5.
DA GINO.

Giovanna

»Giò? Giò? Giovanna!« Es dauerte eine Weile, bis Ellis Rufe zu ihr durchdrangen; sie war ganz in Gedanken gewesen.

»Geht’s dir gut?« Elli machte ein besorgtes Gesicht, als sie jetzt zu ihr herübersah, und Giovanna wusste nicht so recht, was sie ihr sagen sollte.

»Basst scho’«, nuschelte sie dann in schönstem Oberbayerisch und freute sich einmal mehr darüber, dass der Dialekt, mit dem sie groß geworden war, diesen wunderbar uneindeutigen Ausdruck bereithielt, aus dem sich alles und nichts herauslesen ließ.

Elli allerdings gab sich mit der vagen Antwort nicht zufrieden. Sie bohrte nach: »Passt schon – gut? Oder passt schon – eher schlecht?«, wollte sie wissen. Giovanna sah sie an und musste beinahe lächeln. Das hätte sie sich denken können, dass Elli nicht so einfach nachgeben würde. Elli, die Übermutter, Elli, die Seelentrösterin. Die Freundin war neben ihrem anstrengenden Job mit Haut und Haaren Mutter, und wenn sie nicht für ihre Kinder da sein konnte, dann musste eben die Freundin als Ersatz herhalten. Giovanna, die ja selbst keine Kinder und nie auch nur erwogen hatte, welche zu bekommen, hatte oft darüber nachgedacht, wie viele Stunden Ellis Tag haben musste, dass sie es schaffte, beides so hinzubekommen.

Mehr noch als das Wie faszinierte Giovanna daran das Wieso: Wieso hatte das Drama ihrer eigenen Kindheit Elli nicht ein für alle Mal vom Wunsch nach eigenen Kindern abgebracht? Nach all dem, was sie hatte erleben müssen … Wie hatte sie es wagen und dabei sicher sein können, dass es gut werden würde? Wie hatte sie daran glauben können, dass sie selbst es besser machen würde als ihr Vater mit seiner Alkoholsucht, seinem völligen Kontrollverlust, besser als ihre Eltern mit ihren ständigen Streitereien, mit dem Schreien und dem Hass, in dem alles gipfelte und unter dem Elli und ihre Geschwister litten.

Elli war der Gegenentwurf zu ihrem Vater. Nie machte sie den Eindruck, als würde ihr eine Situation, eine Aufgabe, ja gar eins ihrer Kinder entgleiten. Oder, fragte sich Giovanna, würde sie mir das vielleicht gar nicht erzählen? Sie warf einen Blick auf das Profil der Freundin, die kleinen hellen Locken wirbelten im Fahrtwind, der durch das Dach hereinstrich. Kerzengerade saß sie, eine Hand am Steuer, die andere entspannt auf dem Fensterrand, eine große dunkle Sonnenbrille auf der Nase. Eine Frau, die nichts aus der Ruhe brachte. Oder?

Vielleicht nahm Elli an, sie, Giovanna, würde Sorgen um Kinder oder auch einen Ehemann gar nicht verstehen können, weil sie selbst diese nie erfahren hatte. Selten, dass Elli Interna aus dem Familienleben verriet. »Nick ist ein Chaot, du kannst dir nicht vorstellen, wie sein Zimmer gestern wieder aussah!« oder »Lilly hatte in Mathe eine Fünf, dafür in Musik eine Eins. Vielleicht ist sie ja deine Tochter?« – mehr erzählte Elli kaum von ihrer Familie. Als Lena, ihre Älteste, ausgezogen war, um zum Studieren nach Wien zu gehen, hatte sie kein einziges Mal gejammert. Dabei musste doch einer Mutter das Herz brechen in diesem Augenblick, oder nicht? Vielleicht hätte ich sie ja fragen müssen? überlegte Giovanna und zog die Unterlippe zwischen die Zähne, um darauf herumzukauen. Aber vielleicht war das auch ein Thema, das nur Mütter untereinander bereden konnten. Würde Elli solche Dinge mit Marie eher teilen als mit ihr? Giovanna fühlte einen kleinen Stich in ihrem Innern. Da war es wieder, dieses vage Gefühl, ausgeschlossen zu sein, das sie früher bei ihren Freundinnen nicht gekannt hatte. Hatte sie doch etwas falsch gemacht? Wieso zum Teufel hatte Marie den Kontakt zu ihr abgebrochen? Wieso nur zu ihr? Was hatte sie getan, das Elli nicht getan hatte? Ihre Grübeleien drehten sich im Kreis.

Erst Ellis Nachfrage brachte das Gedankenkarussell zum Stehen. Die Freundin machte ihr jetzt mit Nachdruck klar, dass sie auf eine Antwort wartete: »Also, was ist jetzt? Gut oder schlecht?«

Giovanna schüttelte nachdenklich den Kopf, sie wusste überhaupt nicht, was sie sagen sollte.

»Giovanna?« Ellis Ton klang ein bisschen so, als würde sie zum wiederholten Male eines ihrer Kinder ermahnen, und Giovanna fühlte sich auch ganz ähnlich. Sie hatte diesen jugendlichen Reflex zu sagen: Manchmal bist du echt anstrengend. Doch sie tat es nicht. Stattdessen versuchte sie erneut ein Lächeln, etwas gequält vermutlich. Ein Lächeln, das Elli nur aus dem Augenwinkel gesehen haben konnte. Sie fragte: »Warum lächelst du so? So – kryptisch?« und machte ein skeptisches Gesicht.

»Weil du so penetrant sein kannst«, sagte Giovanna nun doch, und erschrak über sich selbst. Tatsächlich veränderte sich Ellis Gesichtsausdruck von skeptisch zu bestürzt.

»Na, entschuldige mal«, fuhr sie Giovanna dann an, »ich will wissen, wie es dir geht und du keifst mich an dafür?«

Giovanna hätte die Worte zu gern ungesagt gemacht. Das Letzte, was sie wollte, war, Elli zu verletzen. Doch hin und wieder passierte es ihr einfach, dass sie ihre Zunge nicht zügeln konnte, und jedes Mal tat es ihr hinterher leid. Doch die Überlegungen, die sie eben gewälzt hatte, ließen sich nicht einfach in die passenden Worte fassen, ohne dass sie dabei Gefahr laufen würde, Elli vielleicht noch mehr zu kränken.

»Elli, entschuldige«, versuchte sie es nun vorsichtig, »war nicht so gemeint.« Elli grummelte vor sich hin. Sie war nicht gerne beleidigt, das war Giovanna klar. Aber stehen lassen wollte sie den Vorwurf wohl auch nicht. »Penetrant«, murmelte sie, »wieso bin ich penetrant?«

»Na ja«, Giovanna wand sich vor Unbehagen, »weil du nie aufhörst, nachzufragen.«

»Ich mache mir eben Sorgen. Das ist doch normal, oder nicht?«

War das jetzt ein versteckter Vorwurf? Giovanna, etwas irritiert, zog es vor, darauf sicherheitshalber nicht zu antworten. Elli stieß ein dezentes Schnauben aus und wechselte auf eine andere Fährte.

»Es ist wegen Marie, oder?«

»Ja. Ja. Sicher.« Giovanna war fast erleichtert über diese Wendung, wenn sie auch über Marie genauso wenig reden wollte. Elli gab sich noch immer nicht zufrieden.

»Weil ich wusste, wo sie ist, und du nicht«, schob sie nach.

Messerscharf analysiert. Giovanna war peinlich berührt. Was sollte sie schon sagen? War es kindisch, wie sie sich fühlte? Oder war sie im Recht? Bevor sie sich darüber im Klaren war, konnte sie Elli keine wirkliche Antwort geben. Giò hob die Schultern und hoffte, dass die Freundin es irgendwann aufgeben würde, ohne dass sie deutlicher werden musste. Elli war es, die ihr schließlich selbst den Ausweg eröffnete, indem sie aussprach, was Giovanna dachte.

»Du willst nicht drüber reden.«

Giovanna nickte und hoffte, Elli habe es gesehen. Vor allem, weil sie spürte, dass sich schon wieder Tränen den Weg zu ihren Augen bahnten. Ein weiteres Wort, und sie würde überlaufen. Was war nur in diesen Tagen los mit ihr? Das hatte sie schon lange nicht mehr gehabt, dieses andauernde Bedürfnis zu weinen.

Elli, die Gute, fragte nicht weiter, und Giovanna atmete erleichtert auf. Sie schwor sich, Elli ihrerseits zu fragen, ob bei ihr alles in Ordnung war, sobald sich eine geeignete Gelegenheit dafür ergeben würde. Das könntest du genauso gut gleich tun, dachte sie, du bist ein Feigling, Giovanna! Dann dachte sie an Marie. Auch dort würden ihr Gespräche bevorstehen …

Giovanna verkroch sich innerlich im Dunkel einer imaginären Höhle, aus der nicht mal mehr ihre Nasenspitze herausragte. Und hoffte irgendwie, dass sich alles fügen würde, ohne dass sie jemals wieder aus ihrem Unterschlupf herauskommen müsste. Sie war noch nie gut darin gewesen, sich Problemen zu stellen. Im Gegensatz zu Elli. Und auch zu Marie. Das hatte sie zumindest gedacht. Marie war eine, die den Stier bei den Hörnern packte, hatte Giovanna immer geglaubt. Aber stimmte das wirklich? Wieso war sie dann einfach davongelaufen und hatte alles, was ihr lieb und teuer war, zurückgelassen? Oder war es anders? Was war Marie überhaupt lieb und teuer? Ihre Freundinnen konnten es ja nicht sein. Giovanna seufzte und steckte eine Hand durch das geöffnete Fenster nach draußen, ließ sie vom warmen Fahrtwind immer wieder nach oben treiben. Die Vormittagssonne stand jetzt hoch am Himmel und übergoss die leicht hügelige Landschaft mit Licht, lange Reihen von Pinien zeichneten fantastische Ornamente auf Bergrücken und riefen Erinnerungen in Giovanna wach. Sie genoss die zunehmende Hitze, und ihre Grübelei über die Freundinnen führte sie zurück zu jenen ersten Tagen und Wochen in der Grundschule, als sie sich kennengelernt hatten.

Das Interesse ihrer Mitschüler an den beiden Neuen hatte sich nicht lange gehalten, nachdem sie ihnen immer wieder zu verstehen gaben, dass sie kein Interesse daran hatten, sich ausfragen zu lassen. Und dabei blieb es dann auch erst mal. Die Klassenkameraden verloren rasch die Lust, sich noch eine und noch eine Abfuhr einzufangen, und zogen es vor, die zwei Italienerinnen zu meiden. Ein, zwei Wochen lang hatten die beiden ihre Ruhe, zogen sich in irgendeinen Winkel zurück, wo sie oft einfach nur miteinander schwiegen, vereint in den Erinnerungen an das Schreckliche, das sie nicht beim Namen zu nennen wagten. Wenn sie sich unterhielten, dann nur über alltägliche Dinge. Ob sie viele Hausaufgaben hätten, und was es wohl zu essen geben würde in ihrem neuen Zuhause, bei der Münchner Oma. Die leckeren Reiberdatschi vielleicht – ein schwer auszusprechendes Wort, das aber beide immer wieder übten, das »R« rollend und das »A« betonend. Sie waren in den wenigen Wochen, die sie jetzt in München waren, ihre Lieblingsspeise geworden. Und die Oma, die sich nach Kräften bemühte, die zwei mutterlosen Kinder zu verwöhnen, das konnten sie erkennen, gab immer wieder nach, wenn sie sie bestürmten, Reiberdatschi zu machen. Immerhin ein wenig Leben, das in die Mädchen zurückkehrte, mochte sie denken.

In der Schule aber hielten sich Giovanna und Antonella bedeckt. Bis sie eines Tages an Susanne gerieten. Susanne, eine Klassenkameradin, die sie meistens nur von hinten gesehen hatten, weil sie vorne in der ersten Reihe saß, war bekannt für ihre Lügengeschichten, so viel hatten sie am Rande schon mitbekommen. Susanne war lang und dünn und hatte phänomenal große Vorderzähne. Und einen großen Mund, der unentwegt Geschichten ausstieß. Wenn man Marie und Elli glauben wollte, jenen beiden Mädchen, die das Sagen zu haben schienen in der Klasse, dann war nichts, aber auch gar nichts Wahres daran. Marie und Elli gehörten zu jener Hälfte der Klasse, die mit Susanne nichts anfangen konnte. Die andere dagegen glaubte ihr jedes Wort und verehrte sie geradezu. Und so kam Susanne etwa in der dritten Woche mit ganz großem Gefolge angerauscht, baute sich vor Giovanna auf und fing an, von ihrem Affen zu erzählen, den ihr Onkel angeblich von einer Afrikareise mitgebracht hatte und den sie jetzt neben einem Pferd als Haustier hielt.

Forse nei tuoi sogni, idiota, dachte Giovanna, in deinen Träumen vielleicht, dumme Kuh. Sie und Antonella standen an den Stamm einer dicken Eiche gelehnt, am Rand des Pausenhofs. Giovanna sah Susanne nur an und fand sie aufdringlich. Sie wollte nichts hören von dem Affen, wollte nichts anderes, als allein sein mit ihrer Schwester und wusste, dass sich Antonella noch viel schlimmer fühlte als sie selbst. Auf Antonella lastete nicht nur das Gewicht der Erinnerung an das Geschehen, das ihr bisheriges Leben von einem Tag auf den anderen beendet hatte, sondern auch das der Verantwortung, die sie dafür spürte. Ihrer Heimat beraubt und in ein anderes Land verschlagen, ohne die Freunde ihrer Grundschultage, ohne die Nachbarn, Lehrer, Bekannten ihrer Eltern, die zu ihrem Leben gehört hatten, fühlten sich beide einsam und sahen in einer Beziehung zu den fremden Kindern auch nicht die Chance, daran etwas zu ändern. Sie vermissten den Schulweg, der sie durch die Gerüche und Geräusche Trasteveres führte, vom Mercato di San Cosimato, vorbei an den Pinien, die das Mausoleo di Garibaldi umstanden und ihre bizarren Schatten auf den Asphalt der Straße warfen, bis zum Gianicolo.

Hier dagegen, rund um jenes Münchner Viertel, das ihnen eine neue Heimat werden sollte, waren die Straßen nicht nach Heiligen benannt oder Freiheitskämpfern, sondern nach Bergen oder Alpenseen. Alles klang nach schroffen Gipfeln und kaltem Wasser – ihr Papà hatte sich eigens einen deutschen Schulatlas besorgt und gemeinsam mit seinen Töchtern nachgeschlagen: Rotwandstraße, Herzogstandstraße, Walchenseeplatz. Der See, nach dem der Platz benannt war, hatte im Sommer nicht mehr als 22 Grad. Im Sommer!

»Da frieren ja sogar die Fische«, war Antonellas knapper Kommentar gewesen, bevor sie sich eine Strickjacke geholt hatte. Überhaupt, diese Kälte! Dieses Wetter! Zu Hause, in Rom, wäre es in diesen Oktobertagen noch geradezu frühlingshaft gewesen, die Sonne hätte selbst in den frühen Morgenstunden genug Kraft gehabt, die dünnen Stoffe zu durchdringen, die man dort trug. Zugegeben, im Winter war es auch in ihrer römischen Wohnung nicht sonderlich angenehm gewesen, drang doch die feuchte Luft durch die schlecht verkleideten Fenster und hing dann wie Nebel in den hohen Räumen. Und nie funktionierte die Heizung so, wie sie sollte. Aber, bitte, im Winter, dachte Giovanna. Da durfte das schon mal sein.

Hier dagegen sickerte schon jetzt kühler Morgennebel durch jede sich bietende Öffnung an ihrer neuen Steppjacke. Wie es der Nebel getan hatte, brachte sie auch der harte Ton der Verkäuferin in der Bäckerei zum Frösteln, wenn ihre Großmutter sie in der Früh zum Semmelnholen schickte. Die Frau begrüßte sie mit einem förmlichen »Grüß Gott« statt des saloppen »Ciao, Giovanna, come stai«, das Gino ihr immer zugerufen hatte, hinter dem Tresen stehend, wenn sie ihren Vater auf einen schnellen Grappa für ihn und eine Aranciata für sie in die Bar gegenüber ihrer Wohnung begleitet hatte. Die großen Fenster der Bar hatte man von ihrem geräumigen Esszimmer aus sehen können, auch die goldschimmernden Metallbuchstaben, in denen »Da Gino« über der Tür stand, und den kleinen bronzenen Affen, der in der Schleife unter dem »G« saß.

Genau an diesen Affen musste sie sofort denken, als Susanne zu erzählen anfing. Er war immer dort gewesen, wenn sie aus dem Fenster geschaut hatte. Bis zu jenem furchtbaren Tag. Da war er verschwunden. Das große Loch musste ihn gefressen haben, das die Bombe in die Hauswand gerissen hatte. Giovanna hatte seither immer wieder darüber nachgedacht, wie er jetzt wohl aussehen mochte, der winzige Gibbon aus Bronze mit den langen Armen, und ob überhaupt etwas von ihm übrig geblieben war. Sie hatte Gino noch nach ihm fragen wollen.

Doch Gino war ebenso verschwunden wie der Affe. Und Giovanna hoffte inständig, dass die beiden irgendwo zusammen sein würden, jetzt, nach der Bombe. In ihrer kindlichen Vorstellung gehörten Gino und der Affe zusammen, so wie die alte Signora Bontempi und ihr langbäuchiger Hund Lupo. Sie war jeden Tag mindestens viermal an den Fenstern der Bar vorübergewackelt, mit ihrem gelben Tuch auf dem Kopf und dem Ende der Leine in der Hand, den Hund mit den schwarzen Flecken hinter sich herziehend. Zwei Häuser weiter wohnte der viel zu dicke Signore Pastarelli. Er gehörte ebenfalls zum Ausblick aus ihrem Fenster, zu dem Viertel, in dem Giovanna ihre Kindheit verbracht hatte. Jeden Tag in der Früh verursachte er einen scheppernden Lärm, wenn er seinen mit immer neuen Graffiti beschmierten Rollladen nachdrücklich nach oben wuchtete, um auch ja der gesamten Nachbarschaft mitzuteilen, dass seine Pasticceria nun geöffnet hatte; dass seine Pastetchen, Bomboloni, Sfogliatelle und Canestrini in der glänzend polierten Theke auf Kundschaft warteten.

Die Bombe hatte auch die Scheiben seiner Auslage zerrissen; Scherben und Splitter hatten sich in Zitronencreme und Sahnefüllungen gebohrt, und auch in die Wange des Signore Pastarelli. Die Hand gegen sein blutverschmiertes Gesicht gedrückt, war er der Erste, der an jenem schrecklichen Tag auf die Straße lief und hilflos vor der Hitze der brennenden Autos stehen blieb.

Ob der Affe da noch an Ort und Stelle hing, von der Explosion verschont worden war und vielleicht erst den Flammen zum Opfer fiel, die an der Hauswand emporloderten, danach hatte Giovanna nicht geschaut, als sie zum Fenster gerannt kam. Als sie wieder klar denken konnte, war der Affe jedenfalls weg gewesen.

Und ausgerechnet von einem Affen musste nun Susanne schwadronieren. Als hätte ein böser Geist sie geschickt. Bisher hatte Giovanna es vermeiden können, in dieser Grundschule, in der sie nicht sein wollte, den Mädchen zu nahe zu kommen, die sie nicht kennenlernen wollte. Sie wollte mit ihnen nichts zu tun haben und wusste sich mit ihrem Auftreten Respekt zu verschaffen. Das hatte sie an der Deutschen Schule in Rom gelernt, die sie und Antonella zuvor besucht hatten. Auch dort war es nicht immer leicht für sie gewesen, der Ton manchmal rau, wenn sich die italienischen Kinder mit den deutschen stritten, manchmal diejenigen aus gemischten Familien mit allen anderen, sich manchmal Kinder einfach gegenseitig die Freundschaft aufkündigten oder neue Koalitionen schlossen. Da musste man schon auch mal austeilen können in all dem Durcheinander. Immer aber, so schien es ihr, waren in Rom die Frontlinien variabel geblieben. Vielleicht, weil so viele von ihren Mitschülern aus Familien kamen, zu denen Deutsch- und Italienischsprachige gehörten. Vielleicht auch, weil das bunte Kauderwelsch, das den Schulhof erfüllte, Tedeliano genannt, alle doch irgendwie einte und zu einer Schulfamilie machte.

Dass das in ihrer neuen Schule in München anders sein würde, darüber hatte sie nicht nachgedacht, zum Glück. Sonst wäre der Abschied von Rom noch schwerer gewesen. Aber dass es so war, machte es nur noch schlimmer. Befeuerte nur noch die verzweifelte Hoffnung darauf, dass sie und Antonella eines Tages wieder nach Hause zurückkehren könnten und dass dort alles wie durch ein Wunder wieder sein würde wie früher.

Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Dieses Gefühl, den Boden unter den Füßen verloren zu haben, das sie nicht mehr los wurde, seit sie Rom, ihre Wohnung und das Mahnmal ihrer Erinnerung, das Loch in der Hauswand von Da Gino, hinter sich gelassen hatten, jenes Gefühl wurde noch verstärkt durch die Ankunft in der Grundschule.

Dabei war die Klasse nicht einmal unfreundlich gewesen. Neugierig war sie halt, aber das war wohl normal. Aber es war eben nicht ihre Klasse. Hier fehlte nicht nur das vokalreiche Gebrabbel der Italiener, hier fehlte Giovanna vor allem das Gefühl, dazuzugehören. Sie konnte sich nicht wie in Rom eingliedern in das kunterbunte, aber doch ausgewogene Gemisch verschiedener Nationen, die sich bei allen erlernten Gemeinsamkeiten eben doch in manchen Dingen unterschieden – den Frühstücksgewohnheiten etwa: Die Deutschen frühstückten, die Italiener nicht. In München gab es nur eine Mehrheit und eine Minderheit. Es gab die, die hier zu Hause waren. Und dann gab es noch sie und ihre Schwester.

Die paar wenigen Ausländer, die in diesem Stadtteil auf die Grundschule gingen, besuchten ausgerechnet eine der anderen Klassen, aber in der Vierten, in die sie beide geraten waren, waren sie »die Anderen«, waren sie »die Italienerinnen«. Ganz egal, wie gut ihr Deutsch war, mit ihrem Papà geübt, seitdem sie die ersten Laute gebrabbelt hatten, ganz egal auch, dass ihre Münchner Großmutter sie ebenso regelmäßig pünktlich um 19 Uhr zum Abendessen rief, wie es vermutlich in all den anderen Familien auch der Fall war. Sie würden niemals dazugehören, glaubte sie. Und, nein, merda, will ich auch gar nicht.

Irgendwie schien es der neunjährigen Giovanna, als mache sie das Attribut »italienisch« nicht nur zu einem exotischen Tier, das man ungehindert begaffen durfte, sondern auch zu einer Art minderbemitteltem Wesen. Als wären sie nicht nur fremd, sondern auch doof. Oder was sollte das? Einfache Worte, Verben im Infinitiv. Als sei sie ein Kleinkind und schwer von Begriff. »Ich bin doch nicht zwei Jahre alt«, hatte sie nach dem dritten Schultag zu Antonella gesagt, als sie einmal mehr nach dem letzten Gong im Laufschritt das Klassenzimmer verlassen hatten, um möglichst nicht angesprochen zu werden. Um bloß nichts erklären zu müssen. Antonella hatte nur genickt und war weiter schweigend neben ihr her gestiefelt, die Hände in den Jackentaschen versenkt. Sie schwieg jetzt meistens, und Giovanna war dabei, sich daran zu gewöhnen. Immerhin hatte ihre Schwester noch nie viel gesagt, was Giovanna grundsätzlich ganz gelegen kam, die locker »für zwei redete«, wie ihre Münchner Großmutter nicht unfreundlich, aber mit offensichtlichem Erstaunen festgestellt hatte, kaum, dass sie in München aus Papàs Fiat gestiegen waren. Dabei hatte Giovanna nur Antonellas Stille überspielen wollen und ihre eigene Angst vor dem, was nun in ihrem neuen Leben auf sie zukommen würde.

Was Susanne, die nun vor ihr stand, genau erzählt hatte, war nicht bis in Giovannas Bewusstsein gedrungen – überlagert von den Erinnerungen, die sie immer von einem Augenblick auf den anderen überfielen und gegen die sie nichts tun konnte.

Dann aber machte Susanne einen Fehler. Sie trat in einem seltsamen Anfall unangemessener Vertraulichkeit nahe an Giovanna heran und nahm sie am Arm. Eine Berührung, die Giovanna augenblicklich in die Gegenwart holte. Mit einem heftigen Ruck entzog sie sich des Griffs und trat einen Schritt zurück. Vielleicht war Susanne ja nicht eine der Gescheitesten – sogar »wahnsinnig dämlich«, wie Marie später einmal über sie sagen würde. Sie rückte Giovanna nach und setzte die Frage wie ein Banner vor sich hin: »Und was sagst du jetzt?«

Giovanna sah sich Hilfe suchend nach ihrer Schwester um, wobei sie wusste, dass aus dieser Richtung nicht viel Hilfe zu erwarten war, dann musste sie ihren Blick aber wieder auf Susanne richten, die mit dem rechten Zeigefinger vor ihrem Gesicht herumwedelte. »Du nix capito?«, fragte sie dann. Gelächter von ihrer Gefolgschaft.

Giovanna trat einen Schritt zurück. Sie schaffte es, alle Verachtung, derer sie fähig war, in ihre Stimme zu legen, und sagte: »Ich weiß, dass du keinen Affen hast.« Und wieder kam ihr der bronzene Gibbon über der Bar von Gino in den Sinn. Als kleines Mädchen hatte sie gedacht, er würde ihr zuwinken, wenn sie aus dem Fenster im Gästezimmer über die Straße blickte. Sie dachte auch, er würde ihr auf die Schultern springen, wenn sie mit ihrem Vater unter dem Schriftzug am Eingang hindurchging und Papà schon in der Tür sein »Gino, un caffè« hinüber zur Theke rief, damals, als noch alles in Ordnung war. Dann hörte sie wieder in ihrem Innern das Krachen der Bombe, der Affe verschwand in dem schwarzen Loch, und sie fuhr zusammen.

»Aber natürlich, der Affe schläft in meinem Bett«, hörte sie wie durch eine Wattewand hindurch die Stimme Susannes.

Im nächsten Moment brüllte sie dem Mädchen ins Gesicht. »Lass mich mit deinem verdammten Affen in Ruhe!« Und bevor sie noch wusste, was sie tat, und bevor noch Antonella, die neben sie getreten war und ihr durch ihre Anwesenheit schweigend sekundierte, in den Arm fallen konnte, holte Giovanna aus und schlug Susanne mitten ins Gesicht.

Es gab einen schier ungeheuren, klatschenden Knall. Und einen Aufschrei aus den Kehlen von Susannes Jüngerinnen. Und einen zweiten Knall, als Susanne zurückschlug. Giovanna taumelte, fing sich wieder, und die Wut, die sie nicht erst in sich spürte, seit dieses unmögliche Mädchen aufgetaucht war, und die nun befeuert wurde von dem unmittelbaren Schmerz auf ihrer Wange, ließ sie erneut ausholen. Und schon landete ihre Handfläche wieder im Gesicht ihres Gegenübers. Noch mit der einen Hand an der Backe griff Susanne mit der anderen nach Giovanna. Die nahm ein Reißen in ihren Haaren wahr, sah den Boden auf sich zurasen, spürte den harten Asphalt, als sie aufschlug, und ahnte mehr, als dass sie hörte, Antonellas Schreien. Im nächsten Moment registrierte sie ein Gewicht auf ihrem Bauch. Susanne saß nun rittlings auf ihr und prügelte auf sie ein. Giovanna konnte nur noch die Arme vors Gesicht halten, um sich zu schützen. Dann, ganz plötzlich, hörten die Schläge auf. Mit einem Ruck war das Gesicht verschwunden, jemand musste Susanne weggerissen haben. Hände griffen um Giovannas Schultern und halfen ihr, wieder auf die Beine zu kommen, während sie das Klappern schneller Schritte auf dem Asphalt vernahm, die sich näherten, dazu die für ihren Beruf so praktische, weil alles durchdringende Stimme der Klassenlehrerin.

Giovanna wusste kaum, wie ihr geschah. Was würde die Lehrerin mit ihr anstellen? Schließlich hatte sie den ersten Schlag getan. Im gleichen Moment wurde sie nach hinten geschoben; das Mädchen, das sich Marie nannte, stellte sich vor sie und sorgte dafür, dass Giovanna in ihrem Windschatten blieb, indem sie sie am Handgelenk festhielt.

»Was ist hier los?« Frau Taumanns Stimme ließ Giovanna zusammenzucken. Im nächsten Augenblick würde Susanne sie beschuldigen. Sie sah das Mädchen schon den Mund öffnen, ihn dann aber unvermittelt und mit schmerzverzerrtem Ausdruck im Gesicht wieder schließen. Giovanna lugte an Marie vorbei und erkannte, dass Susanne einen Fuß in die Höhe hielt, als wäre sie in einen Hundehaufen gestiegen, während Elli, die neben ihr stand, ein zufriedenes Gesicht aufgesetzt hatte. Susanne sagte noch immer nichts, als Frau Taumann erneut nach dem Anlass des Streits fragte, der hier ganz offensichtlich eben noch getobt hatte. Dabei versuchte die Lehrerin, Giovanna in den Blick zu nehmen, die noch immer hinter Marie stand und eben beschlossen hatte, dort auch zu bleiben. Frau Taumann schaute noch einmal missbilligend in die Runde, dann zuckte sie mit den Schultern: »Wenn keiner hier etwas sagen will, dann war auch nichts«, konstatierte sie und wandte sich zum Gehen, um sich nach zwei Schritten noch einmal umzudrehen und warnend hinzuzufügen: »Beim nächsten Mal, wenn nichts war, gibt es doppelte Hausaufgaben für alle.« Dann wandte sie sich ab und eilte über den Schulhof davon.

Mit einem Raunen löste sich das angespannte Schweigen der Mädchen. Giovanna spürte das Flüstern ihrer Schwester im Ohr: »Geht’s dir gut?« Sie nickte, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war und ihren Hintern betastete, auf dem sie so unsanft gelandet war. Antonella schickte sich an, ihr ein paar wirre Haare aus dem Gesicht zu streifen, als sich Marie zu ihr umdrehte und sie ansah.

Giovanna blickte in zwei sehr grüne, sehr große und sehr ehrliche Augen, in deren Tiefe die Antwort auf eine ungelöste Frage zu schlummern schien. Marie lächelte und nickte ihr zu. Sonst nichts. Und das war der Moment, in dem die beiden fremden Mädchen einen Pakt miteinander schlossen. Giovanna erwiderte das Nicken, und damit war es erledigt. Die Sache mit Susanne klärte Elli. Außer ihr war nur eines der Mädchen, die Susanne zuvor gefolgt waren, dageblieben und tätschelte der Angeberin jetzt die Wange. Susanne wischte die fremde Hand unwillig zur Seite, während sie unverwandt zu Giovanna hinüberstarrte und den Eindruck eines riesigen Dobermanns machte, der gleich in die zweite Runde des Kampfes einsteigen wollte. Da packte Elli sie am Arm und schob Susanne zu Giovanna und Marie herüber.

Elli, groß, blond, stämmig und schon als Zehnjährige mit spürbarer Autorität ausgestattet, ließ keinen Raum für weitere Streitereien, sondern erklärte ohne Umschweife: »Ihr müsst euch entschuldigen, beide.« Sie sah erst Giovanna an, dann Susanne. »Jetzt gleich«, setzte Elli hinzu. Giovanna konnte Susanne ihren Unwillen kaum verdenken, trotz der Prügel, die sie selbst bezogen hatte. Also biss sie die Zähne zusammen und machte einen Schritt auf ihre Gegnerin zu. »Entschuldigung«, presste sie zwischen fast geschlossenen Lippen heraus, und Susanne neigte gnädig den Kopf. Für den Moment konnte Giovanna nicht mehr erwarten. Später erzählte ihr Elli in blumigen Worten, wie sie Susanne mehrmals auf den Fuß gestiegen war, um sie davon abzuhalten, Giovanna zu verraten. Und so wie ihr Tritt hatte auch Ellis Wort Gewicht, sogar bei denen, die sie nicht mochten. Susanne verzichtete zwar auf eine Entschuldigung, aber auch auf weitere Feindseligkeiten. Sie machte auf den Hacken kehrt und suchte mitsamt ihrer Freundin das Weite.

Elli und Marie aber blieben bei Giovanna und ihrer Schwester stehen. Sie schüttelten sich die Hände und schlossen eine Freundschaft fürs Leben. Gemeinsam liefen sie anschließend über den Hof zurück zur Schule, so wie sie es in all den Jahren danach halten sollten, und Giovanna konnte sich schon nach wenigen Tagen fast gar nicht mehr vorstellen, dass es für sie und Antonella eine Zeit ohne diese neuen Freundinnen gegeben hatte.

Schon eigenartig, dachte sie jetzt, während sie weiter ihre Hand im warmen Fahrtwind schwimmen ließ, schon eigenartig, dass sie einen solch langen Weg miteinander gegangen waren. So viel war passiert, so viel hatten sie miteinander durchgestanden, und jetzt sollte das alles keinen Wert mehr haben? So jedenfalls fühlte es sich an, wenn sie an Maries seltsamen Nichtabschied dachte. Hatte sie es verdient, einfach stehen gelassen zu werden – wie sie es selbst gerne mit abgelegten Liebhabern tat? Vielleicht war das die gerechte Strafe für sie, die so viele Herzen gebrochen hatte auf ihrem Weg, und die Männer meist mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Ekel abserviert hatte. Bei den meisten war sie einfach gegangen, ein paar wenige gab es, denen sie erklärt hatte, warum sie das tat. Aber ihre Freundschaft mit Elli und Marie, das war doch etwas ganz anderes, oder nicht? Oder hatte sie unbewusst Dinge getan, die Marie gekränkt hatten?

Sie löste ihren Blick von der vorbeigleitenden Landschaft und sah zu Elli hinüber, die höchst konzentriert auf die Straße vor ihnen blickte. Sie näherten sich Porto Recanati, wo sie auf die Adria-Autobahn einbiegen und ein Stückchen Richtung Süden fahren mussten, bevor sie hinter San Benedetto del Tronto die Küstenautobahn in Richtung der Berge wieder verlassen würden. Elli bemerkte, dass Giovanna sie ansah. »Kannst du mal ins Navi schauen, wie lange es noch ist, bis wir auf die Autobahn müssen?«, bat sie, und Giovanna beugte sich vor, um sich die Karte zu vergrößern.

»Ein paar Kilometer sind’s schon noch, dann müssen wir rechts ab. Ich sag dir Bescheid«, erklärte sie. Dann sagte sie unvermittelt: »Ich hab gerade an Susanne gedacht.« Elli stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus.

»Susanne«, brachte sie dann im Ton größtmöglicher Geringschätzung hervor. »Ob sie noch immer ihre Lügengeschichten erzählt?«

»Na ja, vielleicht ist sie ja doch ein bisschen schlauer geworden«, entgegnete Giovanna. »Hast du eigentlich mit ihr geredet, damals auf der Hochzeit von Ines?«

»Bist du irre? Ich bin der Kuh immer aus dem Weg gegangen, wenn ich nicht gerade eine künftige Freundin aus ihren Klauen retten musste.« Elli schmunzelte, und Giovanna wusste, dass sie ihr die blöde Bemerkung von vorhin verziehen hatte. Das machte ihr genug Mut, den nächsten Schritt zu tun.

»Die Hochzeit damals, diese dumme Geschichte mit Marc … Meinst du, Marie war deswegen doch viel ärgerlicher, als sie zugegeben hat?«

Elli sah kurz zu ihr hinüber. »Weil seither Funkstille zwischen euch ist?«, fragte sie dann.

»Na ja, Funkstille nicht ganz, nicht genau seit der Hochzeit. Aber ich habe sie tatsächlich seitdem nicht mehr gesehen.«

»So lang schon nicht?« Elli schien ehrlich überrascht. »Aber sie hatte doch eigentlich keinen Grund, auf dich sauer zu sein, oder? Du hast ihn doch nicht ermutigt.«

»Du warst doch dabei!« Giovanna wollte sich schon aufregen – konnte es sein, dass Elli sie tatsächlich verdächtigte? Sie riss sich aber sofort zusammen und sagte: »Natürlich nicht. Also von mir ist da gar nichts ausgegangen. Der Typ war doch völlig betrunken!« Dieser schreckliche Langweiler, dachte sie, der nur über Wahlumfragen und Kandidaturen sprechen konnte. Der sich schon für den nächsten Bundeskanzler hielt und doch nicht mehr war als irgendein Stellvertreter von irgendeinem SPD-Bezirksheini.

Selbst ohne den Zwischenfall mit Marc war die Hochzeit von Ines schon eine einzige Katastrophe gewesen. Die Gäste waren in bunter Reihe an langen Tischen rund um die Tanzfläche platziert worden. Zwischen Vorspeise, Hauptspeise und Dessert gab es kaum eine Gelegenheit, sich von dem zugewiesenen Platz zu entfernen. Ines, die ehemalige Klassenkameradin der Freundinnen, hatte ihren Steuerberater geheiratet. »Das kann ja was werden«, hatte Marie gescherzt, »wahrscheinlich können sie das Hochzeitsmenu von der Steuer absetzen.« Vergnügungssteuerpflichtig jedenfalls fanden die Freundinnen die Veranstaltung nicht. Elli hatte einen langweiligen Kollegen des Bräutigams als Sitznachbarn zu ihrer Rechten zugewiesen bekommen, einen schwerhörigen Verwandten der Braut zu ihrer Linken, Marie dagegen war eingepfercht zwischen den zwei Hälften eines schwulen Pärchens, die sich unablässig vor ihrer Nase Liebesbeteuerungen zukommen ließen, während Giovanna ausgerechnet neben Marc saß. Nachdem der in Windeseile Alkohol für drei in sich hineingeschüttet hatte, entwickelte er ein ungewöhnliches Interesse an seiner Tischdame. Giovanna war mit dem hanseatischen Hünen noch nie warm geworden, der trotz seiner damals 40 Jahre die Attitüde eines großen Jungen nicht ablegen wollte. Dass er den ein oder anderen Korn kippen konnte, das wusste sie, aber so besoffen wie an diesem Abend hatte sie ihn noch nie erlebt. Und so erduldete sie, dass aus seiner kumpelhaften Vertraulichkeit eine aufdringliche Übergriffigkeit wurde, der sie sich kaum entziehen konnte, ohne unhöflich zu werden.

»Ich habe nur gesehen, dass er auf dich eingeredet hat«, erklärte Elli, »aber ihr habt euch doch noch nie verstanden.«

»Haben wir auch nicht. Er hat ja vorher immer durch mich hindurchgeschaut. An dem Abend war das plötzlich anders.«

»Du hast einfach umwerfend gut ausgesehen in deinem dunklen Kleid«, warf Elli ein, »viel zu heiß für so ein Nordlicht.«

»Aber Elli, er kannte mich schon eine Ewigkeit. Ich dachte, bei ihm laufe ich unterm Radar. Und dann fängt er an, mich anzutatschen wie irgendein Flittchen.«

»Vielleicht hättest du ihm eine schmieren sollen. So wie damals diesem Widerling auf dem Frühlingsfest, weißt du noch?« Elli grinste bei der Erinnerung. »Das war echt irre!«

»Ja, vor allem, weil seine Freundin mich dann beschimpft hat. Er macht mich an, und ich soll am Ende schuld sein. Aber der hab ich’s gegeben. Die legt sich mit keiner Italienerin mehr an.« Jetzt musste auch Giovanna grinsen, wurde dann aber gleich wieder ernst. »Aber bei Marc war das was anderes. Stell dir doch mal vor, ich hätte ihm wirklich eine runtergehauen! Was das für ein Skandal gewesen wäre! Auf dieser Spießerhochzeit! Gott bewahre!«

»Aber vielleicht hättest du dann jetzt weniger Probleme«, sagte Elli. Und Giovanna wurde sofort aufmerksam. »Also glaubst du doch, dass Marie mir das übel genommen hat?«

Elli hob abwehrend eine Hand. »Giò, ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Aber sie ist verschwunden und hat Marc dagelassen. Begeistert war sie bestimmt nicht.«

Giovanna nickte. Sie war durch den ganzen Gasthof gelaufen, um Marie zu suchen, nachdem die sie auch noch mit Marc draußen im Garten gesehen hatte. Giovanna hatte kaum das Ende der Nachspeise abgewartet, um Marcs Annäherungsversuchen zu entfliehen, sie war aufgesprungen, in den Garten hinausgerannt und hatte sich zwischen sauber gestutzten Thuja-Skulpturen auf eine Bank gesetzt. Doch Marc war ihr schwankend nachgelaufen und ihr um den Hals gefallen, ausgerechnet in dem Augenblick, in dem Marie ebenfalls in den Garten gekommen war. Marc hatte sie nicht bemerkt, war viel zu sehr damit beschäftigt, im Rausch mit seinen großen Händen Giovannas Formen zu erforschen, doch Giovanna, die sich heftig mühte, den schweren Kerl von sich zu schieben, sah sie. Und sie sah auch, wie Marie verschwand.

Bei der Erinnerung daran schlug sie die Hände vors Gesicht. »Was für eine Vollkatastrophe. Ich hätte ihm doch eine wischen sollen. Um von Anfang an alles klarzustellen. Wann hast du dann mit ihr gesprochen, Elli?«

»Am nächsten Tag. Sie hat gesagt, sie hätte plötzlich Kopfschmerzen bekommen.«

»Und dann fährt sie einfach? Ohne Marc? Das stimmt doch nicht.«

»Von Marc hat sie keinen Ton gesagt. Aber du hast doch auch noch mit ihr gesprochen, oder?«

»Ja, hab ich.« Giovanna nickte. »Ich hab sie auch gleich am nächsten Tag angerufen. Sie hat behauptet, alles sei in Ordnung.«

Elli wog nachdenklich den Kopf. »Vielleicht war der Abend für sie nur die Bestätigung, dass Marc ein Riesenwiderling ist, ich schätze, sie war vor allem auf ihn sauer. Und du warst in diesem Gesamtpaket irgendwie mit drin. Aber du kennst sie doch, wenn sie dir die Schuld gegeben hätte, dann hättest du was zu hören bekommen.«

»Ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht. Ich hab das Gefühl …«, Giovanna zögerte, »ich kenne sie gar nicht mehr.«

Elli neigte nachdenklich den Kopf, sagte aber nichts.

»Ich meine, sie hat mir nicht mal was von ihrer Trennung erzählt. Ist doch schon komisch, oder nicht?«

»Vielleicht hättest du bei eurem Telefonat von dir aus das mit Marc ansprechen sollen«, warf Elli ein.

»Ja, vielleicht, aber wie denn? Tut mir leid, aber dein Mann hat mich angemacht? Ernsthaft? Dann hätte sie entweder gedacht, dass ich wirklich etwas zu verbergen hätte, oder aber sie hätte mir übel genommen, dass ich ihn angeschwärzt habe.«

»Ich weiß nicht, ich meine, sie hat ja auch Augen im Kopf und konnte ihn beobachten, so wie ich auch«, stellte Elli fest.

»Ja, aber sie musste das Geschehen doch aus anderen Augen sehen. Ich meine, wie objektiv kannst du sein, wenn dein eigener Partner dabei ist, eine andere anzugeigen? Ich hatte einfach Angst, dass sie sein blödes Getue nicht von mir hätte trennen können und mich nie getraut, sie direkt darauf anzusprechen. Ich bin nicht du.« Elli hätte niemals gezögert, die Sache mit Marie sofort zu klären, das war Giovanna klar. Ehrlich, nüchtern und geradeheraus. So hätte sie es auch machen sollen, aber dazu war sie viel zu feige gewesen, so etwas konnte sie einfach nicht. Vielleicht lag darin das Problem.