16.
ACQUAPARK.

Elli

Ellis Handywecker war auf acht Uhr gestellt. Um Viertel nach sieben aber klopfte es schon an die Zimmertür. Maries Stimme holte sie aus einem verworrenen Traum, in dem sie mit Toni und Matthias gemeinsam beim Kaffeetrinken auf einer Terrasse am See saß. Jeder von ihnen hielt eine ihrer Hände, bevor beide Gesichter sich auflösten und zu Marie wurden. Elli hatte Mühe, in die Realität zu finden, zumal es am Abend zuvor spät gewesen war und sie in diesen Tagen ohnehin eine andauernde Müdigkeit plagte.

Nachdem Larry mit Nicoletta angekommen war, hatte Giovanna das vom Spielen erschöpfte Mädchen rasch ins Bett gebracht und ihrem Drängen nachgegeben, ihr ein Schlaflied zu singen. Und dann noch eins, und noch eins. Beim dritten war Nicoletta eingeschlafen und sie selbst wieder nüchtern gewesen, wie Giovanna Elli lachend erzählte, als sie wieder bei ihnen saß. Während Marie irgendetwas im Haus zu schaffen hatte, führte Elli eine reichlich verkrampfte Unterhaltung mit Maries Lebenspartner – und versuchte vergeblich, ihn unauffällig auszuhorchen. Wer zum Teufel war Nicolettas Vater? Und warum machte Marie so ein Geheimnis daraus?

Dann war Marie mit einem Berg Weißbrot, Parmesan, Salami und Tomaten aus der Küche gekommen, und die Freundinnen waren dankbar darüber hergefallen. Über ihrem Streit, den Erinnerungen und dem Campari hatten sie völlig vergessen, etwas Handfestes zu sich zu nehmen. Espresso und Rotwein brachten die einigermaßen erschöpften Frauen schnell wieder auf Touren, und Larry tat Elli beinahe leid, wie er so dasaß und den restlichen Abend Erzählungen, Erinnerungen und Frotzeleien lauschen musste, die ihn ausschlossen – unabsichtlich zwar, aber vielleicht doch nicht ganz ungewollt … Schließlich begaben sich Marie, Giovanna und sie selbst mit großer Lust hinein in das Gebäude ihrer gemeinsamen Nostalgie, zu dem Fremde keinen Zugang hatten und den sie nie bekommen würden. Das galt auch – und was Elli und Giovanna anging in erster Linie – für Larry. Sie genossen diese Stunden. Und doch blieb Elli wachsam, hörte genau hin auf der Suche nach Zwischentönen, Störgeräuschen, welche die wiedergefundene Harmonie trüben könnten.

Über Ottavio sprachen sie vor Larry nicht mehr, höchstens in Andeutungen, die er, wie sie glaubten, nicht verstehen konnte. Elli beobachtete mit Freude, wie entspannt Giovanna auf einmal wirkte. Wie weggeblasen schien die Niedergeschlagenheit der vergangenen Tage. Hoffentlich würde das auch so bleiben, hoffentlich würde Marie nicht mit einer unbedachten Äußerung das zarte Pflänzchen wiedergewonnener Sicherheit zwischen ihnen schwächen.

Doch der Abend war jenseits aller Missstimmung verflogen, und so hatten sie kaum bemerkt, wie schnell er vergangen war. Larry hatte sie gegen halb eins ihrem alkoholgetriebenen Kreisen um sich selbst und der Zerfaserung der Zeit überlassen und war heimgefahren. Kurz darauf waren sie ebenfalls müde in ihre Zimmer gewankt, nicht ohne sich beim Abschied schwungvoll gegenseitig ihrer Zuneigung zu versichern. Elli hatte kaum ihr Kissen berührt, als sie auch schon eingeschlafen war.

Und nun stand Marie vor ihrem Bett, und ihr kam es vor, als sei sie eben erst unter ihre zwei Decken gekrochen. »Was ist denn los? Ist doch noch gar nicht acht!«, raunzte sie ein wenig beleidigt.

»Planänderung, Elli, tut mir leid. Ihr müsst umziehen. Marlene hat angerufen. Die Mädels kommen schon früher, morgen in aller Früh wollen sie hier sein. Das ist jetzt etwas umständlich, weil wir heute Abend bestimmt erst spät zurück sind. Also, ich habe drüben im Dorf angerufen. Da ist ein nettes kleines Albergo, und die hätten ein Zimmer für euch frei. Wir könnten euer Zeug gleich auf dem Weg ins Schwimmbad hinüberschaffen, und ihr könnt dort auf jeden Fall bis zum Wochenende bleiben, wenn das für euch okay ist. Sorry, dass das jetzt sein muss. Keine Ahnung, warum die Mädchen jetzt unbedingt …«, sie stieß einen derben Fluch gegen ihren Ex-Mann aus, den Elli gar nicht erst verstehen wollte. »Ja, jedenfalls nützt es jetzt nichts. Giovanna schläft noch?«, fragte sie dann. »Giò, Giò«, rief sie, »Elli, kannst du sie wecken, bitte? Ich muss noch ein paar Dinge vorbereiten, bevor wir fahren, und es ist doch ziemlich weit bis nach Tortoreto. Machst du das, ja?«

Marie war von einer unfassbar überwältigenden Energie in dieser frühen Stunde. Und Elli, die sich, weit weg vom häuslichen Hamsterrad, in den vergangenen Tagen in einer Art inneren Langsamkeit eingerichtet hatte, fühlte sich vollkommen überrannt. Sie setzte sich auf, hob abwehrend beide Hände, bevor sie sich mit ihnen den Schlaf aus den Augen rieb, murmelte »Ja, ja, ist schon gut, ich steh schon auf« und bewegte mühsam die Beine aus dem Bett. Derweil war Marie schon im Zimmer unterwegs, ließ die Haken der Fensterläden nach oben schnalzen und drückte mit Nachdruck die Läden nach außen, sodass sie scheppernd gegen die Hauswand knallten. Damit erreichte sie, was sie gewollt hatte: auch Giovanna aus dem Tiefschlaf zu holen. Nach einem flüchtigen »Guten Morgen« überließ sie die Freundinnen mit dem Hinweis auf fertigen Kaffee in der Küche ihrem Schicksal und Elli die Aufgabe, Giovanna über die neuesten Entwicklungen in Kenntnis zu setzen.

Eine Stunde später hatten sie eine Kleinigkeit gefrühstückt, Badesachen, Koffer, das Akkordeon und schließlich Nicoletta in Maries Van gepackt und waren unterwegs zu der kleinen Pension in der Ortsmitte, wo Marie für sie reserviert hatte.

»Ich kenne die Besitzer gut«, erklärte sie ihnen. »Sehr nette Leute.« Elli, die vorne saß, war noch immer müde und hatte ebenso wenig Lust auf Konversation wie auf den Tag in einem vermutlich überlaufenen Erlebnisbad. Sie hatte auch mit ihren eigenen Kindern solche Bäder besuchen müssen, und nie verstanden, was andere daran fanden. Was hätte sie für einen Ausflug an irgendeine ruhige Badebucht gegeben … Aber Marie mit ihrer Tochter und Giovanna allein fahren zu lassen, kam gar nicht infrage.

»Also ist es in Ordnung, dass ihr ins Hotel zieht?«, fragte Marie jetzt zum dritten Mal, die Absolution von ihren Freundinnen schien ihr wichtig zu sein. »Nicht, dass ihr denkt, ich wollte euch loswerden.« Marie spähte in den Rückspiegel, wohl um Giovannas Blick aufzufangen.

»Alles gut, Marie, alles gut«, murmelte Elli und gähnte.

Da sagte Giovanna, die mit Nicoletta auf der Rückbank saß, überraschend bestimmt: »Marie, wir denken gar nichts, wir werden dich auch so noch genug belagern!«

Elli warf ihr, in der Hoffnung, dass das Thema damit ein für alle Mal vom Tisch war, einen dankbaren Blick zu, den Giovanna schulterzuckend erwiderte. »Was soll’s?«, schien sie sagen zu wollen. Dann erreichten sie auch schon die Pension, erledigten die Formalitäten und brachten ihr Gepäck in ein Zimmer im ersten Stock, an dem das Schönste die Aussicht auf die pittoresken Steine der haushohen Kirchenmauer gegenüber war. Für die vier Nächte bis zum Wochenende würde es ihnen genügen. Das einzige Bett im Raum sah allerdings aus, als habe es schon Generationen vor ihnen als Ruhestatt gedient. Es knarzte wie eine alte Diele, als Elli sich an der Fensterseite darauf niederließ, um die Matratze zu testen.

»Wehe du schnarchst«, rief sie zu Giovanna hinüber. »Und bring bloß keinen Besuch mit, sonst weiß das ganze Haus Bescheid, was hier los ist, so wie das quietscht!«

Giovanna, die schon mit der ungeduldig drängelnden Nicoletta an ihrer Seite und einer Badetasche unter dem Arm in der Tür stand, schüttelte den Kopf und bemühte sich so angestrengt um den Ausdruck gekränkter Unschuld, dass Elli trotz ihrer schlechten Laune lachen musste. Dann griff sie sich ebenfalls ihre Tasche, und sie stiegen die Treppe wieder hinunter.

Marie hatte das Auto an der Kirchenmauer geparkt, und just in diesen Minuten hatte die Morgensonne eine Lücke zwischen den eng stehenden Häuserzeilen gefunden und tauchte die Stelle in strahlendes Licht. Marie lehnte in der offenen Tür und hatte gerade das Telefon am Ohr, als sie aus dem Haus traten. Dabei machte sie ihnen undefinierbare Zeichen und warf Giovanna seltsame Blicke zu. Warum, das sollten sie gleich erfahren, als Marie das Telefon vom Ohr genommen und auf die Schnelle in die hintere Hosentasche gesteckt hatte. Nicht draufsetzen, dachte Elli noch, da war Marie schon hinters Steuer geglitten, und mit einem gezischten »Verdammt« fingerte sie das Handy wieder aus der engen Jeans, um es in der Mittelkonsole zu deponieren, bevor sie sagte: »Das war Larry, er begleitet uns.«

Elli wollte sich schon ärgern – zu gerne hätte sie beide Freundinnen noch einen Tag lang für sich allein gehabt –, als Marie die weit interessantere Nachricht nachschob: »Ach ja, und er bringt Ottavio mit.«

Schneller Blick zu Giovanna, die eben das Mädchen im Kindersitz hinter Marie verstaut und festgegurtet hatte. Nun blieb sie auf dem Weg zur anderen Seite des Autos wie angewurzelt stehen. Elli starrte sie neugierig an, auch Marie beugte sich zum Fenster, um Giovannas Gesicht sehen zu können. Die versuchte sehr bemüht, gar kein Gesicht zu machen.

Elli wandte sich rasch wieder ab und krabbelte auf den Beifahrersitz, um ihr amüsiertes Lächeln vor Giovanna zu verbergen. »Wo treffen wir die beiden denn?«, fragte sie dann harmlos.

»Auf dem Parkplatz vor dem Schwimmbad, sie fahren mit Ottavios Auto. Larry hasst es, selbst zu fahren, er hat sicher alle abtelefoniert, bis er einen Dummen gefunden hat«, fügte Marie hinzu. Wahrscheinlich hat er Ottavio nicht lange überreden müssen, überlegte Elli und sagte laut: »Du meinst, Ottavio wäre nicht seine erste Wahl gewesen?«

»Eher nicht«, antwortete Marie. »Enge Freunde sind die beiden nicht gerade. Aber sie kommen miteinander aus.«

Elli vernahm einen Zwischenton, den sie nicht zu deuten vermochte, und spähte zu Marie hinüber. Von Giovanna kam kein Kommentar, aber Elli war sich sicher, dass sie jedes Wort mitbekommen hatte. Als nun Marie den Wagen startete und ihn von der Kirchenmauer weglenkte, hörte Elli, wie Giovanna der Kleinen vorschlug, »Ich sehe was, was du nicht siehst« zu spielen, und nachdem sie eine Weile zugehört hatte, überließ sie sich wieder ihrer Müdigkeit. Marie war schon immer eine gute Fahrerin gewesen. Eine Hand am Steuer, die andere aus dem offenen Fenster hängen lassend, steuerte sie den Wagen so selbstverständlich, als wäre sie damit verwachsen, und so schlief Elli im Gefühl größtmöglicher Geborgenheit ein. Sie erwachte erst wieder vom aufgeregten Geschnatter Nicolettas, als sie in den Parkplatz des Schwimmbads einbogen. Sie parkten auf einer kleinen Anhöhe, aber ins Innere des Bads konnte man nicht hineinsehen, weil es von Gemäuer verdeckt wurde. Dafür eröffnete sich der Blick auf die gigantische Brücke der Adria-Autobahn, die sich in schwindelerregender Höhe von Nord nach Süd im Hintergrund über die Landschaft spannte.

»Da sind wir aber nicht eben drübergefahren, oder?«, fragte Elli, und es überkam sie unwillkürlich die Vorstellung, wie das Bauwerk auf seinen gigantischen, Hunderte von Metern hohen Stützen ins Wanken käme. Beruhigt stellte sie fest, dass der Acquapark nicht genau unter der Brücke lag. Viel Zeit für Katastrophenfantasien blieb ihr aber zum Glück ohnehin nicht. Marie und Nicoletta hatten bereits ihre Taschen aus dem Wagen geholt, und Giovanna und sie taten es ihnen nach.

Der Kontrast zur Einsamkeit und Ruhe in Maries Dorf war für Elli eine Art Kulturschock: Der Weg zum Schwimmbadeingang führte sie über eine Betonrampe zum Kassenbereich, von allen Seiten drängten die Ankommenden heran: aufgeregte Kinder, nervöse Eltern und hormonüberschwemmte Jugendliche, deren eruptive Energie sich in unvorhersehbaren Schlangenbewegungen Bahn brach. Ständig torkelten sie vor Ellis Füßen herum. Waren ihre eigenen Kinder auch so unerträglich? Die konnten doch nicht alle um diese Zeit schon besoffen sein? Am liebsten wäre Elli wieder umgekehrt, das hier war ihr alles zu viel.

Weiter vorne in der Schlange erhob sich plötzlich heftiges Winken und Rufen. Ja, sie waren gemeint. Larry und Ottavio. Kein Ausweg mehr für Elli. Die kleine Nicoletta lief los, so schnell konnten die drei Frauen ihr durch die Menschenmenge gar nicht folgen, zumal die anderen Wartenden, schwitzend in der Mittagssonne und nach dem kühlen Wasser des Bades lechzend, nicht begeistert davon waren, dass sie sich vordrängelten. Elli versuchte, dicht an Giovannas Fersen zu bleiben, in der Hoffnung, dass die Freundin mit ihrem Charme und ihren Italienischkenntnissen schon dafür sorgen würde, dass sie die beiden Männer erreichten, ohne sich zuvor Prügel einzufangen. Wie immer schenkte Larry ihr und Giovanna kaum einen Blick, dieser Stoffel, während Ottavio sie beide mit einer angedeuteten Umarmung und einem herzerwärmenden Lächeln begrüßte, das sich in den Fältchen seiner Augenwinkel zu konzentrieren schien und in seinen dunklen Pupillen seinen Widerhall fand.

Die Männer hatten schon Eintrittskarten für alle besorgt. Sie mussten ihnen nur noch ins Bad folgen. Als Elli sah, wie der groß gewachsene Larry seine Schultern über dem unentschlossenen Schlurfen seiner dünnen Beine hängen ließ und neben ihm die drahtige Gestalt des deutlich kleineren Italieners zielstrebig ihren Weg suchte, konnte Elli sich gut vorstellen, was Marie bei ihrer Abfahrt gemeint hatte: Es gab wohl kaum zwei Typen, die weniger zusammenpassten. Sie hätten gut eines dieser ungleichen Fernseh-Ermittlerduos spielen können, die ungefragt zusammengespannt worden sind. Natürlich werden sie am Ende beste Freunde – was aber nur funktioniert, weil das Drehbuch es so will.

Im Bad war es unendlich voll, wie Elli befürchtet hatte. Sie grummelte vor sich hin. Im August, was habt ihr denn erwartet?

Die anderen suchten einen Platz, wo sie wenigstens ihre Handtücher ablegen konnten, Elli schlappte widerstrebend hinterher. Nach längerem Suchen fanden sich immerhin drei Liegestühle, direkt neben dem Zugang zum Wildwasserfluss, in dem zwischen den badekappenbewehrten Köpfen, schwarz- und blauweiß gestreift, kaum noch Wasser zu sehen war. Badekappenpflicht – schlimm genug, fand Elli. Aber wie sollte hier irgendein Bademeister den Überblick behalten? Sie wandte sich mit Schaudern ab, doch schien sie die Einzige zu sein, die sich an den Massen störte. Das begeisterte Kreischen war überall. Marie schenkte dem Trubel keine Beachtung, und Giovanna schien ihn sogar zu mögen, stellte Elli fest und verstand ihre Freundin gerade gar nicht. Giò hatte ihr leichtes Kleid schon über den Kopf gezogen und auf eine der Liegen geworfen, bevor Elli auch nur ihre Tasche hingestellt hatte. Aber klar, in ihrem schwarzen Bikini war Giovanna auch immer noch ein Blickfang.

Wie zum Teufel macht sie das nur? Giovanna war 45, gerade mal ein paar Monate jünger als sie selbst, hatte aber nach wie vor die Figur ihrer gemeinsamen Mädchenzeit. Die zwei, drei Kilos, die sie zugelegt hatte, betonten ihre Kurven an den günstigsten Stellen. Schon ein bisschen ungerecht, bei mir ist es genau andersherum. Während also Giovanna schon mit Nicoletta an der Hand in Richtung Kinderbecken abgezogen war, kämpfte Elli noch mit der ihr so vertrauten Scheu, sich auszuziehen. Selten hatte sie sich in ihrem geliebten blauen Sommerkleid so geborgen gefühlt wie in diesem Augenblick, und sie zögerte den Moment hinaus, in dem sie es ablegen musste, um sich mitten in diesen Massen von Menschen zu entblößen und sich ungeschützt im Badeanzug den Blicken auszusetzen.

Als wenn es nicht egal wäre, dachte sie, aber das war es eben nicht. Auch nicht nach bald einem halben Jahrhundert, in dem sie Zeit genug gehabt hätte, sich mit ihrem Körper anzufreunden. Doch sie hatte es nie geschafft, das Bild, das sie von sich selbst hatte, mit dem Körper, der ihr zur Verfügung stand, in Einklang zu bringen. Und umgekehrt hatte es auch nicht funktioniert. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals völlig zufrieden gewesen zu sein mit ihrem Gewicht, ihrem Bauch, ihren Schenkeln, ihren Brüsten, umso weniger, als nun all diesen selbstdefinierten Problemzonen auch noch zunehmend das Alter anzusehen war. Als wenn es nicht egal wäre, sagte sie sich immer wieder. Doch sie glaubte sich nicht.

Ottavio, der angeboten hatte, die Wertsachen in ein Schließfach zu bringen, zog mit Larry ab, während Marie auf einem der Liegestühle dabei war, sich eine Sonnencreme Stärke 50 auf die empfindliche Haut ihrer langen Beine zu schmieren, die gemessen an ihrer blassen Farbe, die meiste Zeit über in langen Hosen steckten. Seufzend ließ sich Elli auf dem Liegestuhl neben ihr nieder und erwog ernsthaft, irgendeine allergische Reaktion vorzuschützen, um sich nicht ausziehen zu müssen. Sie musste an Toni denken. Wie hatte sie es nur hinbekommen, sich vor ihm nicht so zu schämen, wie sie es hier tat? Wie hatte sie es nur genießen können, wenn er sie auszog, wenn er ihre Bluse öffnete, ihren BH? Woher hatte sie nur das Selbstbewusstsein genommen, sich auf diese Intimität einzulassen? Eine Intimität, die sie zuvor nur einem einzigen Mann zugebilligt hatte: Matthias. Matthias, der jede Stelle ihres Körpers besser kannte als sie selbst, der als gerechten Ausgleich für jedes Pölsterchen, das sie im Lauf der Jahre dazubekommen hatte, ein paar Haare auf dem Kopf verlor, und ihr jedes Mal, wenn sie sich über zusätzliche Pfunde beschwerte, einen Kuss gab und sagte: »Ich liebe jedes Kilo an dir, mein Schatz.« Nun, sie hatte ihn immer im Verdacht gehabt, den Satz irgendwo in einem Film aufgeschnappt zu haben; er klang so gar nicht nach ihrem wortkargen Matthias, dem es nicht so sehr gegeben war, die Dinge zu benennen, wie sie einfach hinzunehmen. Aber sie mochte die Worte trotzdem. Sie trösteten sie – auch wenn sie Matthias’ gelassene Akzeptanz ihrer körperlichen Veränderung ebenso wenig nachvollziehen konnte wie die leidenschaftliche Verzückung, in die ihr Körper Toni zu versetzen schien. Toni hatte keine Fragen gestellt und lächelnd akzeptiert, dass sie auf einer zumindest stark gedimmten Beleuchtung bestand, wenn sie miteinander ins Bett gingen. Was nichts daran änderte, dass sie jedes Mal die Furcht peinigte, dass er sie eines Tages unvorbereitet antreffen und genau das erblicken würde, was sie selbst sah, wenn sie in den Spiegel schaute: eine Frau mit eher kleinen Brüsten, die ihre Jugendjahre hinter sich hatte, Schokolode über alles liebte und etwas mehr Sport vertragen könnte.

»Willst du eigentlich den ganzen Tag so ungemütlich hier rumsitzen und vor lauter Hitze vergehen? Bis du dich mal entspannt hast, sind wir schon wieder auf dem Heimweg.« Marie hatte sich fertig eingecremt und sich ausgestreckt, den Blick forschend auf Elli gerichtet.

»Manche Dinge ändern sich einfach nie«, sagte sie dann. »Du hasst es immer noch, in Badesachen zu sein, stimmt’s?«

»Ja, manche Dinge ändern sich nie«, antwortete Elli knapp. Es konnte schon auch nerven, wenn man sich so lange kannte. Nun würde Marie vermutlich sofort ihren Körper scannen, wenn sie schon so mit der Nase auf die Problemzonen gestoßen wurde! Überdies war Ellis Aussicht auf das lange Elend im Liegestuhl neben ihr auch nicht dazu angetan, sich selbst schöner zu finden. Im Gegensatz zu Giovanna hatte Marie zwar keinerlei erotische Kurven; ihre Hüftknochen zeichneten sich scharf unter dem Bikini ab, über ihren Schlüsselbeinen spannte sich die Haut. Lang und hager war sie, noch viel dünner, als Elli sie in Erinnerung hatte – doch sie hätte sofort mit der Freundin getauscht.

Ein paar Kilos von mir für dich, und wir wären beide besser dran, dachte sie und lachte gequält.

Da sah sie Larry von den Schließfächern zurückkommen und auf sie zusteuern und folgte dem Impuls, so wie sie war, erst einmal zu verschwinden. Sie streifte ihre Schuhe ab, winkte Marie zu, murmelte irgendwas von »was zu trinken« und zog los. Im Essbereich, den sie zuerst aufsuchte, steppte natürlich auch der Bär. Verdrossen wanderte sie weiter, kam am Wellenbad vorbei, wo eine große Uhr genau zwölf anzeigte, dazu zwei schwarze Segmente. Wohl die Startzeiten für die Wellenmaschine – Wellenbaden, ja, das würde mir gefallen, dachte Elli. Sie konnte die Markierungen aber nicht deuten. Wieso konnten die nicht einfach die Zeiten in normalen Ziffern auf eine Tafel schreiben? Ellis Laune sank immer weiter. Sie erwog sogar, doch einmal eine Rutsche auszuprobieren, nur um ein paar Augenblicke im Dunkel einer solchen Röhre allein zu sein.

Dann erreichte sie das Kinderbecken. Rund um sie herum nichts als brüllende Begeisterung. Elli sah Giovanna im Wasser stehen, am unteren Ausgang einer vielfarbigen Röhrenrutsche, und auf Nicoletta warten. Inmitten einer gewaltigen Wasserfontäne fiel das Kind mit seinen Schwimmflügeln zappelnd und prustend aus der Öffnung, rappelte sich auf und verschwand sofort wieder im bunten Gewirr des Rutschenturms.

Dann tauchte Ottavio auf der anderen Seite des Beckens auf, stieg ins Wasser und watete zu Giovanna hinüber. Elli konnte nicht anders, als neugierig zu beobachten, wie er sie erreichte, sich hinunterbeugte, um ihr etwas zu sagen. Da, er flüsterte ihr etwas ins Ohr. War da etwa eine Berührung zwischen ihnen gewesen? Elli starrte angestrengt hinüber. An der Art, wie Giovanna sich Ottavio zuwandte, wie sie ihm konzentriert zuhörte, wie sie sich beim Lachen leicht nach hinten lehnte, erkannte Elli, wie sehr sie die Aufmerksamkeit des Mannes genoss. Und er? Wie gab er sich? Elli kannte Ottavio zu wenig, um seine Absichten wirklich einschätzen zu können, aber dass er Giò mochte, daran konnte kein Zweifel sein. Dass er sie ebenso wollte wie Giovanna ihn, konnte Elli nur vermuten. Aber sie hätte darauf wetten mögen. Sie sah noch, wie die beiden gemeinsam Nicoletta aus der Röhre zogen, die juchzende Kleine an beiden Händen gepackt hochwarfen und wieder ins Wasser tauchen ließen. Steht ihr gut, das Kind, dachte sie und wandte sich ab. Wie peinlich, wenn sie als Stalkerin ertappt werden würde. Elli schlenderte zurück zu den Liegestühlen. Die große Uhr zeigte 12.15 Uhr. Es würde ein langer Tag werden.

»Und?«, begrüßte sie Marie. »Hast du Giò und Nicoletta gesehen? Sind sie im Kinderbecken?«

Elli nickte. »Sind sie. Ottavio ist bei ihnen.«

»Klar, das habe ich mir schon gedacht.«

Larry, der sich neben Marie ausgestreckt hatte, sagte leise irgendetwas zu ihr, was Elli in all dem Lärm nicht verstand, und sie nutzte den unbeobachteten Moment, sich nun doch auch ihres Kleids zu entledigen und sich schnell auf den dritten Liegestuhl zu legen, wo sie sich in ihr Hörbuch flüchtete. Dankbar folgte sie Rufus Beck und Irvings »Witwe für ein Jahr« in ein anderes Universum und schlief schon bald dabei ein.

Elli wurde erst wieder wach, als sie angestupst wurde und eine Armbanduhr vor ihren Augen erschien. »Du solltest nicht in der Sonne schlafen. Alles in Ordnung mit dir?«

War das Matthias, der fragte? Elli blinzelte ins Gegenlicht. Mit Mühe wurde ihr benebelter Geist klarer, und sie erkannte Giovanna, die sie besorgt ansah. »Alles gut, Elli?«, fragte Giò und reichte ihr eine Wasserflasche. »Da, trink mal was!«

Elli nahm das Wasser gerne. Es war zwar warm wie Tee, tat aber trotzdem gut.

»Wo sind denn die anderen? Wieso hat mich denn keiner früher geweckt?«, fragte sie und schaute sich um.

Giovanna deutete auf Ottavio, der hinter ihr stand und den Elli jetzt erst bemerkte: »Wir haben die Hälfte aller Rutschen durch, treffen uns gleich mit Marie beim Essen. Kommst du mit?«

»Natürlich.« Elli verfluchte den übermäßigen Alkoholgenuss vom Vorabend, den sie für ihre Müdigkeit verantwortlich machte, und folgte den beiden, die inzwischen sehr vertraut miteinander wirkten, leicht schwankend. Noch immer etwas benommen, drehte sie sich aus alter Gewohnheit um – hatte sie nicht etwas vergessen? Eins ihrer Kinder? Vier Kinder hatten die Sorge als Reflex eingebrannt in ihr Unterbewusstsein, auch wenn das jetzt, da auch die Kleinste zunehmend selbstständig wurde, nach und nach schwächer wurde. Doch sie sah nur drei leere Liegestühle, und ein bisschen Sehnsucht keimte in ihr auf. Wäre schön, wenn Matthias jetzt hier wäre, dachte sie und wunderte sich. Fast meinte sie, seine Hand zu spüren, die sich um ihre schloss. Und wieder war es nicht Toni, den sie sich an ihre Seite wünschte. Sehr nachdenklich erreichte sie die Freunde, die schon an der langen Servicetheke anstanden.

Es war gegen Viertel vor drei, als sie die Tische des Self-Service-Bereichs wieder verließen, um rechtzeitig ins Wellenbad zu kommen. Punkt drei, das hatte Giovanna inzwischen herausgefunden, würde das Spektakel losgehen.

Doch natürlich waren sie auch hier nicht die Einzigen. Wo vorher nur ein paar träge Gestalten auf der Wasserfläche gedümpelt waren, tobte jetzt der Wahnsinn. Lemmingen gleich setzten sich quasi alle Badbesucher gleichzeitig in Bewegung, stürzten ins Wasser, ziellos wie Zombies, und bildeten mit ihren Badehauben einen Teppich aus gestreiften Köpfen.

»Das muss ja was ganz Großes sein«, vermutete Giovanna, die neben Elli auf- und abhüpfte, um mehr sehen zu können. Sie suchten sich einen Platz in der Mitte, wo sie noch gut stehen konnten, und erwarteten mindestens einen kleineren Tsunami, zumal sich einige der Wellenfreunde große Reifen mitgebracht hatten, um sich gegen die hereinbrechende Flut zu wappnen. Larry hatte Nicoletta mit ihren Schwimmflügeln auf seine Schultern gesetzt, sicher war sicher. Dann, Punkt drei Uhr: der hässliche Ton einer röhrenden Schiffssirene, der das Mega-Ereignis einleitete. Es ging los, die Spannung kaum mehr auszuhalten, Nicoletta fiepte. Und es passierte – eigentlich nichts. Eine sanfte Dünung erreichte sie, die Woge direkt an ihrem Ursprung gebrochen von dem Wall an Leibern. Eine sehr dicke Frau, die ihre Badekappe wie eine Krone auf ihrem krausen Dutt trug, wippte im brusthohen Wasser auf und ab und verursachte dabei mehr Turbulenzen als die Wellenmaschine, während ein Vater den Gummiring, in dem seine vielleicht achtjährige Tochter saß, fest umklammerte, als hinge ihr Leben davon ab.

»Die hat wahrscheinlich mehr Spaß, wenn sie Hausaufgaben machen muss«, frotzelte Marie, die Ellis Blick kopfschüttelnd gefolgt war.

»Das war es jetzt aber noch nicht, oder?«, fragte Giò, während sie der enthemmten Menge zusah, die sich an der tiefsten Stelle des Beckens ineinander verknäulte. »Die haben doch das Meer gleich ums Eck, die müssen doch wissen, was eine ordentliche Welle ist – das ist doch ein Witz!« – der nach wenigen Augenblicken auch schon wieder vorbei war. Die Dünung flaute ab, und die Massen verließen das Becken genauso schnell, wie sie gekommen waren.

Elli und die anderen blieben ratlos zurück, bis Giovanna scheppernd zu lachen begann und sich prustend ins nunmehr wieder jungfräulich anmutende Wasser stürzte. Sie hatte jetzt viel Platz zum Kraulen und schwamm mit langen Zügen ans hinterste Ende, gefolgt von Ottavio. Nicoletta begann auf Larrys Schultern zu zappeln und ihn wie ein Pferd in die Weichen zu treten. »Will zu Scho, will zu Scho«, rief sie, und Larry tauchte ab, sodass sie wie der Reiter auf einem Delfin auf seinem Nacken saß. Vorsichtig schwamm er mit der Kleinen Giovanna und Ottavio hinterher, die im tiefen Wasser umeinander kreisten.

»Ich glaube nicht, dass sie froh sind, wenn sie Gesellschaft kriegen«, sagte Elli zu Marie, die bei ihr geblieben war.

»Nein, das fürchte ich auch.«

»Du fürchtest – was?«

»Ach, ich weiß nicht recht«, murmelte Marie, »Giovanna …«

»Was ist mit ihr? Es stört dich was, das merke ich doch«, sagte Elli, während Marie mit ausgestreckten Armen die Wasseroberfläche tätschelte und nachdenklich hinübersah.

»Warum muss sie eigentlich immer mit irgendwelchen Männern rumtun? Geht das nicht, dass da mal keiner ist, mit dem sie etwas anfängt?«

»Oha. Eifersüchtig?«

Elli konnte Maries Gesicht nicht sehen. Was war da los? Sie beschloss, nicht lange herumzurätseln.

»Worum geht’s, Marie? Komm, sag mir die Wahrheit!«

Marie zögerte, tauchte halb unter, sodass Elli nur noch ihre grünen Augen und ein paar Haarsträhnen sehen konnte, die partout nicht unter der Badehaube bleiben wollten. Dann verschwand sie ganz, um ein paar Meter weiter wieder hochzukommen. Elli blieb, wo sie war, und wartete, bis Marie wieder neben ihr auftauchte und verkündete: »Ottavio hätte Nicolettas Vater sein können.«

Das war er, der Tsunami. Die Nachricht brachte Elli stärker aus dem Gleichgewicht als die Wellen vorhin. Sie starrte Marie entsetzt an.

»Hätte können? Wieso? Ist er’s oder ist er’s nicht?«

Als Marie wieder wegschwimmen wollte, hielt Elli sie am Ellenbogen fest. »Du machst Witze, oder? Sag, dass das nicht wahr ist!«

»Erst, wenn du mich loslässt«, zischte Marie leise und fast ein bisschen aggressiv. Wohl oder übel lockerte Elli ihren Griff.

»Also, wahrscheinlich ist er es nicht, aber einen Vaterschaftstest wollte ich nicht.«

Elli schluckte, Marie meinte es ernst.

»Das heißt, du hattest ein Verhältnis mit ihm? Und dann erzählst du mir den ganzen Schmarrn, von wegen, man kann ihm nicht trauen und so?«

»Oh, Elli, jetzt mach mal halblang!«

»Nein, ich mach nicht halblang.« Elli deutete hinüber, wo Giovanna und Ottavio noch immer umeinander herumschwammen wie zwei verliebte Seehunde. »Schau dir Giò doch an. Das sieht ein Blinder, dass sie total verknallt ist. So wie überhaupt noch nie. Und jetzt kommst du plötzlich damit daher?«

Marie warf einen langen Blick zu den beiden. »Ja, das ist jetzt Pech«, sagte sie dann schlicht.

»Pech für wen? Für sie? Oder für dich?«

»Na ja, irgendwie für uns alle.«

Dann fiel Elli die nächstliegende Frage ein: »Und was ist mit Larry? Und noch mal, was soll das heißen, er hätte der Vater sein können? Könnte es auch Larry sein?«

Marie konnte ein Lachen kaum unterdrücken, was Elli ein bisschen gemein fand. »Larry? Wie kommst du denn dadrauf? Larry, nein, der hat damit gar nichts zu tun.«

»Aber, Moment mal, Marie, er kümmert sich um die Kleine wie ein Vater, und du bist mit ihm zusammen, also entschuldige schon! Die Annahme ist doch nicht von der Hand zu weisen.«

»Ich habe Larry kennengelernt, als ich schon schwanger war«, erklärte Marie.

»Und da warst du mit Ottavio zusammen?«

Marie hob abwehrend die Hände aus dem Wasser. »Nein, nein, stopp! Ich war nie mit Ottavio zusammen.«

»Aber du …«, fiel Elli ein.

»Das war nur eine Nacht. Ein One-Night-Stand, sonst nichts.«

Elli schwieg. Dann sagte sie: »Können wir mal rausgehen, mir wird’s langsam kalt.« Sie war sich allerdings nicht im Klaren, ob es am langen Aufenthalt im Wasser lag oder an den schockierenden Neuigkeiten, dass sie fror. Marie kam ihr nach. Ein ruhiges Plätzchen wäre jetzt gut gewesen für ein klärendes Gespräch, war aber nicht zu kriegen. Hundertfach italienisches, englisches und deutsches Geschnatter um sie herum, und Elli wünschte einfach nur alle zum Teufel. Zu allem Überfluss näherten sich jetzt auch noch die anderen. Marie drückte ihr flüchtig die Hand und raunte ihr zu: »Wir reden später, ja?« Elli nickte. Konsterniert. Diese Neuigkeiten mussten sich erst einmal setzen.

Wie hatte es denn dazu kommen können? Die ach-so-rationale Marie wurde ihr immer unheimlicher. Andererseits – wieso eigentlich? Marie war zu dem Zeitpunkt schon getrennt gewesen. Und Ottavio? Ein gut aussehender Mann, auch er Single, soweit sie wusste – so absurd war das also gar nicht. Aber wieso war Marie sich nicht sicher wegen der Vaterschaft? Gab es noch andere potenzielle Aspiranten? Wer kam denn noch alles infrage, der Vater der kleinen Nicoletta zu sein? Roberto fiel ihr wieder ein. Und wieso war Marie so schlecht auf Ottavio zu sprechen? Wusste er, dass Nicoletta seine Tochter sein konnte? Elli nahm sich vor, die nächste Gelegenheit zu ergreifen, um die ganze Wahrheit aus Marie herauszuholen.

Jetzt stand erst einmal Giovanna vor ihr: »Elli, auf geht’s, einmal wenigstens auf die große Rutsche. Du hast es heute noch gar nicht probiert.« Elli sah fragend Marie an, die nickte ihr zu, und beide folgten sie Giovanna die Treppe hinauf.

Aus dem einen Mal wurden zwei und drei Mal, tatsächlich begann Elli doch noch Spaß an der Rutscherei zu finden. Weil sie sich immer wieder anstellen mussten, vergingen die nächsten eineinhalb Stunden so rasant wie der ganze Tag davor nicht. Ottavio, der sich ihnen angeschlossen hatte, hielt sich an Giovanna, Larry war mit Nicoletta im Kinderbereich geblieben, und so kam es, dass Elli gegen halb sechs mit Marie allein in der Schlange wartete.

Marie kam ihr zuvor, sie brauchte gar nicht zu fragen. »Nicoletta könnte auch von Marc sein.«

Jetzt verschlug es Elli endgültig die Sprache. »Marc? Wieso denn Marc? Du warst doch schon gar nicht mehr mit ihm zusammen, als … Lass mich nachrechnen. Nicoletta ist jetzt drei, oder? Du bist vor fast vier Jahren hierhergekommen. Nein, Marie, sag mir, dass das nicht stimmt!«

Ein seltsames Mona-Lisa-haftes Lächeln hatte sich über Maries Züge gelegt. »Doch, doch, glaub es nur! Es ist so, es könnte sein. Es war an unserem Scheidungstermin. Ich bin nach München gefahren und wir haben uns beim Gericht getroffen.« Sie lachte ein bisschen schief bei der Erinnerung an den Tag, als ihre Ehe zu Ende gegangen war, währenddessen schob die Warteschlange sie ein Stückchen nach vorne. »Da war das mit Ottavio gerade zwei Tage her, und ich war – na ja, das hat mir so gutgetan, ich hatte das Gefühl, ich kann machen, was ich will.«

»Und da bist du mit Marc ins Bett gegangen? Mit dem Typen, der dich so verarscht hat? Marie, ich versteh’s nicht. Warum?«

»Weil ich’s konnte. Einfach, weil ich’s konnte. Weil er getan hat, was ich von ihm wollte. Ganz plötzlich, verstehst du? Weil ich frei war, es zu tun oder nicht. Wir sind nach dem Termin bei Gericht zusammen einen trinken gegangen«, wieder lachte sie, ein wunderliches Lachen, fand Elli. »Um das alles zu begießen, verstehst du? Und plötzlich hatte ich Lust auf ihn. Und da sind wir in ein Hotel, einfach so.«

»Das ist unfassbar.«

»Ja, das hat er wohl auch gedacht, vor allem, als ich hinterher aufgestanden und gegangen bin. Ich bin zum Bahnhof und hab den nächsten Zug genommen.« Sie rückten wieder ein Stückchen nach vorne. »Eine ganz überdrehte Stimmung war das. Na ja, drei Wochen danach war ich schwanger. Das war nicht ganz so toll.«

»Und die Vaterschaft? Wie kannst du damit leben, dass du es nicht genau weißt?«

»Na ja, Marc ist auf jeden Fall wahrscheinlicher der Vater, vom Termin her. Außerdem – schau dir Nicoletta an. Sie sieht nicht gerade wie Ottavio aus, hat viel zu dünne Haare.«

»Und weiß Marc von ihr?«

»Nein. Also ja. Aber ich habe ihn glauben lassen, sie sei von Ottavio.«

»Und Ottavio?«

»Der hat nicht gefragt«, sagte Marie trocken.

»Oh«, machte Elli. »So sieht das aus.«

»Jetzt weißt du auch, warum ich mir bei ihm nicht so sicher bin, was ich von ihm denken soll. Ich meine, er hat mitgekriegt, dass ich sie bekommen habe, neun Monate nachdem wir miteinander geschlafen haben.«

»Vielleicht ist er unfruchtbar?«, vermutete Elli. »Oder aber er hat erwartet, dass du es ihm sagst, wenn er infrage kommt. Männer rechnen da nicht so genau nach, glaube ich. Also Matthias war letztlich immer überrascht, wenn sie endlich rausgekommen sind.«

Sie hatten die Rutsche erreicht. Elli ließ Marie den Vortritt, froh über den Augenblick, in dem sie das Gehörte sacken lassen konnte. Dann war sie an der Reihe, stieg in die Rutsche, stieß sich heftiger ab, als sie eigentlich wollte, und stürzte sich mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit in die dunkle Röhre. Als sie unten herausschoss, ins Licht fiel und die Fluten gleich darauf über ihrem Kopf zusammenschlugen, hatte sie einen Entschluss gefasst.

Die große Uhr zeigte zwanzig vor sechs. Noch war sie allein bei den drei Liegen, während rundherum bereits alle aufbrachen und mit sich selbst beschäftigt waren. Die Gelegenheit für zwei kurze Telefongespräche. Elli nahm sich nicht die Zeit, sich abzutrocknen, sondern streifte ihr Kleid über den noch nassen Badeanzug, den sie dann darunter hervorfummelte. Es war ihr egal, dass das Kleid dabei nass wurde. Sie hatte etwas Wichtiges zu erledigen. Das Badetuch war schnell zusammengelegt und in der Tasche verstaut, aus der sie danach ihr Handy hervorzog. Zuerst wählte sie die Nummer von daheim. Matthias war schon beim zweiten Läuten am Apparat, als hätte er auf ihren Anruf gewartet. Es schien ihr, als würde sie Erleichterung in seiner Stimme hören.

»Mein Schatz, am Sonntag sind wir wieder da. Ich freu mich so auf dich«, flüsterte sie in das Handy, und daran war nichts, aber auch gar nichts gelogen.

Das nächste Telefonat war schon schwieriger. Auch Toni schien auf ihren Anruf gewartet zu haben, und es schnitt ihr ins Herz, dass sie ihm wehtun musste. »Ich würde dich gern treffen und reden, wenn ich wieder da bin.« Vermutlich war ihm klar, was sie ihm sagen wollte. Und natürlich hatte er damit rechnen müssen. »Ja, machen wir, ruf mich einfach an, wenn ihr wieder in München seid.« Er würde es ihr nicht leicht machen, das wusste sie. Aber er hatte es verdient, dass sie ihm ihre Entscheidung erklärte. Nein, das würde nicht leicht werden.

Und doch – als sie auflegte, war es ihr, als wäre eine große Last von ihrem Herzen genommen. Zugleich war sie heilfroh, noch ein paar Tage Galgenfrist zu haben.