancholische Augen hatte. Dann wandte er sich zu Giovanna und Nicoletta. Giovanna hatte die Kleine wieder auf ihre Schultern gehoben, nachdem das Eis verzehrt und die Gefahr von tropfender Erdbeer-Schokoladensauce, die in ihren Haaren hätte landen können, gebannt war. Jetzt hatte das Mädchen Ottavio erblickt und zappelte vor Begeisterung. Nicoletta gab keine Ruhe, bis Giovanna sich nach vorne beugte und er ihr die Kleine von den Schultern nehmen konnte. Elli sah die Freundin von der Last befreit den Rücken strecken und Ottavio sie leicht am Arm berühren. Ach nee, was war das jetzt? Elli sah noch einmal genauer hin und erkannte auf Anhieb dieses besondere Leuchten in Giovannas Gesicht, das nur für jene Männer gemacht schien, die sie interessierten. Die Mundwinkel leicht angehoben, was die klaren, in den letzten Jahren ein wenig kantiger gewordenen Züge weicher wirken ließ und ihre herbe Schönheit hervorhob. Hat sie es doch schon wieder geschafft! Elli schüttelte den Kopf. Für Giovanna zumindest würde das Auftauchen der drei auch etwas Gutes haben, so viel war sicher. Ottavio schien, obwohl Nicoletta auf seinen Schultern alles tat, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, seine Augen nicht von Giovanna abwenden zu können. Seltsam, dachte Elli, gestern war das noch ganz anders gewesen. Oder habe ich da was verpasst? Nein, entschied sie für sich, gestern hatte Ottavio Giovanna kaum mehr Aufmerksamkeit geschenkt als der laue Larry. Das, was da passierte, musste gerade eben seinen Anfang genommen haben.
Während Elli sich wieder den Wettkämpfern zuwandte, überlegte sie weiter, welch merkwürdige besondere Faszination Giovanna auf Männer ausübte – Ausnahmen wie Larry oder auch Matthias mochten die Regel bestätigen. Was Larry anging, konnte Elli sein Verhalten noch nicht einschätzen. Vielleicht hatte Giovanna auch recht, und die Mitglieder der Gruppo di Monaco kochten einfach gern im eigenen Saft und fanden sich viel zu cool, um sich mit Angehörigen einer weniger außergewöhnlichen Kaste zu beschäftigen. Das könnte eine Erklärung sein für Larrys kühle Distanz zu Giovanna. Und natürlich war selbst eine Schönheit wie sie nicht jedermanns Geschmack. Matthias zum Beispiel schien gegen sie immun zu sein, vielleicht aus einer Art automatischer Selbstkontrolle heraus. Aber vielleicht fehlte zwischen Ellis Mann und ihrer besten Freundin auch wirklich einfach die Chemie. Darauf hätte Elli allerdings nicht wetten mögen. Wäre er nicht ihr Ehemann, sähe das vielleicht ganz anders aus. Einmal hatte sie ihn gefragt, ob er Giovanna eigentlich attraktiv finde, und Matthias hatte nur gebrummt. Natürlich hatte er nichts gesagt – was hatte sie erwartet? Die Erinnerung daran machte sie schon wieder ärgerlich. Konnte er denn nie Stellung beziehen? Mann, Elli, dachte sie dann, wäre es dir lieber, er wäre scharf auf deine beste Freundin? Und würde dir das auch noch unter die Nase reiben? Wie wohl Toni auf Giovanna reagieren würde? Er würde sie mögen. Auf seine ganz eigene Art, sie war sich sicher. Toni hatte diese Leichtigkeit des Denkens, diese unbefangene Art, mit dem Leben umzugehen – er nahm es an wie ein Spiel, mit großer Neugier und ohne allzu viel Rücksicht auf Konventionen. Sonst hätte er sich sicher nicht mit ihr eingelassen. Die Frage war, ob dies für sie ein Modell war, das für eine gemeinsame Zukunft reichte.