Heiß und schwer vor Feuchtigkeit umfing sie die Luft außerhalb der klimatisierten Räume, als sie aus der Tür traten, um ihre Sachen zum Auto zu bringen. Der Regen des gestrigen Tages hatte die Erde an den Abhängen rund um den kleinen Ort getränkt. Ein paar verwinkelte und im steten Auf und Ab des bergigen Städtchens ineinander verknotete Straßen entfernt schien der Kirchturm von Collegiata di Santo Stefano im Dunst des frühen Vormittags seine Balance zu verlieren und wie der Schlot eines Schiffes zu taumeln. Nicht lange aber, und die Augustsonne würde die letzte Feuchtigkeit getilgt und verbrannt haben. Schon die wenigen Meter zum mächtigen steinernen Wasserturm, neben dem Elli ihr Auto geparkt hatte, ließen ihr Schweißtropfen auf die Stirn treten. Das Erste, was sie tat, als sie sich auf den Fahrersitz geschoben hatte, war, sämtliche Fenster herunterzulassen und das große Dachfenster nach hinten zu schieben. Giovanna sprach kaum ein Wort, während Elli den Weg durch die Gassen suchte. Einzig die Aufschriften auf den Geschäften schienen die Freundin zu interessieren, die Namen der Akkordeonhersteller, die noch hier in der Altstadt ihre Geschäfte führten. Auf das Schaufenster der Manufaktur von Borsini hatten sie von ihrer Terrasse aus schauen können, an Soprani kamen sie vorbei. Giovanna hatte erzählt, dass andere Händler wie Pigini, Guerrini, Scandalli ins Tal gezogen waren, nach Acquaviva oder Cerretano, wo die Straßen jetzt nach ihnen benannt waren.
Vorüber zogen die hingewürfelten Häuser an der Via Dante Alighieri, auf der sie sich schließlich vom Ort entfernten, im Auto nichts als das Geräusch des Fahrtwinds. Giovanna sagte noch immer nichts, und Elli warf ab und zu einen Blick zu ihr hinüber. Elli kannte das von ihrer Freundin. Giovanna konnte so präsent sein, dass es wehtat. Konnte den Raum sprengen mit ihrer puren Anwesenheit und sich im nächsten Augenblick verlieren, wegdriften und als Person unsichtbar werden hinter dem Bild ihrer eigenen Erscheinung.
Früher war die starke, selbstbewusste, die präsente Giovanna die Einzige, die Elli kannte, schroff war sie manchmal, sicher, dann wieder charmant, immer aber vermittelte sie ihrem Gegenüber dieses Gefühl einer Gegenwart, die man nicht ignorieren konnte. Niemand konnte das. Doch in den Jahren seit Antonellas Tod hatte sich Giovanna immer mehr verändert. Natürlich trauerte sie um ihre Schwester, auch nach all den Jahren, und manchmal bemerkte Elli eine gewisse Kraftlosigkeit an ihr. Es war, als hätte Antonella etwas von Giovanna mitgenommen, als wäre ein Teil ihrer Energie und Vitalität verraucht, in ihrem Bemühen, den Verlust der Zwillingsschwester zu verarbeiten. Wie bei einem großartigen Gemälde, dessen frische Farben dort verblassen, wo die Sonne zu sehr darauf brennt, und von dem nach und nach nur noch Pastelltöne übrig bleiben. Wer das ursprüngliche Gemälde nicht kannte, würde sich nicht daran stören, er würde die Schönheit der sanften Farben genießen. Genauso war es bei Giovanna. Auf den ersten Blick war sie noch immer schön, ihre Züge ebenmäßig, von tiefer Farbe ihre Augen. Doch alles an ihr war ein wenig sanfter geworden, nachgiebiger als früher, vielleicht auch weniger anstrengend.
Doch Elli machte sich so ihre Gedanken darüber. Giovanna, die Unantastbare, die auf jede feste Bindung pfiff, weil sie einfach ging, wenn sie wollte – wie stark, wie unabhängig war sie wirklich? Wie viel Verlassenheit konnte sie ertragen? Auch mit dem seltsamen Abschied oder auch Nicht-Abschied von Marie, die einmal Giovannas beste Freundin gewesen war – da machte Elli sich nichts vor –, tat sich Giovanna schwer. Und jetzt auch noch dieser Streit mit ihrem Vater. Giovanna hatte nicht viel erzählt, nur, dass es mit damals zu tun hatte. Jenem Damals, über das sie noch heute kaum sprechen konnte, weil es ihr immer von Neuem das Herz brach, es zu tun. Meistens reagierte sie barsch, abweisend, wenn sie danach gefragt wurde. So wie an jenem Tag am Ende der vierten Klasse, als Elli und Marie sie kennenlernten, sie und ihre Schwester Antonella.
Es musste in der dritten Stunde gewesen sein, Mathematik. Die Klassenlehrerin hatte eben eine Rechnung mit mehreren Summanden an die Tafel geschrieben, und Elli war im Begriff gewesen, sich zu melden. Wieder einmal hatte sie das Ergebnis vor allen anderen ausgerechnet – Mathe war ihr absolutes Lieblingsfach –, als plötzlich die Türe aufging und die Rektorin zwei kleine Mädchen hereinschob. Sie glichen einander vollkommen, soweit Elli das unter dem fast schwarzen Haar erkennen konnte, das beide Gesichter umhüllte und den Mädchen fast bis auf die Hüften fiel. Elli fasste sich unwillkürlich in die eigenen blonden Löckchen, »Fasern«, wie ihre Mutter – mitunter wenig charmant – zu sagen pflegte. Und sie nahm sich vor, die Italienerinnen unbedingt gleich nach Schulschluss zu fragen, ob sie diesen unglaublichen Kopfschmuck mal anfassen dürfe. Ein Vorhaben, das zunächst scheiterte. Beide Mädchen hielten ihre Lippen an diesem Münchner Herbstmorgen fest zusammengepresst. Auch die Blicke, die sie unter dichten, dunklen Augenbrauen hervorschossen, waren nicht eben freundlich. Das gefährliche Glitzern darin rührte, wie Elli bald erkennen sollte, vom Kristallschimmer der graublauen Augen her, der in einem aufregenden Kontrast zum honigfarbenen Teint stand. Jetzt noch, im späten Herbst, kündete die Haut der beiden von Sonnenwärme, was sie von all den anderen Kindern in Ellis Klasse unterschied. Doch das Auffälligste an den beiden waren zweifellos die Augen. Untermalt waren sie von dunklen Schatten, was den Mädchen etwas Ruchloses verlieh. Eine Aura, die Elli faszinierte. »Feenaugen«, sollte ein Verehrer viele Jahre später einmal über Giovannas Augen sagen, sie etwas später als »Hexenaugen« bezeichnen, als sie ihn abgewiesen hatte und er sie nicht mehr ganz so gut leiden konnte.
Aber das wusste Elli damals noch nicht. Was sie erfuhr, gleich nachdem die Rektorin die Tür hinter sich und den beiden Mädchen geschlossen hatte, war, dass sie aus Italien kamen. Wegen »familiärer Hintergründe« würden sie fortan in München auf die Grundschule gehen. Unter familiären Hintergründen konnte sich Elli damals nicht viel vorstellen.
Als hintergründig bezeichnete ihre Mutter hin und wieder ihre Oma, also die Mutter von Ellis Papa. Ellis Mama konnte ihre Schwiegermutter nicht ausstehen, und manchmal, wenn sie mit einer Nachbarin über den Gartenzaun hinweg ratschte und glaubte, dass Elli sie nicht hören könne, wurde aus »hintergründig« »hinterfotzig«. Ein Wort, das Elli im Duden nachgeschlagen hatte und als Erklärung dafür »hinterlistig« und sogar »heimtückisch« gefunden hatte. Warum ihre Mutter die Oma hinterfotzig fand, verstand Elli damals nicht. Zu ihr war die Großmutter immer sehr nett. Aber sie würde es schon eines Tages herausfinden, hatte Elli sich vorgenommen. Wie sie das anstellen sollte, wusste sie allerdings nicht so genau. Sie vermutete auch, dass ihr Papa vielleicht nicht die richtige Adresse war, um danach zu fragen.
Im Grunde war er für gar nichts die richtige Adresse. Er schien sich für gar nichts mehr zu interessieren außer für seine Arbeit. Und für den Cognac, den er in bauchigen Schwenkern von der Küche in sein Arbeitszimmer transportierte. Vielleicht war es auch Whisky, Elli wusste nur, dass die Flüssigkeit in seinen Gläsern goldbraun schimmerte.
So goldbraun wie die Haut der beiden Italienerinnen, die von der Klassenlehrerin zu zwei Plätzen hinten im Klassenzimmer geleitet wurden. Elli beugte den Kopf zu Marie hinüber, die neben ihr saß: »Was sind denn Hintergründe?«, flüsterte sie, die zwei Neuen nicht aus den Augen lassend. Doch Marie, die damals schon meistens zu allem etwas Schlaues zu sagen hatte, hob diesmal nur die Schultern und starrte ebenfalls die neuen Mädchen an, so wie es die ganze Klasse tat. Da saßen die beiden Italienerinnen nun in einer Bank an der Wandseite des Zimmers, hielten die Blicke stur geradeaus. Dann stieß Marie Elli in die Seite. »Alle glotzen sie an«, flüsterte sie ihr zu. »Ist vielleicht nicht nett, oder?«
»Du glotzt ja auch«, gab Elli zurück und bemühte sich, noch etwas leiser zu flüstern, weil sie bemerkt hatte, dass Frau Taumann, die Klassenlehrerin, bereits mahnend zu ihnen herübersah.
»Vielleicht haben sie irgendwas verbrochen? Oder sie sind davongelaufen?«, mutmaßte Marie. »Vielleicht haben sie ja jemanden umgebracht!« Elli sah sie entsetzt an. Wie kam Marie nur auf solche Gedanken? Aber sie wusste, die Freundin würde nicht lockerlassen, bis sie hinter das Geheimnis gekommen war, das die beiden Mädchen umgab. Sie und Marie waren zusammen eingeschult worden, hatten gemeinsam Lesen und Schreiben gelernt und waren nun auch miteinander in die vierte Klasse gekommen, die letzte vor dem Wechsel ins Gymnasium. Sie kannten sich gut.
Als es zur Pause gegongt hatte, sprang Marie auf und lief zu den beiden Neuen nach hinten. Elli folgte ihr auf dem Fuße, schließlich wollte sie sich keine Einzelheit der Geschichte entgehen lassen, die die beiden vielleicht preisgeben würden. Doch sie wurde enttäuscht, genau wie die anderen Mädchen der Klasse, die sich, ebenfalls von Neugier getrieben, um die beiden Italienerinnen versammelten. Die Mädchen waren hochgefahren, hatten ihre Schultaschen an sich gerissen, pressten sie vor die Brust, als wären sie Schutzschilde gegen eine anstürmende Armee. Ein paar dürre Sätze immerhin kamen von einem der Zwillingsmädchen. Sätze, die wenig erklärten, aber immerhin verdeutlichten, dass sie Deutsch sprachen.
»Ich bin Giovanna, das ist meine Schwester Antonella. Wir wohnen in München. Vorher waren wir in Italien«, erklärte diejenige, die die Wortführerin des Duos zu sein schien. Sie hatte den Rücken gestrafft, als würde sie sich einem Kampf stellen, während ihre Schwester den Kopf gesenkt hielt und verkrampft einen Riemen ihres Ranzens zwischen den Fingern drehte. Als nun die Meute um sie herum begann, sie auszufragen – »Wieso seid ihr jetzt hier? Wo wohnt ihr? Warum seid ihr nicht in Italien geblieben? Gefällt es euch hier besser?« –, machte sich das Mädchen namens Giovanna noch ein bisschen größer, warf den Kopf zurück und erklärte mit all der kindlichen Arroganz, derer sie als knapp Zehnjährige fähig war: »Wir geben keine weiteren Kommentare ab.« Den Satz musste sie irgendwo gelesen haben, dachte Elli. Doch ihr Deutsch war beinahe akzentfrei. Dann warf Giovanna ihre Mähne zurück und packte die Schwester am Arm. Die hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen, sodass vom Gesicht hinter einem dicken dunkelblauen Schal und dem Vorhang der Haare kaum etwas zu erkennen war. Die Wortführerin schob sie um den Tisch herum und zog sie dann mit sich durch die Menge, in Richtung Klassenzimmertür. Elli, Marie und all die anderen sahen ihnen nach, voller Respekt für den resoluten Auftritt Giovannas. Ein bisschen brüskiert die eine oder andere. Und voller Mitgefühl, zumindest was Elli anging, die sehr feine Antennen für das Glück oder Unglück ihrer Mitmenschen hatte. Und es war doch zu offensichtlich, dass es kein glücklicher Umstand gewesen sein konnte, der die italienischen Mädchen zu ihnen geführt hatte. Marie neben ihr machte ein, zwei Schritte in Richtung der Tür, durch die Giovanna und Antonella verschwunden waren, doch Elli hielt sie am Handgelenk fest.
»Marie, nein, lass sie doch«, raunte sie ihr zu. Die Freundin drehte sich ein wenig unwillig zu ihr um, fügte sich dann aber. Ellis Wort hatte Gewicht. Und Elli hatte das deutliche Gefühl, dass die beiden Neuen erst einmal ihre Ruhe bräuchten. Sie konnten sich in den nächsten Tagen immer noch um sie kümmern. O ja, das würden sie tun. Schließlich war sie nicht weniger neugierig als Marie, herauszufinden, was es mit den beiden Schwestern auf sich hatte.