»Mit wem hast du denn telefoniert?«, fragte Marie, als Elli die Außentreppe heruntergestiegen kam, »du hast so glücklich ausgesehen!« Elli sah sie an. Sollte sie ihr von Toni erzählen? Irgendwann würde sie es tun. Marie hatte ohnehin schon Verdacht geschöpft, zudem verlangte es die Gerechtigkeit – Giovanna wusste schließlich auch davon. Und wenn Elli wollte, dass ihr Dreierbündnis noch einmal zu alter Stärke finden würde, dann mussten die Heimlichkeiten aufhören. Andererseits – sie hatte Tonis Stimme noch im Ohr, seine liebkosenden Worte, süß und zart wie sanfter Frühlingshonig. Nein, diesen kostbaren Moment wollte sie nicht teilen. Das konnte noch warten. Sie winkte also ab und hoffte, Marie würde sich mit einem »Nicht so wichtig« für den Augenblick zufriedengeben.
Tatsächlich hatte sich die Freundin schon wieder ein paar Schritte entfernt, den erwartungsvollen Jimmy an ihrer Seite, und winkte Elli, ihr zu folgen.
»Was willst du eigentlich?«, hörte sie Marie zu dem Hund sagen, der immer ein paar Schritte vorauslief, um dann wieder stehen zu bleiben und sein Frauchen zu fixieren. »Nein, mein Lieber, wir gehen jetzt nicht spazieren, ich habe was anderes vor«, Marie tätschelte dem riesenhaften Vierbeiner im Vorübergehen den schwarz-weißen Kopf, schlenderte dann zum Tisch an der Hauswand, über dem sie einen Sonnenschirm aufgespannt hatte, und ließ sich auf der Bank mit dem Rücken zum Haus nieder. Ein großer Schuhkarton thronte in der Mitte des Tischs, der Deckel balancierte auf dem Inhalt, der aus der Kiste herauszuquellen drohte. Fotos, wie Elli im Näherkommen feststellte.
»Schade, dass Giovanna nicht hier ist. Ich hätte die Kiste eigentlich gern mit euch beiden zusammen durchgeschaut. Wo ist sie denn jetzt? Ist sie noch oben?«, fragte Marie.
Elli setzte sich ihr gegenüber und schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist schon wieder weg. Mit Ottavio«, fügte sie mit vielsagendem Unterton hinzu. Marie hob eine Augenbraue und angelte wortlos eine Zigarette aus der Packung, die sie sich vom Fensterbrett holte.
Elli sah es mit Überraschung. »Ich dachte, du rauchst nicht mehr. Hast du nicht erzählt, du hättest aufgehört?«
»Eigentlich ja. Nur noch ab und zu.« Marie ließ ein sehr gebraucht aussehendes Zippo-Feuerzeug schnappen und sog die Hitze der Flamme energisch in die Zigarette, sodass deren vorderes Ende laut zischend aufglühte.
»Manchmal brauche ich’s noch – aber ich tu’s nie drinnen. Larry hat es sich komplett abgewöhnt, seit einem guten Jahr. Er kriegt die Krise, wenn er Rauch im Haus riecht.«
Larry ist also doch wichtig, soso, dachte Elli und nickte. »Und jetzt brauchst du es gerade?« Marie drehte den Glimmstängel so, dass sie ihn von allen Seiten betrachten konnte, als fände sie die Antwort ins Weiß der Papierhülle geschrieben, nahm noch einen Zug und stieß mit einem Fffft die Luft aus, bevor sie mit ein wenig Herausforderung in der Stimme antwortete. »Ja, scheint so, oder?« Dann versetzte sie dem Schachteldeckel mit der freien Hand einen raschen Stoß, sodass er über den Rand des Kartons rutschte und gleich ein paar Bilder mitnahm. »Warum muss sie jetzt mit diesem Ottavio rumziehen? Jetzt habe ich mir extra Zeit genommen, und dann ist sie nicht da«, murrte sie.
Den gleichen Gedanken hatte Elli auch schon gehabt, doch sie wollte Giovanna nicht in den Rücken fallen, also sagte sie: »Das konnte sie ja nicht wissen. Nach eurem Streit gestern hat sie vielleicht den Eindruck, du willst lieber keine Zeit mit ihr verbringen.«
Marie stieß eine kompakte Rauchwolke aus. »Ah, diese Mimose! Sie müsste mich doch besser kennen!«
»Sie kennt dich eben nicht mehr«, stichelte Elli, und Marie streifte sie mit einem Blick, ohne etwas zu erwidern. Stattdessen zog sie die aus der Kiste gefallenen Bilder zu sich her. Ein paar Kinderfotos ihrer Mädchen, die sie Elli hinschob. Dann holte sie die Kiste näher zu ihnen heran, und gleich obenauf erkannte Elli sich selbst. Arm in Arm mit Giovanna und Antonella, alle drei mit einem leuchtend orangefarbenen Cocktail vor sich.
»Erinnerst du dich noch an diese Bar in Heraklion? Der Kellner, der immer wieder vorbeikam und sich nicht entscheiden konnte, ob er lieber Giovanna oder Antonella angraben sollte. Und die beiden haben ständig den Platz getauscht, um ihn durcheinanderzubringen.«
Marie sah auf das Foto und nickte. »Antonella hat so glücklich gewirkt damals. Gar nicht so, als ob …«, sie brach ab.
»Hätten wir es merken müssen?«, fragte Elli leise. Wie viel Hunderte Male hatten sie sich diese Frage schon gestellt, »hätten wir merken müssen, was mit ihr los war?«
Vier Jahre waren ins Land gegangen, bis sie zu ihrer zweiten Abiturfahrt aufgebrochen waren. Eine richtig große Reise zu viert – davon hatten sie immer geträumt seit ihrem kurzen Zeltausflug nach Italien, bei dem Elli schon schwanger war. Als sie das Kind vier Monate später verloren hatte, im Herbst des Jahres, hatte lange Zeit keine von ihnen Lust auf eine Reise. Dann, als alle begonnen hatten zu studieren, hatte bei Marie das Geld nicht gereicht oder sie hatte gesagt »Die Partei braucht mich« – was zu einem geflügelten Wort unter den Freundinnen geworden war. Antonella und Giovanna spielten erste kleinere Konzerte im Rahmen ihrer Ausbildung, und Elli plante einige Urlaube mit Matthias allein.
Doch dann war es endlich so weit, alle hatten ein paar Tage Zeit, Elli hatte abgestillt, die kleine Lena bei Matthias und ihrer Mutter gelassen, Heraklion wartete. Als sie voller Vorfreude und auf der vergeblichen Suche nach jenem unwiederbringlichen Gefühl unendlicher Freiheit, das sie noch nach den überstandenen Anstrengungen des Abis empfunden hatten, auf dem Flughafen von Chania aus dem Flieger traten, liefen sie in eine Wand aus Hitze.
An dem Tag, als Giovanna mit Antonellas Sarg wieder abreiste, regnete es.
Niemand hatte ahnen können, dass nur drei von ihnen heimkehren würden, dass Antonella nie mehr zu ihrem Cellobogen greifen, nie mehr mit ihnen feiern würde – was in ihrem Fall bedeutet hatte, mit einem Glas Wein in der Hand nachdenklich am Rand der Gesellschaft zu stehen –, dass sie nie mehr zu viert sein würden.
Sie fanden sie am fünften Morgen. Die Schlaftabletten hatten Zeit genug gehabt zu wirken. Antonella hatte viel getrunken am Abend zuvor, sehr viel für ihre Verhältnisse, nicht nur Wein, und hatte sich dann ins Zimmer zurückgezogen. Ihren Abschiedsbrief entdeckten sie erst, als der griechische Rettungsarzt da gewesen war. Nachdem er mit einem Kopfschütteln sein Stethoskop abgenommen, den Rettungskoffer zusammengepackt und dann das Zimmer verlassen hatte, wobei der schwere silberne Koffer gegen seine Beine schlug. Als er aufgestanden und zu Giovanna hinübergegangen war, mit dem Formular in der Hand, das unterschrieben werden musste, hatte Elli gesehen, dass er humpelte. Vorher hatte alles schnell gehen müssen, als sie noch ihre Hoffnung auf den Sanitäter gerichtet hatten. Doch jetzt war plötzlich Zeit, Zeit, die Instrumente zusammenzupacken, das Formular auszufüllen und sich dann umzuschauen, wer es unterschreiben würde. Der Arzt hatte Giovanna angesehen und gewusst, dass sie es war. Die Tote auf dem Bett war ihr Ebenbild. Dieselbe zarte Gestalt, dasselbe kleine Gesicht, dieselben unbändigen Haare.
Nur, dass Antonellas Augen geschlossen waren. Nur, dass ihr Herz nicht mehr schlug. Draußen krächzten jagende Möwen über der Hafenbucht von Chania, und das offene Fenster ließ ihre sich ständig wiederholenden Rufe ebenso herein wie den rücksichtslosen Duft von Spiegeleiern und Speck, die in den Hafenrestaurants zum kontinentalen Frühstück serviert wurden.
Doch drinnen hatte das Leben sich festgefahren. Giovanna kauerte auf dem Bett, an der Seite ihrer toten Schwester. Die Hand in ihrem Schoß umklammerte Antonellas Brief, den Marie gerade gefunden und ihr gereicht hatte. Ihre andere Hand hielt Elli, so wie Giovanna die ihre gehalten hatte, vier Jahre zuvor, als Elli, die blutjunge Elli, fassungslos mit ihrem tot geborenen Kind im Krankenhausbett saß, Matthias an der einen, Giovanna an der anderen Seite. Wer hätte schon daran gedacht, dass nach so kurzer Zeit schon wieder eine von ihnen um ihr Fleisch und Blut würde trauern müssen. Dass diese Trauer sie alle angehen würde, wenn auch weder Elli noch Marie sich vorstellen konnten, wie groß Giovannas Leid war, wie es sich anfühlen musste, quasi die zweite Hälfte von sich selbst zu verlieren, die Fortsetzung der eigenen Existenz in einem zweiten Körper, der als Gegenwart schon in der Wärme des Mutterleibs präsent und dann fast ein Vierteljahrhundert lang an ihrer Seite gewesen war.
Marie musste Ähnliches gedacht haben, als sie das Foto betrachtet hatte, denn sie fragte: »Hat sie dir Antonellas Brief je gezeigt?«
Elli verneinte, auch sie wusste nur wenig über die letzten Worte von Giovannas Schwester, kannte nur die Sätze, die für sie und Marie bestimmt gewesen waren und die Antonella auf ein eigenes Blatt geschrieben hatte. Weißes DIN-A4, ohne Zeilen. Die Sorte Papier, die man normalerweise nicht mit in den Urlaub nimmt. Sie hatten schon so oft darüber gesprochen.
»Ich wünschte, Giovanna hätte uns mehr von damals erzählt«, sagte Marie.
»Von Antonella, meinst du?«
»Nein, von der Bombe in Rom.«
»Ich glaube nicht, dass das etwas geändert hätte«, entgegnete Elli.
»Vielleicht ja doch. Vielleicht hätten wir anders mit Antonella reden können.«
»Vielleicht.« Elli wiegte den Kopf. »Vielleicht aber auch nicht. Ich weiß, dass Giòs Vater ihr vor ein paar Wochen etwas gesagt hat, das sie selbst bisher nicht wusste. Seither spricht sie nicht mehr mit ihm.«
»Oh, da sind wir ja schon zwei, die nicht mehr mit ihren Vätern reden.«
Elli sah sie fragend an. »Du jetzt auch? Ist es so schlimm?«
»Na, an ihm liegt’s ja eigentlich gar nicht. Ich glaube, er könnte mich sogar ein bisschen verstehen. Aber solang er meiner Mutter immer nachgibt, hat das irgendwie keinen Sinn. Sie ist so verbohrt. Aber lassen wir das.«
Elli schwieg, sah Marie in die Augen. »Du weißt aber schon, jünger werden deine Eltern auch nicht. Stell dir vor, es passiert was, und du bist so von ihnen weggegangen und hast nicht mehr mit ihnen gesprochen.«
Marie fingerte eine neue Zigarette aus der Packung. Die alte war längst abgeraucht und in einem steinernen Aschenbecher versenkt.
»Jaja, ich weiß schon, ich weiß schon. Du denkst an deinen Vater«, sagte sie kurz angebunden.
Bevor Elli noch etwas erwidern konnte, klingelte Maries Telefon. Sie nahm ab, dann sprang sie auf, machte der Freundin irgendein Zeichen mit der Hand und verschwand im Haus, wo Elli sie geschäftig herumkramen hörte. Es mussten die Küchenschubladen sein, in denen sie wühlte. Dann klimperte ein Schlüsselbund, und Marie kam mit einer Tasche über der Schulter zurück. Sagte irgendwas von falsch geliefertem Saatgut, etwas, das sie gleich klären müsse, und lief mit großen Schritten zum Auto, verfolgt von Jimmy, den sie nach kurzer Diskussion in den großen Kofferraum des Vans springen ließ. Dann war sie auch schon fast vom Hof, rief durchs heruntergelassene Autofenster: »Bin in spätestens einer Stunde zurück, sorry, wir reden später weiter, ja?«, und verschwand in einer Staubwolke.
Elli seufzte tief. Der Anruf war für Marie genau zur richtigen Zeit gekommen. Als hätte sie ihn bestellt, dachte sie, schon klar, dass sie nicht über ihre Eltern reden will. Sie klaubte die Fotos zusammen, die sie angeschaut hatten, und versuchte, sie wieder in der überquellenden Kiste zu verstauen, als ihr ein anderes Bild in die Hand fiel, nach dem sie sofort greifen musste. Sie selbst, im weißen Hochzeitskleid.
Schon drei Jahre nach dem Abitur hatten sie geheiratet, sie und Matthias, hatten sich kaum Zeit gelassen, nicht mit dem zweiten Kind, nicht mit der Hochzeit. Wie unter einem inneren Zwang hatte Elli alles besser machen wollen als ihre Eltern, hatte alles sofort richtig machen wollen, bevor es irgendwie schiefgehen konnte. Heute war ihr das klar. Sie sah auf das Bild und musste unwillkürlich lächeln. Kein Push-up-BH der Welt hätte ihr einen solchen Reichtum ins Dekolleté zaubern können, wie es die Schwangerschaftshormone und der Neunmonatsbauch unter dem Busen vermochten. Ohne Babybauch hätte sie sich andererseits wohl etwas leichter getan, ein passendes Kleid zu finden. Sie wühlte weiter und fand noch mehr Fotos von ihrer Hochzeit: Marie im kleinen Schwarzen, schulterfrei und ein leuchtend rotes Tuch elegant dazu kombiniert – nur zu Ellis Ehren – auf einem kaum sichtbaren Holzbalken balancierend, von hinten beleuchtet. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt sah sie aus. Giovanna und Antonella, die eine in Dunkelblau, die andere in Dunkelgrün, beide zum Anbeten schön. Dann Matthias, strahlend über sein ganzes Jungengesicht, mal mit dem Arm um seine schwangere Braut, dann gemeinsam mit ihr beim Anschneiden der fünfstöckigen Hochzeitstorte, die die Zwillinge organisiert hatten. Elli konnte sich noch genau erinnern, wie sehr sie sich recken musste, um die oberste Schicht zu erreichen, und auch an die feuchte Wärme, die in diesem Augenblick plötzlich an den Innenseiten ihrer Beine hinunterlief. Die Fruchtblase war geplatzt. Eine Woche vor dem Termin. Den Schnitt durch den Kuchen führten sie noch zu Ende, sie und ihr Ehemann, alles andere hätte Unglück bedeutet, dann brachte sie Matthias auf den neuesten Stand der Dinge und überließ ihm die Torte allein. Sie musste gar nicht erst nach ihren Freundinnen rufen, auch wenn das lange Kleid den Schlamassel verdeckte, hatten sie wohl doch in ihrem Gesicht lesen können. Giovanna war schon an ihrer Seite, Marie fischte den Fahrer des Hochzeitsautos, den einzig Nüchternen der Festgesellschaft – abgesehen von der Braut natürlich –, aus der Menge der Zuschauenden. Elli sah noch, wie Antonella ihrem erblassten Bräutigam schließlich das Messer aus der Hand wand, dieses an seine frischgebackene Schwiegermutter weiterreichte und ihn zum Auto bugsierte, dann bekam sie von ihrer Hochzeitsfeier nichts mehr mit. Die Wehen ließen sich nicht lange Zeit, die erste überrollte sie bereits auf dem Weg aus dem Lokal. Als sie die 30-minütige Autofahrt zur Klinik hinter sich gebracht hatten und Matthias, Giovanna und Marie, die sie von allen Seiten stützten, sie der Geburtsschwester überließen, forderte das Baby schon mit Nachdruck das Öffnen der mütterlichen Pforte. Elli griff nach der nächstbesten Hand, die sich ihr bot, um ihren Schmerz abzuleiten – und wieder war es die von Giovanna. Die erzählte später den Freundinnen, dass sie in diesem Moment erstmals seit Langem ein Dankgebet gen Himmel geschickt hatte, weil nur aufgrund der Tatsache, dass sie wegen ihrer vielleicht doch gottgegebenen musikalischen Begabung seit Jahrzehnten Klavier geübt hatte, die Kraft in ihren Fingern groß genug war, um Ellis Geburtswehen ohne schwere Quetschungen zu überstehen. Elli war es egal, was sie in ihrer Not zu Brei verarbeitete. Dann war es vorbei, die Pein so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war, und Elli konnte sich nicht sattsehen an den blauen Augen ihrer Tochter, und nicht genug bekommen von den Küssen ihres frischgebackenen Ehemanns, im Hochzeitsanzug, aber ohne Krawatte, der vor Freude all die Tränen weinte, die beim Anblick seines toten Erstgeborenen versiegt waren.
Acht Wochen später hatten Matthias und sie die letzten Sachen aus ihrer gemeinsamen Studentenbude geräumt und waren bei Ellis Mutter ins große Haus gezogen.
Elli musste daran denken, wie sie mit der kleinen Lena im Arm in der Tür zum ehemaligen Büro ihres Vaters gestanden hatte. Es sah noch so aus wie ein gutes Dreivierteljahr zuvor, als die Polizei gekommen war und das Kontaktverbot durchgesetzt hatte, mit dem eine einsichtige Richterin jeder weiteren Misshandlung seiner Ehefrau einen Riegel vorgeschoben hatte. Dann war Ellis Vater im hartnäckigen Morgennebel jenes Septembertags verschwunden, einen Koffer hinter sich herziehend, und hatte sich seither nicht mehr blicken lassen. Bekannte wollten ihn gut ein Jahr später gesehen haben, wie er auf einer Parkbank schlief, eine Flasche Wodka als Kopfkissen und ohne zu ahnen, dass seine Tochter ihn inzwischen zum Großvater gemacht hatte.
Elli, mit dem Säugling im Arm, machte genau an dem Tag, als ihre erste Tochter acht Wochen alt wurde, die Bürotür ihres Vaters hinter sich zu, bat ihre Mutter um den Schlüssel und verschloss sie von außen. Dann brachte sie den Schlüssel ihrer Mutter Hanni zurück, die ihn mit einem Nicken des Einverständnisses in einem versteckten Winkel irgendwo im Haus verwahrte. Erst Jahre später, als Lilly als Vierte auf die Welt gekommen war und ein weiteres Kinderzimmer gebraucht wurde, suchte Ellis Mutter den Schlüssel wieder hervor. Sie räumten das alte Büro leer, begannen mit dem Schreibtisch, denn die Aktenschränke waren aus Metall und sollten später zum Wertstoffhof wandern. Unter Anwendung einiger Gewalt zerlegten sie das hässliche massive Holzding, das keiner von ihnen je gemocht hatte, in seine Einzelteile, wuchteten sie die Treppe hinunter und dann in den Garten, wo sie kurz darauf in einem lustigen Feuer aufgingen, das einige Nachbarn und dann auch noch die Feuerwehr auf den Plan rief. Zum Anheizen hatten ihnen die Akten gedient, die Klaus zurückgelassen hatte. Ohne ein Zeichen von Reue lud Ellis Mutter Nachbarn wie Feuerwehrkollegen zum Leichentrunk ein, den sie trotz des Fehlens einer Leiche als solchen titulierte. Mochte sich manch einer ruhig an einer gewissen Pietätlosigkeit stören, die der Sache durchaus nicht abzusprechen war, das war Hanni egal. Wer nicht gleich wieder abzog – es war ein einziges älteres Ehepaar, das sich mit pikiertem Gesichtsausdruck abwandte –, dem schenkte Hanni noch einen weiteren Schnaps ein. Die Feuerwehr wurde nach eingehender Prüfung der Umstände von ihrem Kommandanten höchstselbst wieder nach Hause geschickt. Er kannte Hanni noch aus ihrer gemeinsamen Schulzeit und wusste ziemlich genau, was sie hatte erdulden müssen, solange Klaus noch im Haus gewesen war: Schließlich hatte er geholfen, Hannis betrunkenen Ehemann aus dem völlig zerstörten Panda der Tochter zu schneiden. Mit einem verbliebenen Kollegen sicherte er jetzt im Garten die Brandstelle ab, bis auch die letzten Glutnester verglommen und die letzten Nachbarn wieder abgezogen waren.
Übrig blieben ein Häufchen Asche und ein paar Quadratmeter verbrannter Rasen. Dann war es vorbei.
Die tatsächliche Beerdigung von Ellis Vater fand einige Wochen später statt, und Elli war die Einzige aus der Familie, die der Urne zur Grabstätte folgte. Sie war auch die Einzige gewesen, die ihn in dem Krankenhausbett gesehen hatte, in dem er nach einem Schlaganfall lag. Ein paar Obdachlosen, die wie er ihr Lager unter der Reichenbachbrücke hatten, war aufgefallen, dass der weinerliche Kollege mit den schlauen Kommentaren und dem schmutzigen Gesetzbuch im Koffer sich eines Morgens nicht mehr bewegte. Einer von ihnen rief den Notarzt, doch der Schlaganfall – oder war es der Alkohol? – hatte schon zu viel von seinem Gehirn zerfressen.
Elli stand, begleitet von Giovanna, vor den jämmerlichen Resten seiner Existenz im Krankenhaus Harlaching. Lange verweilte sie da neben dem Bett und suchte in dem kaum mehr atmenden Häuflein aus spitzen Knochen, dünner Haut und hervortretenden Adern nach ihrem Vater, sah Hilfe suchend zu Giovanna hinüber, die sich im Hintergrund hielt. Doch sie fand ihn nicht. Nichts an diesem Menschen erinnerte sie mehr an den imposanten Mann mit den schönen Händen, der ihr im Swimmingpool hinter dem Haus liebevoll die Fersen geführt und ihr so gezeigt hatte, welche Bewegungen sie beim Brustschwimmen machen sollte, oder der in der Früh stolz mit seinem Aktenkoffer aus dem Haus gegangen war, um der Welt Gerechtigkeit zu bringen.
Und es war seltsam: Sie wusste, dass diese Erinnerungen einer Zeit lange vor der Phase entstammten, in der ihr Vater angefangen hatte zu trinken. Und doch waren diese Erinnerungen so präsent, dass es wehtat, war es doch genau dieser Vater, den sie noch zu finden gehofft hatte, als sie sich, dem Anruf aus der Klinik folgend, ins Auto gesetzt hatte. Doch er war verschwunden. Klaus Gutmann war schon tot, als er von der Polizei aus dem Haus ihrer Mutter geleitet worden war, und er starb viele Jahre später, eine halbe Stunde nachdem seine Tochter sein Krankenzimmer verlassen hatte. Hanni hatte sein Grab bis zum heutigen Tage nicht besucht.
Ein Motorengeräusch ließ Elli in die Gegenwart zurückkehren. Als sie sich umdrehte, sah sie Giovanna um die Hausecke biegen. Staub auf dem T-Shirt und eingehüllt in eine Duftwolke aus Pferdemist und Leder schlenderte sie zu Elli an den Tisch.
»Elli, was sitzt du denn hier mutterseelenallein und bläst Trübsal? Wo ist denn Marie? Und was machst du da überhaupt?« Etwas provozierend fand Elli die aufgeräumte Laune Giovannas, nicht nur, weil sie selbst gerade erst aus ihren wenig erbaulichen Erinnerungen aufgetaucht war, sondern weil sie die enttäuschten Worte Maries von vorhin noch im Ohr hatte.
»Na, was soll ich schon tun? Ich vertreib mir die Zeit, sitze hier allein rum«, antwortete sie gereizt.
Giovannas Gesicht veränderte sich schlagartig. »Elli, was ist denn los?« Ihre Züge zeigten ehrliche Anteilnahme, als sie sich der Freundin gegenüber rittlings auf einen Stuhl setzte. »Ist was passiert?« Dann warf sie einen Blick auf die Fotokiste, sah das Bild, das Elli noch in der Hand hielt, und schien zu verstehen.
»Oh«, sagte sie nur. »Erinnerungen.« Sie zögerte kurz, Elli konnte sich gut vorstellen, warum, dann fragte sie: »Darf ich mal sehen?«
Elli reichte ihr das Foto vom Tortenanstich und sah, wie Giovanna überraschend schmunzeln musste.
»Mei. Du hast so großartig ausgesehen mit deinem Elitebusen!«
»Ja, aber nicht lang. Zwei Stunden später war ich eine kreischende Hex’ mit verschwitzten Haaren, die dir beinahe deine Musikerhand zerdrückt hat.«
»Und wenn schon. Ich war doch so froh, dass ich helfen konnte«, versicherte Giovanna.
Und vermutlich denkst du jetzt, dass du die Hand ohnehin nicht mehr wirklich gebraucht hast, dachte Elli und schickte sich an, die Kiste an sich zu ziehen und zu verschließen. Sie wollte Giovannas Stimmung auf gar keinen Fall mit Gedanken an ihre tote Schwester trüben. Doch Giovanna war schneller, ihre Neugier geweckt. Sie hatte schon einen Packen Fotos herausgenommen und begann sie durchzuschauen.
»War das Maries Idee?«, wollte sie wissen und deutete auf die Kiste, Skepsis in der Stimme. Elli nickte nur, angespannt. Ob die Idee wirklich so gut gewesen war? Bis zum heutigen Morgen hatte Marie ja durchaus nicht den Eindruck gemacht, irgendwelche Sentimentalitäten pflegen zu wollen. Dass sie jetzt die Fotos herausgeholt hatte, sprach eine andere Sprache. Vielleicht hatte sie doch das Bedürfnis verspürt, mit den Freundinnen zusammen einen Weg zurück zu suchen zu dem Zusammengehörigkeitsgefühl von früher, das Giovanna nicht müde wurde zu beschwören. Marie aber schien es vergessen zu haben. Vielleicht war das jetzt ihr Versuch, dem Wust aus Erinnerungen, den sie alle drei mit sich herumschleppten, wieder ein stabiles Gerüst zu geben, Gesichter, Daten. Natürlich musste ihr klar gewesen sein, dass sie dabei um die Tiefpunkte ihrer gemeinsamen Vergangenheit nicht herumkommen würden. Und auch, dass dadurch Wunden aufreißen konnten.
Und schon war es geschehen. Elli sah unwillkürlich nach oben: Hatte sich der Himmel bewölkt, hatte eine Wolke die Sonne verdunkelt? Die Luft war plötzlich grau geworden, lag wie ein schwerer Umhang auf den herabgesackten Schultern Giovannas. War ja klar, sie hatte die Aufnahme aus Kreta gefunden. Jetzt starrte sie darauf, ohne einen Laut von sich zu geben.
Auch Elli fehlten die Worte, auch nach zwei Jahrzehnten – nichts konnte das Geschehene noch verändern. Aber du könntest mir sagen, warum sie es getan hat, das könntest du, dachte Elli, vielleicht würde es dir ja sogar helfen, doch sie sprach es nicht aus. Schließlich regte sich Giovanna doch, richtete sich auf, reckte sich, und Elli sah ihr an, dass sie mit Nachdruck versuchte die dunklen Wolken zu verscheuchen. Dann tat sie das Foto entschlossen zu den anderen, die sie noch in der Hand hielt, und packte alles zusammen zurück in die Kiste. »Ein andermal vielleicht.« Sie stand auf, stellte den Stuhl sehr ordentlich zurück an den Tisch, sagte »ich geh mich mal schnell duschen«, und verschwand über die Außentreppe.
Elli sah ihr nach und schüttelte betrübt den Kopf. Giò würde niemals darüber hinwegkommen, vor allem nicht, wenn sie nicht darüber redete. In diesem Moment hörte Elli wieder einen Motor näher kommen, und dann bog Marie auch schon mit ihrem Wagen um die Hausecke, winkte ihr durchs Autofenster zu. Der Hund saß jetzt auf dem Rücksitz des Vans; offenbar hatte sie irgendetwas in den Kofferraum geladen, sodass er dort keinen Platz mehr fand. Kaum stand der Wagen, als er auch schon durch das offene Fenster sprang und zum Haus gelaufen kam.
»Elli, ciao, da bin ich wieder«, rief Marie, während sie Jimmy etwas langsamer folgte und ihn mit einem scharfen Befehl davon abhielt, vor lauter Wiedersehensfreude an Elli hochzuspringen.
»Entschuldige, ich bin noch bei Larry vorbeigefahren, weil ich Nicoletta gleich abholen wollte. Aber sie war so schön am Spielen … Er bringt sie später her, damit wir morgen früh loskommen.«
»Morgen früh?« Elli konnte sich nicht erinnern, dass sie irgendetwas vorgehabt hätten.
»Ach ja, ich hoffe, ihr habt Lust – Nicoletta wünscht sich ganz dringend, in den Acquapark von Tortoreto zu fahren. Ich habe es ihr schon seit Längerem versprochen, und jetzt will sie den Ort unbedingt Giovanna zeigen.« Sie ließ sich schwer auf die Bank neben Elli fallen. »Puh, so ein kalter Pool wäre jetzt auch nicht schlecht.« Marie schenkte sich das Glas wieder voll, das sie bei ihrer überstürzten Abreise hatte stehen lassen. »Eigentlich ist es ein Schmarrn, die Kleine darf in die meisten Rutschen noch gar nicht rein, nur ins Kinderbecken, aber sie liebt es trotzdem, schaut den anderen stundenlang zu, wie sie aus den Röhren geschossen kommen. Weißt du was, wir zwei legen uns ins Wellenbad, ich bin eh nicht heiß auf die Rutscherei, und die neue Lieblingstante kann den ganzen Tag den Babysitter spielen.« Sie zwinkerte Elli zu und fragte dann: »Apropos, ist sie wieder da?«
»Sie ist duschen. Sie waren reiten, sie und Ottavio. Zumindest hat sie so gerochen«, berichtete Elli und stellte fest, dass sie gar nicht daran gedacht hatte, Giovanna nach ihrem Ausflug zu fragen.
»Ah, hat er sie mitgenommen in seinen Stall.« Marie zeigte sich latent beeindruckt. »Das macht er immerhin nicht mit jeder. Also, ich geh uns jetzt schnell einen Kaffee kochen, halt sie bloß fest, wenn sie wieder herunterkommt, damit sie nicht wieder davonläuft. Ich will der Schönen mal auf den Zahn fühlen.« Wie sie das so sagte, war Elli sich nicht sicher, wie sie es gemeint hatte. Da war so ein eigenartiger Unterton gewesen.
Doch für den Augenblick war es ihr recht, einfach sitzen bleiben zu können und sich in der Hitze des frühen Nachmittags nicht bewegen zu müssen. Außerdem konnte sie von der Stille, in der Maries Haus wurzelte, gar nicht genug bekommen. Sie hätte diese Momente auch nicht teilen wollen. Komisch ist das schon, dachte sie. Weder Matthias noch Toni hätte sie sich zur Seite gewünscht, am ehesten vielleicht ihre Kinder. Vielleicht sollte ich einfach hierbleiben, allein, und gar nicht mehr heimfahren. Nur ich und die Stille. Genießerisch schloss sie die Augen.
»Jetzt siehst du schon wieder so glücklich aus. Hast du etwa wieder telefoniert?« Marie stellte ein Tablett mit einer dampfenden Caffettiera und drei Espressotassen neben Elli auf den Tisch und holte sie aus ihrem dösigen Zustand.
Elli lächelte. »Nein, habe ich nicht« – ihr Gewissen war fast rein – »nur geträumt hab ich.«
»Aha, und von wem? Jetzt sag bitte nicht, dass dir der Gedanke an deinen Mann so ein Gesicht beschert, sonst machst du mich echt neidisch.« Sie schenkte Elli eines der Tässchen voll und schob es ihr hinüber.
»Wieso? Wieso solltest du neidisch sein? Du hast doch auch eine neue Liebe.«
Marie wischte die »neue Liebe« wie eine lästige Fliege zur Seite. Das »Auch« interessierte sie viel mehr. »Aha. Da ist also jemand. Ich habe doch recht! Nun komm schon, raus mit der Sprache. Du hast noch nie gut lügen können!«
Elli dachte einen Moment mit Schaudern daran, wie Giovanna reagiert hatte, als sie ihr von Toni erzählte. Aber Marie war nicht Giovanna, sie war weit genug weg von zu Hause, sie hatte genug Abstand, um sich daran zu stören, was Elli außerhalb ihrer Ehe tat. Zudem hatte Marie nie ein besonders gutes Verhältnis zu Matthias gehabt – wer hatte das schon außer ihr selbst? Also wehrte sie sich nicht länger, sondern begann zu erzählen, vom Elternabend, von dieser eigenartigen Faszination, die der Vater von Nicks Schulfreund auf sie ausübte, von der Weihnachtsfeier, und wie es schließlich kam, dass sie sich auf ihn einließ. Nur das »Warum« umschiffte sie. Genauso wie das »Und jetzt?«. Doch natürlich war Marie gnadenlos genug, danach zu fragen.
Elli sah ihre Freundin ratlos an und hob die Schultern.
»Marie, ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Die ganze Zeit bin ich am Überlegen, aber ich weiß es nicht.«
»Na ja, überlegen ist vielleicht auch nicht der richtige Weg.«
»Sagst ausgerechnet du …«
»Natürlich«, bemerkte Marie, »gerade ich. Mich von Marc zu trennen, das habe ich nicht überlegt. Das hat mich irgendwann überkommen. Er hat mich angeekelt mit seinem wichtigen Getue.« Pause. »Mit seinem Verrat.« Sie blähte die Nasenflügel, holte tief Luft. »Mit jedem einzelnen Verrat«, unterstrich sie. »Ich habe auch das hier«, sie machte eine Handbewegung, die Haus, Garten, Berge, Himmel, das ganze Land zu umfassen schien, »nicht groß überlegt. Wenn ich es getan hätte, wäre ich bestimmt in München geblieben.«
Elli merkte, dass Marie mit sich rang, ob sie noch mehr sagen sollte, und schwieg. Maries nächste Worte kamen stockend und mühsam, als müsse sie sich zwingen. »Die Mädchen und ihre Großeltern – den Mädchen sind Oma und Opa schon wichtig. Und dann meine Freunde.« Pause. »Ihr.« Marie brach ab, griff nach der Kaffeekanne, schenkte ein. Dann redete sie weiter. »Aber die Vorstellung von dem allen hier, das war’s, das hat mich umgehauen.«
Elli überlegte, was sie jetzt sagen sollte, bei Marie wusste man nie so genau, was das Richtige war. »Jedenfalls habe ich dich noch nie so entspannt erlebt. Irgendwie so aufgeräumt«, erklärte sie dann.
Marie nickte. »Ja, ja. War aber gar nicht so einfach am Anfang. Den ersten Winter mussten wir im Ort bleiben, eine enge Stiege hinauf zu einer winzigen Wohnung, total heruntergekommen, zwei Zimmer, Ölofen in der Küche, wie in so einem alten De-Sica-Film, mit Plastiktischdecke und so. Den Mädels hat es vor der schwarzen Keramikspüle gegraust. Josefine hat rund um die Uhr gemeckert. Und dann war ich auch noch schwanger. Vollkatastrophe.« Marie hörte wieder auf zu sprechen, sann ihren Worten nach und den Erinnerungen, die damit verbunden waren.
Elli hob gerade an, nach jenen Einzelheiten zu fragen, die Marie ihr bisher vorenthalten hatte – den Urheber der Schwangerschaft etwa, da redete die Freundin rasch weiter. »Doch jetzt ist alles gut. Hier sind wir jetzt zu Hause.«
»Und die Mädchen? Sehen sie das auch so? Vermissen sie ihren Vater nicht?« Marie sah Elli an, natürlich musste ihr klar sein, dass Elli auch aus Eigeninteresse fragte, da sie selbst vielleicht eine ähnliche Entscheidung würde treffen müssen.
»Elli, ich will dich nicht anlügen. Natürlich, vor allem Marlene hat gelitten. Sie war noch zu klein, als wir uns getrennt haben, sie hat das alles nicht so verstehen können, warum wir uns gestritten haben und so. Sie fragt manchmal, ob wir nicht wieder zu ihm ziehen können, zu ihrem Vater. Oder eher: Sie hat gefragt.« Marie verbesserte sich mit einem gequälten Lächeln. »Jetzt hat sie neuerdings andere Probleme. Sie hat ihre Tage, die ersten Pickel und fühlt sich rund um die Uhr in der falschen Haut. Es reicht ihr schon, wenn ihre Mutter ihr ständig sagt, sie soll gefälligst ihre Hausaufgaben machen, da braucht sie nicht auch noch einen Vater, der sie nervt.«
»Das kenne ich gut«, erklärte Elli, »ist bei uns ganz ähnlich. Und wie ist es mit Josefine?«
»Bin ich mir noch nicht so ganz sicher. Anfangs war sie auf meiner Seite und Punkt. Jetzt ist sie älter. Ich gehe ihr ziemlich oft auf die Nerven. Und dann das Dorf hier. Ihr ist es hier manchmal zu eng, so ein Vater in der Ferne, der könnte die Rettung sein, meint sie.« Sie schnaubte. »Der Arsch.«
»Seht ihr euch denn noch?«
»Nur, wenn es nicht anders geht. Ich ertrag ihn nicht mehr. Aber er ist halt der Vater. Und Josefine will neuerdings Politikerin werden, also denkt sie, sie ist bei ihm besser aufgehoben, weil ich ja alles hingeschmissen habe und so. Aber sie fragt auch nicht, wie das so für mich war und warum ich aufgehört habe. Ich hätte meine Ideale verraten, sagt sie. Dabei ist es genau andersherum, jetzt bin ich dem Leben viel näher, das ich für ideal halte. Aber das will sie nicht verstehen. Und wenn sie in München bei ihm sind, erzählt mir manchmal Marlene, diskutieren Josefine und Marc den lieben langen Tag über Angela Merkel, Flüchtlinge, die AfD und was weiß ich was. Nur über unseren Planeten, das ist so typisch für Marc, reden sie nicht. Er kapiert einfach nicht, dass das unser allergrößtes Problem ist. Und das ist Josefine genauso wurscht wie ihrem Vater.«
Elli hakte wieder ein. »Macht es dir denn noch was aus, wenn du an ihn denkst?«
Marie zögerte, und Elli war sich nicht sicher, ob sie nur versuchte, gelassen zu scheinen. Jedenfalls kam von Marie keine Antwort, sie zuckte nur leicht mit den Schultern. Elli wartete einfach ab.
Dann hatte Marie den Moment überwunden und erklärte mit veränderter Stimme: »Eins bereue ich wirklich.«
»Und was?«
»Dass ich Marc meine Daunendecken dagelassen habe. Im Winter kann’s hier ganz schön frisch werden.«
»Oh, ich weiß genau, wovon du sprichst.« Elli schmunzelte. Wenn jemand wusste, wie es war, nachts zu frieren, dann war sie das. »Hättest du was gesagt! Ich habe in der Wohnzimmercouch noch einige Decken.«
Marie winkte ab. »Ist ja nicht so wichtig.«
»Jedenfalls hast du dich wirklich ganz schön verändert, Marie. Du hättest so etwas früher nicht getan.«
»Was getan?«, fragte Marie und runzelte die Stirn.
»Du hättest nicht einfach alles aufgegeben, du hättest immer weitergekämpft, dich durchgebissen.«
»Und was hatte ich davon? Gar nichts. Schau mich an: graue Haare, die ersten Falten. Ich hätte viel früher gehen sollen.«
Elli nickte nachdenklich. »Das hätte aber auch schiefgehen können. Du hast Glück gehabt.«
»Klar, hätte es, das kann es immer«, wandte Marie ein. »Wenn ich geblieben wäre, hätte alles noch viel schlimmer werden können. Das hier hätte auch schlimm werden können, aber ich habe mir nur das Gute vorgestellt. Letztlich musste ich es einfach ausprobieren.« Sie sah Elli fragend an. »Und du?«
Elli wand sich. »Was, und ich?«
»Du weißt schon.«
»Wegen Toni?« Irgendwas in Elli sperrte sich dagegen, Marie eine ausführliche Antwort zu geben.
Die sagte: »Hast du eigentlich ein Foto?«
»Nur ein unscharfes von der Weihnachtsfeier. Ich kann ihn ja nicht so offen im Handy mit mir herumtragen.« Davor, Marie die Fotografie in ihrem Buch zu zeigen, scheute sie sich irgendwie. Sie entsperrte ihr Handy, öffnete ihre Bildergalerie, suchte kurz und hielt Marie das Telefon hin. Die nahm es, vergrößerte das Bild, auf dem Toni mit Nick und seinem Sohn zu sehen war, dann nickte sie zustimmend. »Ja, kann dich verstehen.« Sie gab Elli das Gerät zurück.
»Das ist alles?« Elli wusste nicht recht, was sie sich erhofft hatte.
»Na ja, was soll ich schon sagen? Er sieht nett aus.«
»Hm. Du hast Matthias auch nie besonders gemocht.«
Marie widersprach ihr nicht. »Du mochtest auch Marc nicht. Keine von euch.«
»Und wir hatten recht damit.« Das war Elli so rausgerutscht.
Erstaunlicherweise war Marie nicht beleidigt. »Tja, ihr hattet recht, das stimmt wohl.«
»Matthias ist aber nicht Marc«, fuhr Elli fort. »Matthias würde mich nie betrügen, niemals, das weiß ich. Er würde mich auch nie verlassen. Schon allein der Kinder wegen. Aber eben nicht nur. Er ist die treueste Seele der Welt. Und was tue ich?«
»Du gehst fremd«, analysierte Marie trocken.
»Ich gehe fremd.« Elli nickte. »Ich betrüge ihn. Und das, obwohl das Leben mit ihm gar nicht schrecklich ist. Er ist immer für mich da, er drückt sich nie vor irgendwas, er ist der perfekte Ehemann.«
»Nur reden kannst du nicht mit ihm«, warf Marie ein. »Habt ihr wenigstens noch Sex?«
Elli hatte die Frage befürchtet, sie starrte an Marie vorbei. »Ja. Nein. Ach«, murmelte sie dann.
»Also ja oder nein oder ach?«
»Na ja, hin und wieder. So richtig toll ist es nicht mehr«, räumte sie ein. »Aber jetzt erzähl mir bloß nicht, dass Larry im Bett eine Kanone ist!«
Marie machte ein strenges Gesicht. »Das tut jetzt nichts zur Sache, lenk nicht ab! Hier geht es um dich!«
»Aber wenn ich’s doch nicht weiß. Wenn’s nur der Sex wäre, müsste ich mich natürlich für Toni entscheiden. Zumindest jetzt noch. Es ist alles neu und jedes Mal spannend und mir geht’s so gut dabei!« Sie spürte, wie sie ein Lächeln überkam, das sie gar nicht bremsen konnte. »Schon allein, weil er mir das Gefühl gibt, noch mal halb so alt zu sein, wie ich es jetzt bin. Aber was ist denn in einem Jahr? Wer garantiert mir, dass es dann auch noch so ist? Ob es überhaupt noch mit uns geht bis dahin? Wer weiß, ob er mir treu bleibt?«
»Elli, das kannst du doch nie wissen.«
»Doch«, widersprach Elli, »bei Matthias kann ich das wissen. Aufregend wird es vermutlich mit ihm nie mehr, aber er wird mich weder betrügen noch verlassen. Auf die Idee kommt er gar nicht. Aber – er würde ohne mich verkümmern, fürchte ich. Er will niemand anderen als mich.«
Marie warf der Freundin einen langen, prüfenden Blick zu. »Tja, dann bleibt jetzt nur noch die eine Frage: Was willst du?«
»Wenn ich das wüsste, Marie. Am liebsten einfach so weitermachen wie jetzt. Aber das Problem ist – es zerreißt mich. Ich kann nicht mehr schlafen. Ich muss Matthias anlügen, sogar die Kinder. Das ist so unfair. Auch Toni gegenüber ist das nicht fair.«
»Wieso? Er hat doch gewusst, dass er sich auf eine verheiratete Frau einlässt«, wandte Marie in ihrer manchmal brutalen Ehrlichkeit ein. »Also ich finde, da solltest du dir kein schlechtes Gewissen machen.«
»Wenn er aber doch auch nicht gewusst hat, wo die Sache hinführt.«
»Also, so wie du ihn beschreibst, Elli, hat er das ganz genau gewusst. Und er hat es sogar gewollt. Wobei das, was du erzählt hast, nicht so klingt, als sei dieser Toni einer, der sich mal eben so auf Affären einlässt. Ich glaube eher, dass er sich in dich verliebt hat. Und zwar schon, bevor ihr euch am See getroffen habt. Und dann war die Geschichte erst recht leichtsinnig von ihm, weil es ihm gleich klar sein musste, dass es am Ende kompliziert werden kann.«
»Ich weiß ja gar nicht, ob das schon das Ende ist«, sagte Elli leise.
»Nein, so habe ich das auch nicht gemeint. Aber irgendwann kommt das Ende, früher oder später, weil man nicht auf Dauer zweigleisig fahren kann. Nein«, verbesserte sie sich, »weil du das nicht kannst. Dafür bist du viel zu ehrlich.«
»Das sieht man jetzt gerade, wie ehrlich ich bin.« Elli trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch herum. »Das Verrückte ist, dass ich Matthias liebe. Von ganzem Herzen. Mit all seinem Schweigen und seiner Schrulligkeit – und die wird immer schlimmer –, aber ich liebe ihn, einfach so, weil er da ist.«
Marie fand offenbar, dass es wieder einmal an der Zeit war, nach der Zigarettenpackung zu greifen. In aller Ruhe klappte sie den Deckel der Schachtel hoch, zählte die weißen Filterenden mit den Fingerspitzen, schob eine um die andere beiseite, um sich schließlich für eine der Zigaretten zu entscheiden, so als ob nicht eine genau wie die andere wäre, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug, bevor sie, eine Rauchwolke ausstoßend, antwortete: »Klingt für mich, als wäre deine Entscheidung schon gefallen. Du kannst diesem Toni genauso gut gleich den Laufpass geben.«
War es das, was Elli hatte hören wollen? Sie versuchte sich die Konsequenzen vorzustellen, die sich ergeben würden, wenn Marie recht hätte. Eine heftige Trauer überfiel sie bei der Vorstellung, Toni anzurufen und ihm zu erklären, dass es vorbei sei. Unwillkürlich fasste sie sich an die Halsseite, die kleine Kuhle hinter dem Ohrläppchen, die Toni so gerne mit den Fingerspitzen berührte, bevor er sie dorthin küsste. Es schien ihr, als sei die Stelle plötzlich kalt geworden. Verwaist. Elli war ganz und gar nicht glücklich.