31 | North Carolina, 15 Jahre alt

Durch den Asphalt ziehen sich Risse, aus denen winziges Unkraut sprießt. Das war mir nie zuvor aufgefallen, aber nun, da ich auf dem Bordstein vor dem Motel sitze, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, sehe ich sie überall. Eine geordnete Reihe Ameisen, vermutlich mit deutschen Vorfahren, marschiert auf einen Spalt zu.

»Bhajan …« Mom muss meinem Zickzackkurs von meinem Zimmer aus gefolgt sein und setzt sich nun zögerlich neben mich. Das allein zeigt schon ihre Verunsicherung. In meiner Familie setzt man sich nicht auf den Bordstein – das ist würdelos.

Ich verschränke die Arme. »Dann bin ich also keine Halbfranzösin.«

Perplex runzelt sie die Stirn. »Nein, ich bin eigentlich halbe Italienerin und halbe Luxemburgerin.«

»Du hast aber gesagt, du wärst Französin.«

»Ja, aber …«

»Diesen Teil deiner Lebensgeschichte habe ich immer gemocht!«

»Es tut mir leid, Liebling, mir war nicht klar …«

Mein gesamter Körper fühlt sich wie gelähmt an, aber ich zwinge mich nachzufragen: »Das heißt, wir sind in großen Schwierigkeiten, oder?«

»Na ja …«

»Du kannst ehrlich zu mir sein.« Ich sehe meiner Mutter in ihre verunsicherten Augen.

»Ja, Bhajan, das sind wir.« Sie scheint mich an der Schulter berühren zu wollen, überlegt es sich aber anders.

Ich atme ein, atme aus und nicke. Die ganze Zeit über war ich davon ausgegangen, dass Interpol uns aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen sucht. Aber mein Vater hat seinen Investoren Millionen von Dollar gestohlen. Gleichzeitig hat er das getan, weil er Geld brauchte, um seine Familie vor unserem Großvater zu beschützen.

»Du nimmst das ziemlich gefasst auf«, bemerkt Mom.

Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen, als sich meine Ironie gegen meine Vernunft durchsetzt.

»Mom, inzwischen bin ich so weit, wenn ihr mir sagen würdet, ich hieße ab sofort Fukiyama Nagasaki und wir zögen nach Tokio, um dort ein Geschäft für Einräder aufzumachen, würde ich denken: Okay, wann gehts los?«

Anstatt zu lachen, verzieht sie das Gesicht. »Ich war eine schlechte Mutter.«

»Das würde ich nicht sagen«, sage ich seufzend, während Zorn und Mitgefühl in mir miteinander ringen. »Zumindest bin ich anpassungsfähig.«

Sie knetet ihre Hände. »Ich habe immer versucht, das Richtige zu tun. Ich …«

Wie ich sie so aus dem Augenwinkel dabei beobachte, fährt mir ein so heftiger Schmerz in die Brust, dass ich aufstehe. »Tja, entweder wir ziehen weiter oder wir züchten Hühner, nicht wahr?«, grinse ich und verberge meine Sehnsucht danach, dass alles wieder wird wie früher. Wir zusammen, staubbedeckt in Kaschmir. Aber diese Zeit kommt nie mehr zurück. Alles, was uns bleibt, ist der Versuch zu überleben. Und wenn ich mir anschaue, wie sie mit hängenden Schultern dasitzt, beschleicht mich das verstörende Gefühl, dass es von einer 15-Jährigen abhängen wird, die mit Schorf am Knie auf einem Motelparkplatz steht.

Es ist Spätsommer. Wir sind wieder unterwegs und halten nur zum Tanken an Autobahnraststätten, deren Neonschilder müde Lkw-Fahrer mit ihrem Versprechen nach Kaffee anlocken. Ich sehe meinem Vater zu, wie er auf dem Vordersitz Geldscheine abzählt. Der Millionendieb. Ich atme flach, in der Luft liegt eine schwache Benzinnote, ein Geruch, den ich normalerweise mag. Aber ich bin innerlich unruhig. Schwungvoll steigt er aus, schraubt den Tankdeckel auf und steckt die Zapfpistole in unseren ermatteten Mietwagen, als mir auffällt, dass ich ihn zwar mein ganzes Leben lang gesehen habe, wie er Geld sortiert, aber noch nie, wie er es zählt. Die Anzeige stoppt bei zehn Dollar. Er hat nicht einmal vollgetankt.

Unser Auto steht als einziges vor dem Selfstorage-Lager, rebellisch quer über die gelben Linien geparkt. Wir laden die restlichen Taschen aus, die mit einem trägen Plumps auf dem Asphalt landen. Von nun an reisen wir leicht: jeder mit nur einem Koffer. An die Motorhaube gelehnt, starre ich zum dunkler werdenden Horizont und höre, wie sie unsere letzten Taschen wegkarren.

»Fertig?« Dad ist zurück und steht nun mit bis auf den Autoschlüssel leeren Händen vor mir.

Allmählich kehre ich widerwillig in die Wirklichkeit zurück und schaue zu Mom rüber, die unsere Koffer in das Betongrab im Erdgeschoss stapelt.

»Gehen wir.« Er bedeutet mir, auf der Beifahrerseite einzusteigen.

»Sie muss noch zuschließen.« Ich rolle den Kopf umher gegen meine Nackenverspannungen.

»Wir lassen sie hier.«

Ich halte abrupt inne.

»Was?«

»Steig ein. Sie ist nur noch eine Belastung für uns. Du bist alt genug, du brauchst sie nicht mehr.«

Ich versuche, seinen Gesichtsausdruck zu deuten, der so sachlich ist, als würden wir überlegen, was es zum Abendessen gibt. »Du machst Witze, oder?« Ein mulmiges Lächeln erscheint auf meinem Gesicht.

»Hör auf, so verweichlicht zu sein. Ihr liegt nichts an dir, sie ist viel zu sehr mit ihrem Nervenzusammenbruch beschäftigt. Ich meine es ernst.«

»Ihr liegt sehr wohl was an mir, sie …«

»Weißt du, was sie mir geantwortet hat, als ich ihr sagte, sie müsse sich zusammenreißen und dir eine gute Mutter sein? ›Bhajan braucht jemanden wie mich überhaupt nicht. Sie ist stark genug.‹«

Das trifft mich wie ein Schlag.

»Also, was willst du sein, Harbhajan, schwach oder stark? Du musst dich entscheiden.«

Als Frank mich das eine Mal am Telefon stark genannt hatte, war ich geschmeichelt. Doch als ich es nun erneut höre, erkenne ich, was sich in Wahrheit dahinter verbirgt. Kein Kompliment und auch keine Feststellung, sondern eine Ausrede. Damit man es mir überlassen kann, allein zurechtzukommen. Ich bin nie zusammengebrochen, weil ich dachte, noch mehr Stress würden sie nicht aushalten. Aber jetzt frage ich mich, ob meine Familie sich vielleicht deshalb keine Mühe mehr gibt, die Risse zu kitten, weil sie weiß, dass ich das übernehme.

Das Geräusch der Rolltür, die heruntergelassen wird, reißt mich aus meinen Gedanken. Sie hat uns in bestem Vertrauen den Rücken zugewandt.

»Steig ein«, fordert er mich auf.

»Nein«, sage ich zögerlich, irritiert darüber, dass ich das überhaupt erklären muss. »Sie ist meine Mutter.«

Ein unheimlicher, beinahe belustigter Ausdruck huscht über sein Gesicht, und er zuckt mit den Schultern. »Na gut.«

Während ich mich auf der Suche nach Halt auf der noch warmen Motorhaube abstütze, kann ich den Blick nicht von ihm abwenden. Ist das derselbe, herzensgute Mensch, der sich für eine Religion entschied, die sich der Wahrheit verpflichtet? Der seine Tochter nach den Werten benannte, nach denen er sein Leben auszurichten gedachte?

Nacheinander fallen die Autotüren hinter jedem von uns zu: Dad auf dem Fahrersitz, Mom auf dem Beifahrersitz, ich auf der Rückbank, mit einem Grund mehr, meine Klappe zu halten.

Es ist weg, das gesamte Geld. Wir sind pleite und leben nun gezwungenermaßen in unserem überfälligen Mietwagen auf einem Supermarktparkplatz. Zu dritt, plus Tigger, in einem fünfsitzigen Toyota, dessen Metallwände mich mit jedem Tag mehr einengen. Inzwischen sind es 16 Tage, dass ich mit meinen langen Beinen eingeklemmt auf der Rückbank schlafe und die Morgenstunden herbeisehne.

Wenn der Supermarkt morgens öffnet, marschiere ich hinein, um mich auf der Toilette etwas frisch zu machen, und schnuppere an mir. Ich rieche obdachlos. Den Blick in den Spiegel meidend, möchte ich mir am liebsten die Klamotten vom Leib reißen und mich so lang unter einer heißen Dusche abschrubben, bis meine Haut brennt und ich die letzten zwei Wochen den Abfluss hinuntergespült habe. Stattdessen beuge ich mich in meinem Tanktop vor und versuche, mich unter den Achseln zu waschen. Da reißt jemand die Tür auf, und eine Kundin kommt herein, die bei meinem Anblick so angewidert den Mund verzieht, dass ich schnell vom Waschbecken zurückweiche.

Wir sind zwar erst seit Kurzem obdachlos, aber ich spüre bereits diese innere Verzweiflung, von den Launen und dem Mitleid anderer Leute abhängig zu sein. Wird man uns die abgestandene Pizza geben, die sie normalerweise bei Ladenschluss wegwerfen würden? Wird man ein Auge zudrücken, obwohl wir mit unserem Wagen die ganze Nacht über auf dem Kundenparkplatz stehen? Oder werden wir alle paar Stunden vom Schein einer Taschenlampe aus dem Schlaf gerissen werden, die uns anweist weiterzufahren?

Meine Haut ist teigig, meine Wangen gerötet von dem Fieber, das ich nicht ganz loswerde. Moms Augen sind vor Übernächtigung geschwollen. Ich erkenne uns nicht wieder. Ich weiß, das klingt arrogant, und das ist es auch. Aber wie sind wir an diesem Punkt angelangt? Wir sind doch viel zu clever für so was. Wir haben sämtliche Behörden ausgetrickst. Wie hatte Dad so fahrlässig sein und über die Jahre nicht unser Budget im Blick haben können?

Im Vergleich zu den anderen Widrigkeiten war das doch eine Kleinigkeit. Es sind die kleinen Fehler, die einem das Genick brechen …

Nachts, wenn ich verschwitzt im stickigen Auto liege, denke ich an die maßgeschneiderten Smokings zurück, an die Luxuswagen, die wir bar bezahlten, unsere Anwesen, meine privaten Tanzstunden, und empfinde Frust und Schuld. Früher haben wir jeden Tag ausgekostet, und jetzt hängen wir auf Parkplätzen herum, leben von der Hand in den Mund und schlagen die Zeit tot. Mom und Dad überlegen derweil, wer uns noch helfen könnte – aber das ist das Problem, wenn man erfolgreich jahrzehntelang abtaucht. Man verärgert Menschen. Und irgendwann vergessen sie einen.

Das Einzige, was uns noch geblieben ist, sind zwei besondere goldene Schmuckstücke. Auch die müssen verkauft werden. Mom und Dad sind deshalb zu einem Goldhändler gefahren, aber ich kann das nicht mitansehen. Stattdessen überquere ich die Autobahn unter dem wütenden Gehupe der Autofahrer, bis ich, den Rucksack über eine Schulter geschwungen, vor einem eleganten Hotel stehe. Ich hole tief Luft und schlendere hinein. Die Rezeptionistin sieht hoch, doch ich gehe zielstrebig auf den Aufzug zu. Nachdem ich in Hotels aufgewachsen bin, hat sich mir ihr Grundriss eingebrannt.

Auf der Pooletage blicke ich nach links und nach rechts und ziehe dann rasch mein Sommerkleid aus, sodass ich nur Bikini und Sandalen trage. Die Glastür zum Poolbereich ist abgeschlossen, aber drinnen sehe ich ein Paar, das gemütlich umherschwimmt und gelegentlich anhält, um sich zu küssen. Perfekt.

Ich klopfe an die Tür, und als sie hochschauen, lächle ich entschuldigend und bedeute ihnen, ich hätte meinen Schlüssel vergessen. Sofort steigt er aus dem Becken und kommt herbei, eine tropfende Spur hinter sich herziehend, und hält mir höflich die Tür auf. Endlich. Aus meinem Rucksack nehme ich das Shampoo und schrubbe und schrubbe mich unter der brühend heißen Dusche, bis ich mich sauber und ermattet fühle. Dann ziehe ich auf der Toilette frische Shorts und ein Tanktop an, ehe ich mir auf dem Weg nach draußen noch zwei Kekse aus einem Konferenzraum mopse.

In der klimatisierten Luft des Einkaufszentrums gegenüber trocknen meine Haare nur langsam. Immerhin sind die Plätzchen eine Wohltat für meinen Magen. Aber ich bin stets auf der Hut. Während ich an den hell erleuchteten Geschäften vorbeibummle, bemerke ich, dass mich eine Frau bereits seit einer Weile beobachtet. Ob sie ein Bulle ist? Aber eigentlich kann niemand wissen, dass wir hier irgendwo in Carolina in der Klemme sitzen. Wahrscheinlich mustert sie mich nur, weil ich so sonderbar aussehe, langgliedrig und schlicht und ernst und nicht so aufgebrezelt und fröhlich wie andere Mädchen in meinem Alter. Die minimalistische Version eines Teenagers.

Die Frau, Mitte vierzig und komplett in Schwarz gekleidet, kommt zielstrebig auf mich zu, und ich erstarre. Meine Füße liebäugeln mit der Idee, das Weite zu suchen, als sie mich ansieht und sieben magische Worte sagt: »Hast du je darüber nachgedacht zu modeln?«

Ich stehe vor dem Geschäft des Goldhändlers und warte auf meine Eltern. Da höre ich Glöckchengebimmel und sehe vorsichtig von meinen Sneakern hoch. Mom und Dad wirken müde, verloren. Ihre Ehe – worauf auch immer sie gründete – ist bereits seit einer Weile kaputt, aber nun ist es unübersehbar: Ihre Hochzeitsringe – unsere letzten Goldstücke, bei deren Verkauf ich nicht hatte dabei sein wollen – liegen bereits in der Auslage hinter der schmutzigen Scheibe des Pfandhauses. Diese kurios verschlungenen Goldbänder mit den Nuggets, die sie gefunden hat, während ihr Lachen über dem Bach erschallte, so perlend wie kaltes Gebirgswasser …

In einer Dreierreihe vor dem Laden stehend, starren wir auf die Straße, auf der Müll herumliegt. Alles, was sie noch verbindet, sind Tragödien. Tragödien und ich. Ich gehe zu ihr, nehme meine Mutter in die Arme und spüre ihren bebenden Rücken. Doch gedanklich bin ich meilenweit entfernt. Denn als ich diese sieben Worte vernahm, sah ich nicht Glamour, Designerklamotten und Blitzlichtgewitter vor mir. Sondern einen winzigen Spalt der Hoffnung, der sich inmitten des Unmöglichen auftat. Hast du je darüber nachgedacht zu modeln? Endlich sehe ich eine Möglichkeit, wie ich uns aus dieser Misere rausholen kann.

32 | New York City, 16 Jahre alt

Die Leiterin der Abteilung »Neue Gesichter« bei Prima Models steht schwerfällig von ihrem Stuhl am Konferenztisch auf, während hinter ihr die Skyline von Manhattan zu sehen ist. Wir sitzen rings um den perfekt glänzenden Glastisch und beugen uns vor – neun Gesichter, die aus Tausenden herausgepickt worden sind, im Alter zwischen 14 und 17. Die neun Glücklichen.

Während ich ihre Miene betrachte, grübele ich darüber nach, wieso so oft wütende, verbitterte ältere Frauen die Vorgesetzten von jungen Frauen sind. Sie mustert uns, wie man einen liegen gebliebenen Fast-Food-Burger anschauen würde: mit einer gewissen Abscheu und in dem widerwilligen Wissen, dass man ihn dennoch verschlingen wird.

»Wenn es nur eine Sache gibt, die ihr von unserem heutigen Meeting mitnehmen solltet, dann das.«

Wir schauen erwartungsvoll zu ihr hoch.

»Uns«, sie hebt den Finger, »und allen anderen in dieser Stadt seid ihr völlig scheißegal.« Eine der 14-Jährigen zieht hörbar Luft ein. Ich spüre, wie sich meine Augen verengen, als die Leiterin zu einem weiteren Schlag ausholt. »Es gibt viele, die mit euch den Platz tauschen würden. Denkt immer daran: Die Welt ist voll von hübschen Mädchen, und ihr seid jederzeit ersetzbar.«

Rumpelnd verlässt der proppenvolle Bus New Jersey, wo sich mein billiges Motel befindet, und folgt der Beschilderung nach Manhattan. Die Augen mit grauem Kajal umrandet, sitze ich in meinem kurzen, ständig hochrutschenden Rock da und halte meinen neuen Personalausweis ins wärmende Sonnenlicht, um ihn sorgfältig zu inspizieren. Meine neue Identität als Bürgerin von North Carolina. Nicht schlecht für die dreißig Kröten, die ich dem schlaksigen Typen in dem Kopierladen dafür gezahlt habe. Man kann quer durch die Welt reisen, aber am Ende sind Copyshops einfach die Anlaufstelle Nummer eins. Eine Blitzlichtaufnahme mit seiner Kamera, und zum ersten Mal steht da neben meinem Foto der Name Cheryl Diamond. Neben denselben wachsamen Augen. Eine so billige Fälschung reicht gerade mal, um einen Pförtner auszutricksen, aber es wird mir den Zugang zu Castings eröffnen, und das ist alles, was ich brauche.

Meine Eltern haben mir ihr allerletztes Bargeld, dreihundert Dollar, gegeben, um damit mein Glück zu versuchen.

Ich will gar nicht daran denken, wie meine Eltern ohne einen Penny in North Carolina zurückgeblieben sind, wo Dad einen zwielichtigen Deal aushandeln wollte. Ich habe aufgehört, mir seine Kleinbetrügertricks erklären zu lassen, weil es mich mit Scham erfüllt mitanzusehen, wie tief er gesunken ist.

Er war wie gemacht für den Wilden Westen der Achtziger- und Neunzigerjahre, als man noch weit kam, solang man eine unkonventionelle Idee und das nötige Selbstvertrauen hatte, um Leute davon zu überzeugen. Aber heute, angesichts von gut informierten Anlegern und computergestützten Hintergrundchecks, sind seine Pläne zum Scheitern verurteilt. Ich weiß es einfach. Als meine Mutter so vehement wie seit Jahren nicht mehr versuchte, meinen Vater umzustimmen – weil sie nicht wollte, dass ich allein nach New York ging –, hielt ich mich raus. Denn es ist mir egal, ob sie recht damit hat, dass das Modelbusiness ein schmutziges Geschäft ist. Letztlich weiß ich, wenn die beiden sich ein Kräftemessen liefern, geht es garantiert zu ihren Ungunsten aus.

Nervös fummele ich am Ausweis herum und sage mir, dass es genau das ist, was ich wollte – einen Neuanfang. Eine Chance, genug Geld zu verdienen, damit wir in Sicherheit sind. Aber jedes Mal, wenn ich den Namen betrachte, den ich ausgewählt habe, denke ich an all die Dinge, die kaputtgegangen sind, als ich Crystal war. Keine Ahnung, ob ich schlechter im Verdrängen werde, aber gleich, wohin meine Gedanken wandern, sie kehren immer zurück … zu dem Moment, als ich meinen Bruder zum letzten Mal gesehen habe. Und immer und immer wieder frage ich mich: Was hätte ich anders machen können? Was hätte ich getan, wenn ich gewusst hätte, dass dies das letzte Mal sein würde, dass wir uns sehen?

Ich erinnere mich haargenau – diese scheinbar unendliche Sekunde. Ohio. Die jubelnde Menge, Vivaldi vom Band für die Kür, meine nackten Füße auf dem Beton. Frank und ich. Dieser Augenblick dehnt sich in meiner Erinnerung aus, bis er eher einem Tag gleicht, einem Tag, an dem ich beiseitetrat und andere für mich entscheiden ließ, weil ich Angst hatte, angeschrien zu werden, Angst, was die anderen Leute von mir denken würden. Ich sehe meinen Bruder immer noch vor mir, wie er traurig lächelte, ehe er sich umwandte. »Bis dann, Bhajan.«

Hinter den staubbedeckten Scheiben des Busses taucht allmählich die Skyline Manhattans auf, eine Herausforderung aus Glas und Stahl, und ich spüre ein elektrisierendes Kribbeln. Noch vor wenigen Jahren war er hier, in dieser Stadt, und hat genau das gemacht, was ich jetzt vorhabe. Ich bin sogar an der Agentur vorbeigelaufen, für die Frank gemodelt hat. Durch die schicken Glaswände im Erdgeschoss sah ich Agenten eifrig in ihre Headsets sprechen, und mein Blick suchte den Raum ab, in der Hoffnung, ihn zu entdecken.

Meine Hand schließt sich um den Personalausweis, und in diesem Moment gebe ich der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten ein Versprechen. Von nun an werde ich nicht mehr beiseitetreten. Von nun an werde ich nicht mehr zulassen, dass andere Entscheidungen für mich treffen.

Es ist erst ein paar Tage her, seit die Leiterin der Abteilung »Neue Gesichter« verkündete, wir seien dieser Stadt scheißegal, und so langsam erkenne ich, dass sie recht hat. Meine tägliche Casting-Routine ist ein konstantes treppauf, treppab, nur um immer wieder zu hören zu kriegen, ich sei nicht genug. Außenstehende, die uns Models sehen, wie wir mit ellenlangen Beinen, unsere Mappen unterm Arm, vorbeirauschen, denken wahrscheinlich, wir hätten es geschafft. Aber ich schaue mir all diese unfassbar hübschen Mädels an und weiß, sie sind genauso verzweifelt wie ich. Denn hinter jeder meiner Bewegungen, hinter jedem Lächeln, hinter all der zur Schau gestellten Lässigkeit verbirgt sich nackte Angst.

Offenbar bin ich immer irgendwie zu viel. Zu groß, zu klein, zu blond, nicht blond genug, zu dick, nicht lächeln, da siehst du zu jung aus, schau mal ernst, nein, nicht so, dadurch wirkst du älter. Es ist unmöglich herauszufinden, was ich ändern sollte oder was mir schon morgen zum Durchbruch verhelfen könnte. Alles, was ich weiß, ist, dass irgendetwas an mir, möglicherweise sogar alles, in ihren Augen eine Enttäuschung ist.

Aber wisst ihr was? Die werden es noch bereuen, so mit mir umgesprungen zu sein. Die werden noch an mich denken, sage ich mir in meinem Motelzimmer in New Jersey, während ich lauwarmes Wasser aus dem Hahn in meine Styropor-Instantnudel-Tasse gieße, und sich wünschen, sie wären netter zu mir gewesen. Mit einem Plastiklöffel versuche ich, den Ramen-Block auseinanderzuteilen. Aber keine Chance.

Tigger schaut zu mir hoch, und ich hebe eine Schulter und lächle schief. Keine Ahnung, wieso ich sogar meinem Kater etwas vormache und so tue, als sei alles in bester Ordnung. Als ob er erahnen könnte, dass die Miete morgen fällig ist und uns das Geld dafür fehlt und die Pförtnerin hinter dem Sicherheitsglas mir immer Blicke zuwirft, als würde sie uns nur zu gern vor die Tür setzen. Mom und Dad rufen jeden Abend an, und selbst vor ihnen bemühe ich mich, das Schlimmste zu verheimlichen. Sonst würden sie sofort herbeieilen, Geld ausgeben, das wir nicht haben, und diesen fragwürdigen Deal sausen lassen, den Dad angeleiert hat, wodurch wir nur noch mehr in der Patsche säßen.

Wenn also jemand für ein Casting anruft, lege ich vor dem Badezimmerspiegel Mascara auf und stelle mich unten an die Kreuzung gegenüber von den jungen Prostituierten. Und während ich auf meinen Bus in die Stadt warte, erstaunt es mich jedes Mal aufs Neue, wie wenig uns unterscheidet.

Wenn man mich in diesen hochschießenden Bürogebäuden mit steinerner Miene und harschen Worten, die mich sezieren, an- und auskleidet, denke ich an Tigger. Er ist das einzig durch und durch Gute in meinem Leben und hilft mir, den Tag durchzustehen. Innerlich zähle ich die Stunden, bis ich wieder in meinem schimmligen Motel bin und mich endlich an etwas Realem festhalten kann. Die Kritik der Castingagenten sollte mir eigentlich nach allem, was ich erlebt habe, nichts mehr anhaben, und doch tut sie es. Mindestens zweimal am Tag möchte ich in Tränen ausbrechen wie damals als Sechsjährige. Der einzige Unterschied, den die zehn Jahre dazwischen machen, ist, dass ich meine Kränkung inzwischen in Ehrgeiz umwandeln kann.

»Lauf für mich.« Meine Stilettos klackern, als ich über den Laufsteg gehe, wie man es mir beigebracht hat, und ich frage mich, ob man mir die Härte im Blick ansieht. Vielleicht ist es sogar das, wonach sie suchen. Herauszufinden, was die Designer und Herausgeber wollen, wird zusätzlich dadurch erschwert, dass sie es offenbar selbst nicht so genau wissen. Modeschöpfer sind schnell gelangweilt, werfen schneller alles über den Haufen, als man »Trend« sagen kann, und sind ohne konstante Starbucks-Zufuhr extrem launisch. Manchmal habe ich den Eindruck, die milliardenschwere Modeindustrie wird von Leuten geleitet, die das Nervenkostüm und Temperament eines Vierjährigen besitzen. Bis oben hin vollgepumpt mit Xanax, entscheiden sie darüber, wie fett sich die Bevölkerung in der nächsten Saison fühlen wird.

Aber dann kommt ein Casting wie dieses, hoch über Manhattan in einem atemberaubenden Atelier, und sobald ihr Blick auf mich fällt, buhle ich um ihre Aufmerksamkeit. Es ist erstaunlich, wie schnell man seine gute Erziehung vergisst, wenn man am Hungertuch nagt. Wie schnell all das Finstere und Gierige in mir hervorkommt. Ich schaue mich um und möchte die anderen Mädchen, diese wunderhübschen Mädchen, anschreien, sie sollen sofort gehen. Haut ab! Ich will das hier mehr, brauche das mehr als ihr. Ich brauche das Geld, gottverdammt. Die Anerkennung, die Chance, mich zu beweisen. Ich habe es mehr verdient. Ich werde bis zur Erschöpfung arbeiten. Gebt mir einfach den Job. Bitte.

Ich kriege ihn nicht. Minuten später gehe ich mit hängendem Kopf und stinkwütend auf mich selbst die 34th Street entlang. Offenbar mache ich irgendetwas falsch, vielleicht sind es meine gewellten Haare, oder ich bin nicht abgemagert genug … Bestimmt haben sie dieses nette osteuropäische Mädchen genommen mit ihrem bildschönen Gesicht und ihrem süßen schüchternen Lächeln. Diese Bitch.

Ich spüre, dass etwas nicht stimmt, noch ehe ich im Motel um die Ecke biege und meine Tür sperrangelweit offen stehen sehe. Der alte Drachen von Pförtnerin zerrt selbstzufrieden meinen Koffer aus dem Zimmer. Sie will etwas sagen, doch ich renne panisch an ihr vorbei, um unter dem Bett nachzusehen, und reiße die Tür zum Bad auf.

Nichts.

Tigger ist weg.

Ich stehe an der Straße. Vor diesem Moment hatte ich mich in meinen schlimmsten Albträumen immer gefürchtet: rausgeworfen zu werden und kein Geld für eine Übernachtung zu haben. Aber selbst in den Albträumen war er immer bei mir. Tigger musste ausgebüxt und ins Dickicht der Bäume hinter dem Motel entflohen sein, als die Pförtnerin hereingestapft kam. Offenbar hat er sich bei mir abgeschaut, Fremden niemals zu vertrauen.

Das Fieber setzt am nächsten Abend ein. Es steckt mir am Tag darauf in den Gliedern zusammen mit einer Steifheit, als ich in Journal Square auf dem harten Stuhl des Coffeeshops im Busbahnhof erwache. Vor mir auf dem Tisch steht mein fast leerer Becher mit kaltem Tee. Während ich allmählich zu Bewusstsein komme, versuche ich, die Lage zu erfassen. Mein Rucksack liegt noch immer auf meinem Schoß, der Träger fest um meinen Arm gewickelt. Gestern hatte ich meinen Koffer in einem billigen Selfstorage-Komplex an der Autobahn abgegeben und den ganzen Nachmittag lang nach Tigger gesucht. Wie zuletzt so vieles war das ein totaler Reinfall. Bereits seit zwei Tagen war der einzige sichere Ort, der mir einfiel, um die Nacht zu verbringen, hier unter den Neonlampen des Busbahnhof-Cafés gewesen. Lange Zeit sitze ich da und starre auf den Resopaltisch und in meinen Lipton-Tee, während mein fiebriges Hirn immer wieder das Versprechen wiederholt, das ich mir am ersten Tag selbst gegeben hatte: Hier wird sich alles ändern. Ich werde eine andere sein.

Dann stehe ich auf, spüre im Vorbeigehen die besorgten Blicke der Polizisten im Busbahnhof und trete hinaus in den verregneten Abend. Dies ist eine der schlimmsten Gegenden von New Jersey, und ich habe weder ein Dach überm Kopf noch genug Geld für ein Zimmer. Warme Regentropfen vermischt mit Luftfeuchtigkeit bilden eine glitschige Schicht auf meiner Haut. In den dunklen, von flackernden Neonschildern beleuchteten Ecken folgen mir die Blicke der Junkies, der Zuhälter. Versucht es ruhig, fordere ich sie mit jedem Schritt heraus. Versucht es ruhig.

Ich warte auf den Bus. Dieser setzt mich an dem kleinen Wäldchen direkt hinter dem Motel ab, wo ich mich durch die Büsche kämpfe, während meine regennasse Kleidung an meiner Haut klebt. »Tigger!« Ich wage mich weiter in die Dunkelheit, die nach Erde und Verwesung riecht, und schiebe Äste beiseite, die mich kratzen. »Tigger!!« Eine Stunde später glühe ich vor Fieber und muss anerkennen, wie aussichtslos mein Unterfangen ist. Es ist Tage her. Er könnte überall sein. Oder, noch wahrscheinlicher, bereits tot. Ein Schluchzen bleibt mir in der Kehle stecken, und ich möchte um mich schlagen, die Dunkelheit verfluchen und die Ungerechtigkeit von alledem.

Da höre ich Blätter rascheln, und mein Kopf schnellt hoffnungsvoll hoch.

Ein Eichhörnchen.

Während ich zusehe, wie es vorbeihüpft, wische ich mir grob übers Gesicht und gehe langsam denselben Weg querfeldein zurück. Wieder auf dem Gehweg schlappe ich in meinen Flipflops langsam den Hügel hinab, die Hände in den Taschen vergraben. In der Ferne erkenne ich die flackernden Lichter des Burgerladens und merke, wie schwach ich bin.

Ein Stück geradeaus sehe ich eine Prostituierte stehen; das einzige andere Mädchen hier an der Autobahn.

Miau.

Ich halte abrupt inne und wage kaum nachzusehen. Aus Angst, meine Hoffnung könnte bitter enttäuscht werden.

Miau, miau!

Tigger kommt, die linke Vorderpfote entlastend, durch die Büsche auf mich zugehinkt, eine auffällige Wunde quer über seiner weißen Nase. Ich sinke auf meine nackten Knie und strecke die Arme aus. Der Regen prasselt auf uns nieder, während wir auf dem Bordstein sitzen und er laut in meinem Schoß schnurrt. Ich lehne meine Stirn gegen seine, und Tigger stößt einen zufriedenen Seufzer aus. Eine Minute lang sitzen wir still da, bis mein Überlebensinstinkt erwacht. In einer Geschwindigkeit, die mich selbst überrascht, bin ich aufgesprungen und jogge den Hügel hinunter, Tigger fest im Arm. Ich spüre keine Müdigkeit mehr, keine Erschöpfung, nur noch den Willen, uns beide in Sicherheit zu bringen.

Schließlich stehen wir vor dem imposanten Tor des Selfstorage-Gebäudes. Der Wind peitscht mir ins Gesicht, während der Sturm immer heftiger wird. Ich tippe meinen Zahlencode in das Nummernfeld neben der Tür. Das rote Lämpchen leuchtet auf. Ich versuche es erneut mit zitternden Fingern und konzentriere mich auf jede Zahl. Komm schon, geh auf.

Nichts. Offenbar ist es defekt. Mit einem Blick in die Dunkelheit vergewissere ich mich, dass ich allein bin, stecke Tigger in meinen Rucksack und schiebe ihn durch die Gitterstäbe des Tores hindurch. Mit nassen Fingern umklammere ich das glitschige Metall und beginne hochzuklettern. Fast oben angekommen verliere ich den Halt, schaffe es aber, so lang vornüberzukippeln, bis die Schwerkraft ihr Übriges tut und ich auf der anderen Seite des Zaunes hinunter auf mein Steißbein falle. Nachdem ich mir den Rucksack mit Tigger geschnappt habe, renne ich wankend zum Gebäude.

Im Inneren der trockenen Dunkelheit hört man im Gang den Regen gegen die Scheiben peitschen. In unserem Lagerraum entkleide ich mich komplett und ziehe mir mit tropfenden Haaren einen trockenen Pulli und Shorts über. Noch immer zitternd setze ich mich auf den Betonboden und halte Tigger im Arm. Wir sind zerkratzt, bluten, sind krank, und die Handynummer meiner Eltern funktioniert nicht – wahrscheinlich ist ihr Guthaben alle. Natürlich habe ich Angst, natürlich habe ich keinen Plan, wie es weitergehen soll, aber immerhin habe ich Tigger wieder. Die Wärme seines Körpers an meiner Brust erfüllt mich mit einem irrationalen Glücksgefühl. Es ist noch nicht vorbei. Wir haben noch eine Chance.

33 | New York City, 17 Jahre alt

Sechs Monate später rumpelt unter mir ein Wirrwarr aus Bussen und Subways hinweg, als ich mich auf der Toilette des Port-Authority-Busbahnhofs gegen das Waschbecken lehne. Muss weitermachen, darf das Casting nicht verpassen. Ich schaue mich im Spiegel streng an. Konzentrier dich, Bhajan. Die Frau neben mir, offenkundig eine Drogenabhängige, wäscht sich sorgfältig die Hände. Inzwischen erkenne ich sogar, auf welchen Drogen jemand ist; eine ganz eigene Form von Bildung.

Zuletzt habe ich ein paar Aufträge an Land gezogen; keine landesweiten Werbekampagnen, aber genug, um für uns ein kleines Apartment in einer schäbigen Gegend von New Jersey zu mieten. Jeden Morgen wache ich neben Tigger auf, der an meine Wange geschmiegt schläft. Die Doppelmatratze auf dem Boden ist das einzige Mobiliar, das ich gekauft habe, und wenn ich die Arme ausstrecke, berühre ich die Wände, aber für mich ist dieser Ort eine echte Oase. Ich werde es nie mehr für selbstverständlich halten, ein Zimmer zu haben, das ich abschließen kann.

Natürlich funktioniert die Heizung nicht, sodass wir unter einem Berg von Decken und meinem Wintermantel schlafen; aber mein abgemagertes Aussehen mit Wangenknochen, die so scharf hervortreten wie Messer, kommt bei den Designern offenbar gut an. Wie ein Model aus Moskau einmal seufzend bei einem Casting bemerkte: »Die wollen uns so ausgehungert wie möglich, ohne letztlich zu verhungern.«

Wie mir auffällt, werde ich meist dann gebucht, wenn sie ein Mädchen suchen, das unschuldig, vernachlässigt und unverdorben aussieht. Die Ironie des Ganzen würde mich zum Lachen bringen, wenn ich nicht diesen Husten hätte. Von einem erneuten Hustenanfall geschüttelt, klammere ich mich mit beiden Händen an den langen Waschtisch und spüre etwas merkwürdig Warmes im Mund. Als ich mich vorbeuge und ins Waschbecken spucke, schrecke ich zurück. Mein Blut sticht leuchtend rot in dem weißen Porzellanbecken hervor.

»Määääädchen, du spuckst ja Blut.« Die Frau neben mir schüttelt den Kopf. »Das is’ kein gutes Zeichen, das kann ich dir sag’n.«

Ich werfe ihr im Spiegel einen Blick zu und ertappe mich dabei, wie ich mit rot gefärbten Zähnen müde lächle. Wenn sich schon Cracksüchtige um dich Sorgen machen, dann weißt du, dass etwas schiefläuft.

Doch ich habe beschlossen, dass das Wichtigste ist, nach außen einen positiven Anschein zu wahren. Wenn meine Eltern anrufen, verheimliche ich, wie einsam ich bin, vor allem nun, da die Schaufenster festlich geschmückt sind und die Leute sich in der Stadt tummeln, um Weihnachtsgeschenke einzukaufen. Ich verachte diese glücklich lächelnden Familien mit ihren vollgestopften Einkaufstüten. Ehrlich gesagt kann ich gut darauf verzichten, dass man mir unter die Nase reibt, wie allein ich bin. Mir ist es lieber, wenn das nur irgendwo in meinem Hinterkopf abgespeichert ist, wo es tunlichst ignoriert wird; wie bei einem unehelichen Kind im 19. Jahrhundert, das niemand will.

Als der Frühling einkehrt, bin ich bereits mit allem bestens vertraut: der Einsamkeit. Der Stadt. Dem Laufsteg. Dem Hunger. Dass meine Eltern kommen, ist zunächst eine Erleichterung, doch schnell erinnere ich mich, was ich nicht vermisst habe: das furchtbare Gefühl, mitansehen zu müssen, wie mein Dad langsam den Willen meiner Mutter bricht, sie so kleinmacht, bis sie kaum noch spricht, nicht einmal mit mir. Ich ertappe mich dabei, wie ich jeden Morgen früher losgehe, um der erdrückenden Atmosphäre zu entkommen, während ich mich gleichzeitig danach sehne, zwischen ihnen ins Bett zu kriechen und alles ringsum zu vergessen.

Glücklicherweise wird meine Bronchitis mit den steigenden Temperaturen besser, aber ich zwinge mich, genauso dünn zu bleiben wie zu meinen kränksten Zeiten. Ich darf ihnen keinen Grund liefern, mich loswerden zu wollen. Die Leiterin der Agentur taucht hin und wieder unangekündigt mit einem Maßband auf, und sobald man einmal einen gewissen Taillenumfang erreicht hat, kann man nicht mehr zurück. Obwohl ich so viele Aufträge und so viel Geld habe wie nie, bin ich auch hungriger als je zuvor.

Tagsüber kommt Dad manchmal in die Stadt, um mich zwischen meinen Castings und Jobs moralisch aufzubauen, diese Trottel hätten eh keine Ahnung. Während ich neben ihm herlaufe, zieht er mit seinem Selbstbewusstsein alle Blicke auf sich. Plötzlich überfällt mich aus dem Nichts ein Schwindelanfall, und ich lehne mich gegen ein Wandgraffiti und warte ab, bis die Welt aufhört, sich zu drehen.

»Was ist los?«, fragt er besorgt und führt mich zu den Stufen vor einem Gebäude, wo ich mich mit zittrigen Knien hinsetze. »Mir kannst du es sagen.«

»Ich habe Hunger.« Das Gesicht in den Händen verborgen, beginne ich zu weinen.

Wir landen schließlich in einem kleinen Eck-Diner, wo wir nebeneinander in einer Nische sitzen, so wie früher bei unserem Sonntagsfrühstück. Das Gefühl von Verlust wird zusätzlich dadurch verstärkt, wie alt ich mich fühle. Vor mir steht ein großes Glas warme Milch und ein Stück Blaubeerkuchen, Dad hat den Arm um meine Schultern gelegt.

»Sag mir, was ich tun kann«, sagt er schlicht, und ich schaue mit Kloß im Hals weg. Es gibt so vieles, was ich bräuchte, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.

»Ich bin so erschöpft.«

»Du musst das alles nicht machen. Hör auf mit dem Modeln. Ich bring dich durch. Selbst wenn du beschließen solltest, den Rest deines Lebens nichts machen zu wollen.«

Zaghaft beginne ich abzubeißen, bis mir Blaubeeren am Gaumen kleben und mein hohler Bauch ein dankbares Grummeln von sich gibt. Seine Worte sollen mich beruhigen, und ich lasse mich beruhigen. Aber ich weiß, dass es nicht der Wahrheit entspricht. Aufhören war nie eine Option, jetzt erst recht nicht. Ich traue ihm nicht mehr zu, dass er imstande ist, uns da rauszuholen. Dennoch sehne ich mich nach seiner Zuversicht. Die Situation ist so vertrackt – die Schatten der Vergangenheit, die uns verfolgen, die absolut wasserdichten neuen Pässe, die wir benötigen: Wenn mein Vater in etwas gut ist, dann darin, Unterweltkontakte aufzuspüren, die uns helfen können. Ich brauche ihn. Ich muss nur Mittel und Wege finden, das Geld aufzutreiben.

Erneut befällt mich ein Gefühl verzweifelter Dringlichkeit, aber ich versuche, einfach den Moment festzuhalten. Genüsslich beginne ich, ein zweites Stück Kuchen zu essen, und schließe die Augen. Wenn ich mich gleich wieder der Welt stellen, um jeden Zentimeter kämpfen muss, werde ich von dieser Erinnerung zehren. Blaubeerkuchen mit Dad.

Da ich keine Ahnung habe, was ich machen soll, tue ich das, was die Agentur mir rät. Ich gehe zu jedem Casting, komme pünktlich zu jedem Job, und wenn der Arbeitstag endet, fängt der andere Aspekt meines Berufes an. Sehen und gesehen werden. Man weiß schließlich nie, wen man trifft. Wem man ins Auge fällt.

Eine Zeit lang irritiert es mich, dass es so schwer ist, tagsüber irgendwo reinzukommen, aber abends wird einem der rote Teppich ausgerollt. Mittags muss ich immer Geld für ein Sandwich einplanen, aber abends zahlen die exklusivsten Restaurants und Klubs sogar dafür, uns in ihre Lokale zu kriegen. Das Geschäft der Modelbeschaffer – Leute, die dafür bezahlt werden, mindestens eine Fünfergruppe von uns anzuschleppen – brummt. Die meisten Models kommen aus einfachen Verhältnissen, insofern ist es ganz angenehm. Es fühlt sich gut an, endlich so etwas wie Macht zu haben, in den Cadillac-SUV eines Modelbeschaffers zu hüpfen, die langen nackten Beine an die der anderen Mädchen gereiht, und überall reinzukommen – alle unter 18, mit kurzen Röcken, hohen Stilettos und einem Lächeln für den Türsteher auf den Lippen.

Erst als die Polizei bei den Partys mit Minderjährigen hart durchgreift, wird mir klar, welchen Part wir in dem Ganzen spielen. Was wirklich unsere Rolle ist, während wir hoffen, entdeckt zu werden.

In der Presse geben sich die Klubbetreiber daraufhin reumütig und versprechen, keine Teenager mehr hereinzulassen. Aber sie lassen uns immer noch rein, schleusen uns an der Schlange vorbei, durch den Hintereingang in den VIP-Bereich, und stellen uns kostenlosen Champagner bereit, kostenlosen Wodka, kostenloses alles. Denn wenn eine Tischreservierung in ihrem Klub Tausende Dollar kostet, müssen sie den reichen Männern schon etwas bieten. Ich war nur einmal in Sea World, aber das Prinzip ist dasselbe: Man braucht einen Köder, damit die Show läuft. Die mächtigsten Männer New Yorks waren der Orca, und wir waren die Sardellen.

Aber der heutige Abend wird anders. Meine Freundin Elena hat uns eine Einladung zu einer Dinnerparty organisiert, eine, zu der echte Branchengrößen kommen, nicht nur 16-jährige Models und Multimillionäre. Ich nenne sie zwar meine Freundin, aber in Wirklichkeit sind wir mehr Gelegenheitsverbündete. Als clevere Russin weiß sie, dass zwei Blondinen mehr Türen öffnen als eine allein.

Durch die Penthouse-Tür betrete ich ein Apartment, das aussieht wie aus einem Hochglanzmagazin. Alle im Raum sind selbstbewusst, in schickes asymmetrisches Schwarz gehüllt, und die meisten tragen Statement-Brillen, die nichts mit Kurzsichtigkeit zu tun haben. Der Einzige, der sich ganz natürlich im Raum bewegt, ist ein kleiner Junge mit blonden Locken, der ohne jede Scheu an den Erwachsenen vorbeischlüpft.

Elena begegnet meinem Blick und zwinkert mir unauffällig zu; sie hofft, ein paar Connections zu knüpfen, während ich noch versuche, nicht auf den Designerteppich zu treten. Aus irgendeinem Grund komme ich mit einem Typen in einem Fünftausend-Dollar-Anzug und seinem Freund ins Gespräch, der sämtliche Filme gesehen, aber nie ein Buch gelesen hat. »Willkommen in New York«, gluckst Nick, der Anzugträger, gutmütig. »Glaubt ja nicht, dass euer Leben hier so ein Zuckerschlecken wird, wie ihr es gewohnt seid, wo man einfach so lalala unbekümmert herumlaufen kann.«

Offenbar sehe ich so perplex aus, dass er fortfährt und sich immer weiter hineinsteigert.

»So lieb und unschuldig, wie du aussiehst, hast du bestimmt noch nicht viel erlebt. Tja, mach dich auf was gefasst, denn diese Stadt frisst dich bei lebendigem Leib.«

Da ist sie: die große verführerische Illusion über den Modelberuf. Angesichts all der Lichter, die auf einen gerichtet sind, meint man, man wird gesehen. Dabei ist man nur eine leere Leinwand für die Projektionen anderer.

Seine Worte werden zu einem Hintergrundrauschen, als mir ein Mann am anderen Ende des Raumes auffällt. Ein Mann mit starker Ausstrahlung, ruhigem Blick. Der niemandem gefallen will, sondern einfach er selbst ist. Ich fühle mich magisch angezogen.

Nick fragt mich, was ich später noch vorhabe. Das scheint eine typische New Yorker Technik zu sein: Zuerst kritisiert man jemanden, und dann lädt man ihn zu einem Drink ein. Ich würde ihm am liebsten eine reinhauen.

Ich flüchte nach draußen auf die verwaiste, windige Terrasse und lege die Hände auf die steinerne Brüstung. Als ich zurückblicke, kann ich Elena sehen, um die sich ein Halbkreis von Verehrern schart. Ich beuge mich über das Geländer und betrachte die sich dahinschlängelnden Lichter im Verkehr unter uns.

»Ich weiß genau, dass du die Unnahbare nur spielst«, ertönt eine Stimme in der Dunkelheit hinter mir. Jemand packt mich am Arm und reißt mich herum, und ich stehe Nick gegenüber. Noch ehe ich reagieren kann, presst sich sein Mund hart auf meinen. Ich kriege keine Luft und taumele rückwärts. Mein Körper ist gegen die Brüstung gedrückt, als ich den Halt wiederfinde und an ihm vorbei hineinlaufe, vorbei an allen Leuten, den Flur entlang. Meine Hand ertastet einen Türknauf, dreht ihn, und ich stolpere in ein Schlafzimmer.

Der selbstsichere Mann von vorhin, der inmitten der Partygäste meine Aufmerksamkeit erregt hatte, liegt gegen ein Kissen gelehnt und liest dem kleinen blonden Jungen ein Bilderbuch vor. Offenbar ist das sein Apartment, sein Sohn. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Er sieht hoch mit seinem gebräunten, gut aussehenden Gesicht, und einen Moment lang starren wir uns an. Dann bemerke ich, wie er mich mustert, und mir rutscht das Herz in die Hose. Er hat die Arme noch immer um den Jungen gelegt, wie um ihn vor mir, dem Mädchen mit kurzem Rock, hohen Stilettos und schwarz umrandeten, ehrgeizigen Augen, zu beschützen.

»Ähm«, stottere ich, »ich habe das Bad gesucht.«

»Letzte Tür links.«

Ich wanke auf meinen viel zu hohen Absätzen den Flur entlang und schließe die Badezimmertür hinter mir ab. Mit Flüssigseife wasche ich mir das Make-up ab, das vermengt mit Lavendelblasen den Abfluss hinuntergespült wird. Sofort sieht mein Gesicht jünger und weniger verführerisch aus. Klare Augen statt Smokey Eyes, Sommersprossen auf der Nase, der Pickel auf der Stirn nun gut sichtbar. Ich bin bloß ein Mädchen mit müden Augen und einer vom Handtuch rot gerubbelten Haut. Aber ich gefalle mir besser so.

In Flipflops, die Absatzschuhe in meiner Tasche verstaut, eile ich die Straße entlang. Vorbei an den mir inzwischen vertrauten Klubs im Meatpacking District, von denen aus dem Inneren ein leises Wummern dringt und deren Warteschlange draußen bis um den Block reicht. So viele Menschen, die über Stunden dieselbe Luft einatmen und sich insgeheim gegenseitig kritisch beäugen. Es ist die Hölle, und trotzdem stehen die Leute drei Stunden Schlange.

Ich dachte, wenn ich die Klubs links liegen lassen und zu den wirklich angesagten Partys gehen würde, würde ich dort besser hineinpassen. Aber es ist bloß eine andere Form von Klub. Ein Gefühl der Verzweiflung macht sich in mir breit und ist realer als irgendeines der vorbeiziehenden Lichter. Erst als ich in einem fast leeren Bus nach New Jersey sitze, verschleiern Tränen meinen Blick, und mir wird klar – das war mein erster Kuss.

Ich weine den gesamten endlosen Tunnel hindurch. Solang ich von einem Termin zum nächsten hetze oder im Scheinwerferlicht über den Laufsteg stolziere, fällt es mir leicht so zu tun, als wäre ich auf dem richtigen Weg. Aber hier, auf dem abgewetzten Sitz, kann ich die Realität nicht länger verleugnen. Es fühlt sich an, als würde ich für irgendetwas bestraft, weiß aber nicht, was ich verbrochen habe.

Der Bus schlängelt sich durch die wohlbekannten Straßen, und ich starre aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. Allmählich nimmt eine Erinnerung Gestalt an. Es ist sehr lange her, und doch steht es mir glasklar vor Augen … Ich bin noch klein und sitze mit Dad auf unserer Couch, während draußen vor den riesigen Fenstern die Sydney Opera in der Nacht leuchtet. Unsere Gesichter sind ins Licht der steigenden Börsenkurse auf dem Fernsehbildschirm getaucht, als ich ihn ängstlich frage, ob wir in Australien bleiben können, ob nicht alles so bleiben könne. 13 Jahre ist es her, dass er an seinem Tee nippte und erwiderte, gleich, wie sehr mich etwas ängstige, ich müsse immer kühn handeln. Vor 13 Jahren hatte er mir mitgegeben, aus welcher Position heraus man nie agieren darf.

Und doch hatte ich genau das getan. Ich hatte aus einer Position der Angst heraus agiert. Seit mehr als einem Jahr versuche ich, mich in die Modelwelt einzufügen, die Regeln anderer Leute zu befolgen – zu tun, was man mir sagt, in der Hoffnung, Anerkennung für meine harte Arbeit zu bekommen. Denk nach, Bhajan, befehle ich mir selbst. Tu, was man dir beigebracht hat. Lass los. Lass los und heb ab. Schweb so lang hoch, bis New York von oben aussieht wie eine Stadt aus Lego. Bis du es sehen kannst.

Denn wenn ich es nüchtern betrachte, bin ich nicht hübscher als die anderen Mädchen, die von der Agentur ausgewählt wurden. Die meisten überstrahlen mich wahrscheinlich sogar. Wieso sollte ich hier herumhängen und darauf warten, dass jemand Notiz von mir nimmt, genau wie alle anderen auch, in der Hoffnung, dass es bei mir besser funktioniert? Ich habe auf nur ein Pferd gesetzt: mein Aussehen. Und jetzt bin ich sauer, weil alle nur auf mein Aussehen achten.

Ich steige, noch immer zittrig auf den Beinen, aber mit getrockneten Tränen, aus dem Bus aus und denke stirnrunzelnd über eine Idee nach, die allmählich Form annimmt. In meiner Wohnung öffne ich das Fenster, um hinauszuklettern. Gemeinsam mit Tigger sitze ich auf einer umgeschlagenen Decke auf der rostigen Feuerleiter, das Gesicht gen Himmel gereckt, dorthin, wo Sterne zu sehen wären, wenn wir nicht inmitten der Stadt lebten. Mit eingefahrenen Krallen, um mich nicht zu kratzen, steigt Tigger auf meinen Schoß und rollt sich zusammen, damit ich meine Hand auf seinen weichen weißen Bauch legen kann.

Ich habe 17 Jahre gebraucht, um zu begreifen, woher diese Frustration rührt, dieses nagende Gefühl in mir. In Wirklichkeit hat es nichts damit zu tun, dass ich nicht reinpasse oder anders bin. Inzwischen habe ich mich damit angefreundet. Was mich wirklich aufregt, ist, dass niemandem auffällt, wie anders ich bin! Hier drückt man mir den Stempel jung und naiv auf, bin ich bloß eine Puppe, die man an- und auszieht. Aber sie täuschen sich – und zwar nicht nur, was mich betrifft, sondern auch, was die anderen Models, die ich bei den Castings getroffen habe, angeht. Wir sind Teenager, die ganz auf sich allein gestellt sind, in einer Stadt, die den meisten Erwachsenen Angst einjagt, und in einer Branche ohne jegliche Regeln. Keiner von uns hat eine Versicherung, ein festes Gehalt oder einen Plan B. Aber wir haben eine Geschichte, die es wert ist, gehört zu werden.

Nur hat sie bislang niemand erzählt. »Mir ist heute Abend eine Erleuchtung gekommen«, sage ich zu Tigger. Er gähnt, und ich muss lächeln, so niedlich ist er. »Ich meine es ernst«, sage ich und kitzele ihn hinter den Ohren, bis er sich windet. »Hör mir gut zu, denn von nun an werden wir uns ein neues Standbein aufbauen, du und ich.«

Es ist mitten in der Nacht, und unten aus der Eckkneipe wummert ein Rapsong, und ich frage mich, wie lange das wohl noch so weitergeht: Tigger, der mich schläfrig mit halb zugefallenen Augenlidern anschaut, während ich hinauf in die Dunkelheit blicke. Auf einer Feuerleiter vor mich hin träume.

34 | New York City, 21 Jahre alt

»Willkommen bei Good Morning America … Cheryl Diamond kam mit einem Traum nach New York, und innerhalb von nur sechs Jahren wurde sie zu einem der angesagtesten Models der Modebranche.«

Steht mein Bauch heraus?

»Nun ist ihr erstes Buch Model im Verlag Simon & Schuster erschienen.«

Ringsum Kameras; das Studio kommt mir viel zu groß vor für gerade mal zwei sich gegenüberstehende Sessel. Wahrscheinlich sollte ich mich überwältigt fühlen, aber alles wirkt surreal. Nachdem ich so lang relativ isoliert gelebt habe, ist es verwirrend, von so vielen Menschen, von so viel Trubel umgeben zu sein.

Es sind vier Jahre vergangen seit jenem Abend auf der Feuerleiter mit Tigger, vier Jahre ohne Partys, ohne Freunde. Ich denke an all die Nächte, in denen ich durchgeschrieben habe, an die vergeblichen Anrufe bei Literaturagenten, an all die Absagen. Keiner glaubte an mein Projekt. Keiner der Leute, die sich im Starbucks zwischen Fotoshootings und Castings über ihre Notebooks beugten und mich fragten, was ich so mache. Bis auf zwei Menschen. Obwohl wir ständig auf der Flucht waren und alles zurücklassen mussten, scheint sich eine Sache an meinen Eltern nie geändert zu haben. Sie glauben an mich. Mom tippte sämtliche meiner Tagebücher auf dem Computer ab, während ich weiterschrieb; Dad durchforstete derweil die Liste der besten Literaturagenten New Yorks.

In dem TV-Studio befällt mich ein Gefühl, als würde ich über allem schweben. Eine der Kameras schwenkt zu mir, und in diesem Augenblick setzt die Nervosität ein, kurz bevor es real wird. »Herzlich willkommen, Cheryl!«

»Danke.« Das Licht blendet mich, aber ich halte mir vor Augen, worum es hier geht. Alle schauen Models an, aber niemand schaut wirklich hin. Ich lächle über meine Nervosität hinweg, ein aufrichtiges Lächeln. Denn das hier tue ich für uns – für diejenigen, die die Stadt längst mit Haut und Haaren verschlungen haben sollte.

Nach dem Interview trete ich hinaus in den morgendlichen Berufsverkehr am Times Square und stakse unsicher in meinen High Heels, verängstigt von irgendetwas. Wieso passiert mir das immer? Jedes Mal, wenn die Kameras ausgehen, wenn ich einen Moment habe, in dem man mich nicht antreibt, kriecht ein tiefes Gefühl der Verunsicherung in mir hoch. Es kommt immer näher und ist der Grund, weshalb ich mich immer weiter fordere; ich werde die Dinge nicht wie mein Vater dem Zufall überlassen, sie für selbstverständlich halten. Wir benötigen Geld, wir benötigen Sicherheit. Ich muss noch mehr Geld ranschaffen. Ich muss, ich muss, ich muss.

Die Summe, die wir brauchen, um uns da rauszuboxen, macht mich schwindelig. Aber es ist die einzige Lösung. Ich muss für uns alle neue Pässe kaufen, nachdem Chiara in Virginia unsere Identität hat auffliegen lassen. Mit jedem Jahr, mit immer besseren Sicherheitschecks wird es zunehmend unmöglicher, ohne gültigen Personalausweis unterwegs zu sein. Er ist genauso essenziell wie eine Sozialversicherungsnummer. Ich bin es gewohnt, Fragen aus dem Weg zu gehen, aber ich lebe in der konstanten Angst, aufgespürt zu werden. Um die Finanzierung für mein Buch zu organisieren, musste ein Bekannter von mir eine GmbH für mich gründen. Obwohl es mein Geld ist, läuft das Konto unter einem anderen Namen. Jedes Mal, wenn ich Geld am Automaten abhebe, merke ich, dass ich keinerlei Kontrolle über meine eigenen Finanzen habe. Das Geld könnte jederzeit auf ein anderes Konto überwiesen werden, und ich könnte mich nirgends beschweren. Untergetaucht zu sein, klang spannend, bevor ich erwachsen war, bevor ich erkannte, dass es hieß, keine Rechte zu haben.

Wir können nicht ewig weitermachen mit den billigen gefälschten Dreißig-Dollar-Ausweisen, die ich vor Jahren auf dem Weg nach New York gekauft habe. Gute gefälschte Papiere, auf die man sich verlassen kann, kosten inzwischen das Fünffache von dem, was wir früher bezahlt haben. Das macht dreißigtausend für mich und meine Eltern. Dann muss ich noch genug Geld verdienen, um für meine beiden Eltern jeweils ein eigenes Apartment anzumieten, damit meine Mutter davor verschont wird, dass er sie täglich niedermacht, sie dumm und wertlos nennt. Nun, da wir alle in Manhattan leben, macht es mich fertig, mir das täglich mitanschauen zu müssen; kein Wunder, dass sie kaum noch etwas sagt. Oft merke ich, wie ich ungehalten werde. Wieso wehrt sie sich nicht? Das ist die Frau, die alles aufs Spiel gesetzt hat für ihre Freiheit. Wann hat sie aufgehört, an ihre eigene Courage zu glauben?

Aber seit jenem Abend, damals war ich 13, als wir unser abgedunkeltes Haus betraten und sie herzzerreißend aufschluchzte, ist sie nicht mehr dieselbe. Seit fast zehn Jahren führen wir nur Small Talk miteinander. Ich sollte mich mehr mit ihr unterhalten, am Ende des Tages zu ihr ins Zimmer gehen und erzählen, was ich erlebt habe. Aber nachdem ich den ganzen Tag lang gelächelt, jedes Wort abgewogen, weniger gegessen habe als nötig und alles erledigt habe, ist einfach nichts mehr übrig. Ich kommuniziere kaum noch mit mir selbst. Selbst in meinem Buch habe ich mich nur auf meine Jahre als Model beschränkt, meine Eltern im besten Licht dargestellt und alles andere ausgeblendet. Genau wie in meinem Kopf. Noch mehr Konflikte ertrage ich nicht, denn manchmal glaube ich, dass wir es vielleicht doch noch zusammen hinkriegen.

Und dennoch, mit jeder positiven Besprechung von Model, mit jedem neuen Interview, wachsen meine zugrunde liegenden Ängste. Denn was, wenn mir alles, was ich mir so mühsam erarbeitet habe, wieder weggenommen wird?

Meine Buch-Promotour ist schwindelerregend, während ich von einem Interview zum nächsten hetze. Der angesagte Club Bungalow 8, in den ich früher nur als schmückendes Accessoire reinkam, wurde extra für meine Buchpräsentation angemietet. In dem 20.000-Dollar-Couture-Kleid, das mir der Designer geliehen hat, der direkt neben mir steht, lasse ich den Blick schweifen und stelle erschrocken fest: Die einzigen Leute, die ich kenne, sind Geschäftspartner. Mein Verleger, die Presse. Ich habe keinerlei enge Freundinnen – dafür fehlte schlicht die Zeit; und auch keinen Freund – dafür fehlte das Vertrauen. Ich habe nicht gewagt, meine Eltern einzuladen. Das Risiko war zu groß, dass mein Vater meine Mutter in aller Öffentlichkeit demütigen würde, dass man an ihrem zutiefst verstörenden Umgang miteinander all meine dunklen Geheimnisse ablesen könnte.

Während ich das Buch schrieb, habe ich öfter Altersgenossen beobachtet – Studierende, die an Cafétischen saßen und miteinander plauderten und herumalberten – und hatte das Gefühl, ihnen einen Schritt voraus zu sein, etwas zustande zu bringen, während sie ihre Zeit mit sozialen Aktivitäten verplemperten. Nun, da ich allein in einem Raum voller Leute stehe, frage ich mich, ob ich mich da nicht getäuscht habe.

Ein paar Tage später ruft mein Verlag an, um mir mitzuteilen, sie hätten eine Buchpräsentation in Kooperation mit dem Kaufhaus Macy’s eingefädelt und suchten nun nach einem Termin. Ich habe bereits zugesagt, als sie mir ein letztes Detail nennen. Die Lesung soll in Virginia stattfinden, nahe Washington, D.C. Als ich auflege, bin ich wie vor den Kopf geschlagen. Es ist Jahre her, seit ich zuletzt in unserer ehemaligen Wahlheimat war – seit alles zusammenbrach. Ein altbewährtes Motto geht mir durch den Kopf. Kehre nie an einen Ort zurück.

Als ich auf dem Weg zur Lesung schließlich im Zug sitze und Manhattan an mir vorbeirauscht, versuche ich, nicht an die Vergangenheit zu denken. In Washington, D.C. holt mich ein Fahrer vom Bahnhof ab, und ich starre auf mein Handy, während das wohlvertraute Stadtbild erbarmungslos an mir vorüberzieht. Ich muss nicht einmal hochsehen. Alles an dieser Stadt hat sich mir eingebrannt: das Diner, in dem ich mit Dad immer frühstückte, die Pizzeria, die mein Bruder so sehr mochte … und dann stehe ich in demselben Macy’s, durch das ich mit 13 immer mit Sandra, meiner besten Freundin, bummelte, während ich mit ihr über Jungs und unsere Träume quatschte. Der einzige Unterschied ist, dass ich inzwischen 15 Zentimeter größer bin, anders heiße und mich unfassbar erschöpft fühle, als ich auf mein Porträtfoto auf dem Buchplakat starre. Ich fühle mich wie ein versprengter Soldat, der in einem Krieg kämpft, von dem niemand weiß.

Ich stehe auf der Bühne, als ich beginne, mich fiebrig zu fühlen, und das Publikum vor mir verschwimmt. Ich beende die Lesung und signiere mit unsteter Hand Bücher. Nachdem ich das letzte Buch mit fixiertem Lächeln überreiche, rufe ich kein Taxi, sondern trete hinaus in die Nacht, an die dringend benötigte frische Luft.

Auf der anderen Seite der Autobahn sehe ich die Lichter meines Hotels und gehe benommen, beinahe wie hypnotisiert, darauf zu. Vorbei an den Luxusgeschäften des Tysons-Galleria-Einkaufszentrums, in das Frank und ich einmal mit lässig nach hinten gedrehten Basecaps hineinmarschiert waren. Letztlich hatte er recht, nicht wahr? Trotz all meiner Erfolge, trotz all meiner unermüdlichen Bemühungen, meine Eltern stolz zu machen, konnte ich die Brüche in unserer Familie nicht kitten. Autos rasen vorbei und ziehen in der Dunkelheit eine bernsteinfarbene Lichtspur hinter sich her. Ich blinzele, um wieder klar zu sehen.

Mit einer Hand Halt suchend an der Hotelmauer, sammle ich Kraft, dann gehe ich durch die Drehtür hindurch, ein schwaches Lächeln für den Pförtner auf den Lippen. Ich kriege das schon hin. Ich kann das morgige Interview nicht absagen. Ich muss weitermachen, ich muss …

Nachdem ich meine Zimmertür doppelt hinter mir abgeschlossen habe, beginnt mein Körper unkontrolliert zu zittern, und ich rutsche an der Wand hinunter, bis ich auf dem Teppich sitze, den schweren, brummenden Kopf auf die Hände gestützt. Egal wie sehr ich versuche, die Erinnerungen zurückzudrängen, sie sind stärker. Das dunkle Haus, der Aufschrei meiner Mutter. Ich starre an die leere Wand des Hotelzimmers, unfähig aufzustehen, als mir ein furchtbarer Gedanke kommt. Was, wenn man die Wahrheit nicht umschiffen kann? Was, wenn man nicht ewig vor ihr davonlaufen kann?

35 | New York City, 22 Jahre alt

Inzwischen ist fast ein Jahr vergangen. Zwölf Monate, die ich im Schlafzimmer verbringe und in denen ich zu schwach bin, um die paar Meter ins Wohnzimmer rüberzugehen. Anfangs dachte ich, es sei nur ein Virus, dass ich wie früher als Kind eines Tages aufwachen und es mir wieder besser gehen würde. Selbst als ich mit meiner ohnehin schlanken Figur 13 Kilo abnahm, selbst als ich vor konstantem Bauchweh nicht schlafen konnte, war ich mir sicher, mein Körper würde sich bestimmt rasch wieder erholen.

Mittlerweile glaube ich das nicht mehr. Was auch immer es ist, hat mein Nervensystem befallen und verursacht innere Blutungen, die sich als Blutergüsse auf den Beinen und in einem steifen linken Arm äußern. Er hängt nur noch nutzlos in einer Armschlaufe, die ich aus einem meiner geblümten Sommertücher gebunden habe. Dasselbe Tuch, das früher hinter mir herflatterte, wenn ich auf dem Weg zu meinem nächsten Casting hoch erhobenen Hauptes und mit klackernden Absätzen über die aufgeheizten Straßen New Yorks stolzierte und wendig den Taxis auswich.

Als ich nach Washington, D.C. fuhr, ging es mir gut, fühlte ich mich physisch unbesiegbar. Jetzt kann ich kaum mehr ein paar Schritte gehen, ehe ich zusammenklappe. Niemand in der Verlags- oder Modelbranche weiß davon – Dad hält das für besser, damit sie mich nicht komplett abschreiben. Letztlich wissen wir selbst nicht, was mit mir los ist. Die Tests, die ich für eine Diagnose im Krankenhaus machen lassen müsste, kosten ein Vermögen. Alles Geld, das ich angespart hatte, in der Hoffnung, uns aus der Misere zu befreien, schwindet mit jedem Monat, den ich hier liege, mit jedem Mal, wenn ich zusammenbreche und mir die Ärzte sagen, sie könnten erst mit der Behandlung beginnen, wenn ich die nötigen Untersuchungen hinter mich gebracht habe. Aber natürlich haben wir keine Krankenversicherung.

Letztlich vereinbare ich mit Mom, dass ich den wichtigsten Test anfertigen lasse, eine Darmspiegelung. Ich bin seit einem Jahr bettlägerig und versuche durchzuhalten, um Geld zu sparen, aber gleichzeitig habe ich Angst, so weiterzumachen, ohne mich behandeln zu lassen. Die Ärztin sagt, sie kann mir den halben Preis erlassen, wenn ich die Untersuchung ohne Betäubung über mich ergehen lasse. Und so kommt der Tag, an dem Dad uns ins Taxi setzt und vom Gehweg zusieht, wie wir davonfahren. Wie ich ihn im Rückspiegel dastehen sehe, muss ich daran denken, was er mir gesagt hat. Dass das völlig unnötig sei, dass ich stark sein und diese Schwächephase einfach überwinden solle. Dass ich schnell noch ein Buch rausbringen solle, bevor ich in Vergessenheit gerate. Auf der Rückbank des Taxis legt Mom zaghaft ihre Hand auf meine.

Als sich meine Augen blinzelnd öffnen, nehme ich eine Mischung aus unbekannten Krankenhausgeräuschen und dem stechenden Geruch von Desinfektionsmitteln wahr. »Was ist passiert?«, flüstere ich.

»Du hast einen Schock erlitten«, erklärt mir eine Frau in weißem Kittel nüchtern. Rings um mein Bett stehen mehrere Pflegekräfte. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, wie man mich in einen Untersuchungsraum rollte, an die klobigen Geräte mit den vielen Schläuchen und an quälenden Schmerz. Das Ding mit der Betäubung ist: Offenbar braucht man sie genauso sehr wie eine Krankenversicherung.

Ich zittere noch immer, als man mir meine Diagnose verkündet: Morbus Crohn. Eine schwere Autoimmunerkrankung. Sofern sie nicht genetisch bedingt ist, kann sie durch enorme Anspannung und posttraumatischen Stress ausgelöst werden. Die Ärzte warnen mich, dass ich infolge der fehlenden Behandlung und des dramatischen Gewichtsverlustes innerhalb des letzten Jahres Gefahr laufe, an Herzversagen zu sterben. Überwältigt von ihren Worten drehe ich den Kopf weg. Das darf nicht wahr sein. Das darf nicht passieren. Nicht mir. Ich habe keine Zeit für so was. Ich bin 22 Jahre alt, als man mir verkündet, dass es keine Heilung für meine Krankheit gibt.

Als ich später in meinem Zimmer liege, denke ich nach. Das ist das Einzige, was ich noch ohne medizinische Unterstützung kann. Ich blicke an meinem Körper hinunter. Im Grunde habe ich ihn nie wirklich wahrgenommen. Es war immer nur wichtig, welche Leistung er erbringt. Welche Sprünge ich damit als Turnerin vollführen, welche Jobs er mir als Model einbringen konnte. Er war lediglich ein Vehikel, das mich meinen Zielen näherbrachte. Und nun, da ich auf das Skelett blicke, das ich bin, stelle ich fest, dass ich meinen Körper nie gewürdigt, ihn immer nur benutzt habe.

Als ich die Behandlung mit Kortikosteroiden beginne, die man mir verschrieben hat, setzt sich mein Körper sofort zur Wehr, indem sich meine Magenschmerzen verschlimmern und mir büschelweise die blonden Haare ausfallen. Tigger stupst mit seiner Stirn an meine Wange, und hin und wieder macht er einen Schritt zurück, wie um mich zu betrachten. Ich liege so still wie möglich da, denn nun beschleicht mich eine neue Angst. Zum ersten Mal habe ich Angst vor mir selbst. Autoimmunerkrankungen sind Krankheiten, bei denen der Körper sich selbst angreift. Für mich die ultimative Form von Selbstsabotage. Als würde man mitten in einem Wettrennen aufgeben. Ich verstehe nicht, wieso das ausgerechnet mir passiert, die ich mich doch immer bis zur Ziellinie durchgebissen habe. Und jetzt stecke ich in diesem Dilemma … Wie besiegt man sich selbst? Wie kann man sich selbst bekämpfen und dabei gewinnen?

Während meine Mutter ihre Zeit damit zubringt, Morbus-Crohn-Therapien zu recherchieren und Französisch zu unterrichten, um sich etwas dazuzuverdienen, spüre ich, wie Dad sich allmählich verabschiedet. Die Veränderung ist zunächst subtil. Doch je mehr Zeit vergeht, je länger mein Körper jede Behandlung verweigert, desto mehr fällt es mir auf. Er trägt mich noch immer ins Wohnzimmer, damit ich aus dem Fenster schauen kann. Sagt noch immer tröstliche Dinge. Aber er verliert das Interesse. Er war noch nie der Typ, der Defektes repariert; man kauft etwas Neues oder lässt es sein. Ich versuche mir einzureden, dass ich mir das nur einbilde, meine Fantasie mit mir durchgeht, aber ab und zu erwische ich ihn, wie er mir distanzierte, befremdlich Blicke zuwirft. Als ob er nicht verstehen könnte, wie es mit seinem Champion so weit kommen konnte.

»Erinnerst du dich an irgendein traumatisches Erlebnis in deiner Kindheit?« Die braunen Augen des Facharztes blicken mich über seinen Schreibtisch hinweg mitfühlend an.

Meine Mutter und ich starren ihn an. Der wohl erstaunlichste Nebeneffekt meiner Krankheit ist, dass sie meine Mutter zum Leben erweckt hat. Ihre Recherchen haben uns zu diesem Mann geführt, und dank ihrer täglichen Nachfrage in seiner Praxis bin ich auf der viermonatigen Warteliste nach oben gerutscht. Sie hat auch die stattliche Aufnahmegebühr zusammengekratzt und sitzt nun neben mir. Wenn ich sie mir die letzten Monate so anschaue, entdecke ich in ihr jene Frau, die vor vielen Jahren die mutige Entscheidung traf, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Ich sollte ihr dankbar sein und sauer auf meinen Vater, der zu Hause auf der Couch abhängt und glaubt, wir würden Geld zum Fenster für etwas rauswerfen, das ich überwinden könnte, wenn ich nur willensstark genug wäre.

Stattdessen bin ich oft von ihr genervt. Wieso musste ich erst fast abkratzen, bis ihr aufging, dass ich noch da bin?

»Hmm?«, frage ich, um Zeit zu gewinnen.

»Gab es ein schockierendes oder traumatisches Erlebnis«, wiederholt der Spezialist, »etwas, das dich zutiefst erschüttert haben könnte?«

Nur eins? Ich spüre ein hysterisches Lachen in mir hochkommen und merke, wie mich beide beobachten. Mit Mühe unterdrücke ich ein Schmunzeln, während ich zusammengesackt dasitze wie ein Haufen Knochen. »Nein. Alles bestens.«

Er faltet die Hände und beugt sich stirnrunzelnd vor. »Cheryl, du wiegst 44 Kilo, dabei müssten es bei deiner Größe eigentlich mindestens 64 sein, und du wurdest in einem Rollstuhl hereingefahren, insofern ist nicht alles bestens. Wie fühlst du dich?«

Ich nicke und fange mich wieder. »Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Ich kriege nichts mehr hin.«

Er sieht mich verdattert an, und allmählich begreife ich, dass ich nicht in der Lage bin, meine Gefühle auszudrücken – diesen furchtbaren Schmerz in mir. Mir fehlen schlicht die Begrifflichkeiten dafür. Tief in meinem Inneren hat sich offenbar die Überzeugung festgesetzt, dass man mich, wenn ich um Hilfe bitte, für schwach hält und sich von mir abwendet.

Ich dachte, ich wäre den Fragen des Arztes erfolgreich ausgewichen, aber das Medikament, das er mir verschreibt, niedrig dosiertes Naltrexon, wird oft eingesetzt bei Soldaten, die mit posttraumatischer Belastungsstörung aus dem Krieg zurückkehren. Zwei Wochen später kann ich mühelos ein Glas Wasser heben. Dann gelingt es mir, allmählich kleine Portionen Essen zu mir zu nehmen.

Der Rat des Arztes ist unmissverständlich und ziemlich verstörend. Da es keine Heilung für Morbus Crohn gibt, kann ich nur hoffen, dass die Krankheit von allein zurückgeht. Ich brauche Zeit, womöglich Jahre, um wieder zu Kräften zu kommen, außerdem strenge medizinische Überwachung und eine stressfreie Umgebung. Ich verkneife mir zu sagen, dass alles drei unmöglich ist.

In der Hoffnung, dass irgendeine Verbindung zu meiner Vergangenheit, die Erinnerung an schöne Zeiten mich heilen kann, ruft Mom bei unserem ehemaligen Selfstorage-Lager in Deutschland an. Was natürlich albern ist. Bestimmt sind all unsere Sachen längst weg; wir haben schließlich jahrelang keine Miete bezahlt. Diese plötzliche Eigeninitiative, die sie entwickelt, ist irritierend und zunehmend nervig. Es ist, als sei sie plötzlich blinzelnd aufgewacht und fummele nun überall herum, um alles wieder geradezubiegen, wo es doch längst zu spät ist. Aber Mom lässt sich nicht davon abbringen und kauft eine internationale Telefonkarte und sagt, die Leute in dem Lager haben vielleicht zumindest unsere Familienfotos aufgehoben. Schließlich geht jemand ran. Der Eigentümer erklärt ihr, sie hätten, nachdem die Rechnung zehn Jahre lang nicht bezahlt worden war, all unsere Klamotten und Bücher versteigert. Aber unglaublicherweise hat er ein paar unserer Fotos in seiner Schreibtischschublade aufbewahrt. »Sie sahen aus wie eine nette Familie«, sagt er und schickt uns die Fotos per Post zu, ohne etwas dafür zu verlangen.

Allein im Schneidersitz auf dem Boden sitzend, reiße ich das Paket auf und sehe den ausgebeulten Schuhkarton lange an. Vielleicht sollte ich ihn lieber zulassen. Dann hole ich tief Luft und öffne den Deckel.

Der Karton ist voll mit Fujifilm-Taschen, die an den Ecken vergilbt sind. Mit dem Finger fahre ich über das Logo der Foto-Fabrik, deren Adresse in Heidelberg mir noch immer etwas sagt. Der kleine Druckshop befand sich in derselben Straße, in der wir wohnten, nur ein paar Meter von meiner Lieblingsbäckerei entfernt. Ich weiß noch, wie ich Apfelbrot mampfend mit Mom in den Laden gestiefelt bin, wo sie einen ganzen Stapel Negative abgab. Die Schnappschüsse vieler Jahre, für die wir nie die Zeit gefunden hatten, um sie entwickeln zu lassen.

Vorsichtig öffne ich den ersten Umschlag. Die Farben sind erstaunlich lebendig. Offenbar war ich automatisch davon ausgegangen, die Fotos wären bei einer unserer Fluchtaktionen zerknittert oder angesengt worden. Aber nun blicke ich auf ein kleines Mädchen mit verschmierter Sonnencreme auf der sommersprossigen Nase, einem zu großen Basecap und einem breiten Grinsen. Alle Fotoalben, die wir je besessen haben, sind bei unseren vielen Umzügen entweder verloren gegangen oder wurden verbrannt. Dies ist das erste Mal, dass ich als Erwachsene mich selbst im Kindesalter sehe.

Schnell öffne ich einen anderen Umschlag und sichte mit ungeschickten Fingern die Fotos. Meine Eltern auf unserer großen Couch in Südafrika, mein Dad noch mit langem, wildem Bart, meine Mom mit unaufhaltsamem Lächeln. Dad und ich auf einem Heidelbeer-Selbstpflückerfeld, jeder einen roten Eimer in der Hand, ich winzig klein an ihn gelehnt, wir beide mit knallblauen Lippen, da wir uns vorgenommen hatten, aus unserem Geld das meiste herauszuholen. Dann plötzlich erblicke ich meine Geschwister vor 16 Jahren. Auf dem Foto sind wir drei zu sehen, wie wir in Virginia vor dem Sommerschwimmtraining in unserem Mannschaftstrikot auf die Kamera zurennen.

Der Nachmittagshimmel hat sich inzwischen rosa gefärbt, während ich jeden Umschlag herausnehme und alle vor mir zu einem Stapel häufe. Aus einigen fallen Zettel heraus, die ich beiseiteschiebe. Was mich am meisten an diesen Fotos verstört, ist, dass der Mensch, an den ich mich am wenigsten erinnern kann, ich selbst bin. Meine Gesichtszüge sind gleich geblieben, ich bin offensichtlich dieses Mädchen, aber sie kommt mir unglaublich weit weg vor. Es bricht mir das Herz, wenn ich diese Sechsjährige betrachte und daran denke, was ihr noch alles bevorsteht.

Ich dränge die Tränen zurück, indem ich die Augen schließe. Das Schlimmste ist nicht meine Krankheit, ist nicht der körperliche Schmerz – sondern das Gefühl, versagt zu haben. Auf die eine oder andere Art haben mich alle verlassen. All die Jahre habe ich mich angestrengt, um mir ihre Liebe zu verdienen, um besonders mutig, clever, schön, furchtlos zu sein. Aber ich bin gescheitert. Das macht mich fertiger, als es irgendein körperlicher Schmerz je könnte. Denn der Schmerz kommt aus meinem unmittelbaren Umfeld, von den Menschen, die eigentlich biologisch darauf programmiert sein sollten, mir nahe zu sein. Gibt es etwas an diesem Mädchen – suchend betrachte ich mein jüngeres Ich –, habe ich irgendetwas getan, um all das magisch anzuziehen? Wieso haben sich alle von mir abgewendet? Chiara, an die ich nicht mehr zu denken versuche. Mom, die abgedriftet war, die mehr eine Belastung denn eine Stütze war. Frank, der meine Liebe und mein Vertrauen missbraucht und etwas mit mir gemacht hatte, immer und immer wieder, was mich glauben ließ, ich sei für immer beschmutzt. Und dann mein Vater. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Weil ich ihn noch immer liebe. Weil er noch immer mein Held ist. Aber auch weil die Werte, nach denen er mich erzogen hat, die Mantras in Indien von Wahrheit und Loyalität, das waren, worauf ich meine Identität gegründet habe. Meinen Vater zu verlieren – oder anerkennen zu müssen, dass er das Interesse an mir verloren hat –, würde sich anfühlen wie mein eigener Tod.

Still weine ich vor mich hin, die Finger in den Teppich gekrallt, während die Bilder vor meinem Auge durcheinanderwirbeln. Ein Mischmasch aus unseren Gesichtern und all den Orten, all den Dingen, die wir letztlich zurückließen. Wozu das alles? Wieso hat mein Vater uns alle so hart rangenommen, uns gegeneinander ausgespielt? Er hat immer behauptet, es sei erforderlich gewesen, weil mein Großvater, weil Interpol uns verfolgte. Aber lag es wirklich daran, dass er das ganze Geld gestohlen hatte oder … daran, dass es einfacher war, seiner Familie seinen Willen aufzuzwingen, wenn sie sich in Gefahr wähnte?

Der Gedanke erschrickt mich, denn ich habe gelernt, die Entscheidungen meines Vaters nicht zu hinterfragen. Aber wenn ich versuche, die Beweggründe zu verstehen, stoße ich immer an Grenzen, denn das ist mir nicht erlaubt. Das ist illoyal. Die Verwirrung ist so groß, dass ich einige Minuten brauche, ehe ich mir die verblichenen Papiere näher ansehe, die auf dem Boden verstreut liegen und so unscheinbar wirken zwischen all den bunten Bildern. Ich falte sie auseinander.

Das kann nicht sein.

Ich halte meine neuseeländische Geburtsurkunde und den von der Botschaft ausgestellten Nachweis über meine brasilianische Staatsbürgerschaft in den Händen. Es hieß, diese Papiere – der einzige echte Nachweis meiner Existenz – seien vor Jahren unwiederbringlich verloren gegangen. Wir waren alle sicher, dass sie bei einer unserer überhasteten Fluchtaktionen abhandengekommen waren. Weiter unten in der Kiste liegen auch die gefälschten brasilianischen Geburtsurkunden meiner Eltern.

Ich frage mich, ob das heißt, dass wir uns unsere ursprünglichen brasilianischen Pässe ausstellen lassen könnten. Die allerersten, die unsere Freundin uns besorgt hatte, und mit einer Hintergrundgeschichte, die einer Prüfung standhält. Heißt das, wir müssen gar keine brandneuen Ausweise kaufen? In puncto Pässe hatte ich nie ein Mitspracherecht. Alles, was ich weiß, ist, dass sie teuer sind und wir sie brauchen. Und obwohl ich nicht weiß, was wir damit anstellen werden, weiß ich, dass diese abgegriffenen Papiere wertvoll sind.

Ich schleiche zur Tür meiner Mutter und klopfe leise. Und dann erzähle ich ihr von meinem Fund. Nur ihr.

36 | New York City, 22 Jahre alt

Dad will einen Versuch wagen und einen neuen Pass bei unserer Freundin kaufen. Nur einen, testweise. Es ist über zehn Jahre her, seit wir zuletzt mit ihr Geschäfte gemacht haben, und wir müssen sichergehen, dass sie noch über die nötigen Kontakte verfügt, um solide Dokumente zu liefern. Er ahnt nichts davon, dass ich unsere alten Papiere gefunden habe.

Ich sitze auf der Couch und nicke, als er uns seine Pläne unterbreitet, es klingt logisch. Aber nachdem wir jahrelang von meinen Ersparnissen die Rechnungen beglichen haben, ist nicht mehr viel Geld übrig. Das bewahre ich natürlich in bar auf, in einer abgewetzten Ausgabe meines Lieblingsbuches Papillon. Auch wenn wir das Buch nur für das Notwendigste plündern – Miete, Essen und meine Arztbesuche –, sind nur noch zehntausend Dollar übrig. Das Geld haben wir erst vor ein paar Tagen gezählt. Es wird uns reichen müssen, bis ich wieder auf die Beine komme. Unsere gesamten Reserven aufs Spiel zu setzen, erscheint mir ziemlich riskant … Ich grüble noch immer, wie wir zusätzliche Finanzen auftreiben können, als Mom, die still am Fenster steht, eine Frage stellt.

»Welches Dokument?«

Genervt dreht er sich zu ihr um. »Stell dich nicht so blöd an. Einen Reisepass natürlich.«

»Ja, aber Bhajans, richtig? Ihrer kommt zuerst dran.«

»Nein. Wir werden es mit meinem probieren, das ist sicherer. Wir sollten sie keiner Gefahr aussetzen.«

Wenn ich ihnen so zuhöre, fühle ich mich nicht kompetent genug, um eine Meinung dazu zu haben. Das letzte Mal, als wir Pässe gekauft haben, war ich noch klein, und zuletzt war ich nur mit Überleben beschäftigt. Die Lage, in der wir stecken, ist so komplex, dass ich jedes Mal Kopfschmerzen davon bekomme.

Beide halten dem Blick des anderen stand.

»Die Papiere haben oberste Priorität, angesichts der verbesserten Sicherheitschecks kommen wir nicht mehr lange damit durch«, sagt mein Vater.

»Ich finde, die Arztbesuche haben oberste Priorität. Noch vor Bhajans Pass.« Mom beharrt auf ihrem Standpunkt, doch ihre Hände verraten ihre wachsende Nervosität. Überstürzt berichtet sie ihm, was ich zwischen unseren alten Fotos gefunden habe: unsere Dokumente. Das, wovon er so besessen ist. Und nun steht die Möglichkeit im Raum, dass wir einfach in eine brasilianische Botschaft hineinspazieren und uns auf Grundlage unserer Geburtsurkunden neue Pässe ausstellen lassen können – und zwar für uns alle.

Er steht auf. »Gib sie mir.«

Sie schaut zu ihm hoch, verängstigt, und ich bereue, die Papiere je gefunden zu haben. Ich hätte sie ihm direkt aushändigen sollen, damit er sich nicht aufregt. Wieso habe ich sie überhaupt vor ihm geheim gehalten? Jetzt kommt es mir dumm vor, riskant.

»Ich behalte sie«, erwidert sie.

Mein Vater und ich sind so schockiert, dass wir beide ungläubig diese zierliche Frau anstarren.

»Wenn Bhajan ihren Pass hat, kannst du haben, was du willst. Aber bis dahin bleiben die Papiere bei mir.« Damit macht sie kehrt, geht in ihr Zimmer und schließt ab.

Ich kann es kaum fassen. Sie ignoriert ihn einfach, auch als er schreiend vor ihrer Tür steht und dagegen hämmert. Währenddessen habe ich auf der Couch meine Knie umklammert und fühle mich wieder wie ein Kind. Alles fühlt sich noch bedrohlicher und lauter an, weil es mir nicht gut geht und ich nicht klar denken kann. Aber was mich noch mehr überrascht, ist die Tatsache, dass er ein paar Tage später nachgibt. Das hat er noch nie getan.

37 | Florida, 23 Jahre alt

Als alles wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt, befinden wir uns in einem kleinen Badeort mit strahlendem Sonnenschein, Touristen mit Sonnenbrand und diversen Motels, die eine Stunde nördlich von Miami die Küstenstraße säumen. Es ist ein Ferienort für Leute, die sich Miami Beach nicht leisten können, und nach all den Kosten für die medizinischen Behandlungen sind auch wir hier. Im Starlight Motel, Suite 301: zwei Schlafzimmer, eine Miniküche und ich inmitten des Kalten Krieges zwischen meinen Eltern.

Der Urlaub war seine Idee, und allein bei diesem Wort, das inzwischen ein Fremdwort für uns war, schöpfte ich Hoffnung. Genau das brauchte ich jetzt. Sommer, Sonne, Strand und ein wenig Zeit, um mich zusammenzureißen. Damit wir all den Stress mal hinter uns lassen konnten.

Doch dazu kommt es nicht. Obwohl er alles versucht hat, sie weichzuklopfen, rückt Mom nicht mit den Papieren raus, selbst wenn er sie bedroht, selbst wenn er sie im Motelzimmer zu Boden wirft. Unter vier Augen hat sie mir gesagt, ich könne sie jederzeit haben, ich müsse bloß fragen, aber ich will lieber gar nicht wissen, wo sie sie versteckt. Wir sind kaum eine Woche im Urlaub, als ich erneut innere Blutungen habe. Ich möchte meinen Vater anbetteln, mir die Möglichkeit zu geben, mich zu erholen, nur ein paar Monate, um endlich mal Luft zu holen. Aber ich bringe es einfach nicht über die Lippen; niemand hat es je geschafft, ihm die Stirn zu bieten.

Mom und ich laufen die Strandpromenade entlang, wobei sie sich meinem Tempo anpasst und extra langsamer geht, als sie abrupt stehen bleibt. »Du musst einen Anwalt für Einwanderungsrecht finden.«

Ich runzle verwirrt die Stirn. »Kann ich nicht einfach zur Botschaft gehen und einen neuen Pass beantragen?« Es wurmt mich selbst, wie unwissend ich klinge – ich habe keine Ahnung, was normale Leute tun, um ihre Papiere zu bekommen. Um frei zu sein. Ich bin immer nur meinen Eltern hinterhergereist, die Grenzen in Visa verwandelten.

»Du benötigst Hilfe, um dir einen Pass zu beschaffen«, sagt sie.

»Aber wir müssen auch deinen organisieren.«

»Ich bin nicht so wichtig.«

»Gott, Mom …«

Sie sieht sich um, wie um zu überprüfen, ob uns jemand folgt. Bis mir klar wird, dass sie genau das tut. Sie hält nach ihm Ausschau. »Bhajan. Du brauchst einen Anwalt.«

Es muss gegen zwei Uhr nachts sein, als ich aus einem Albtraum aufwache, der schwer auf mir lastet, doch dann fällt mir wieder ein, dass es gar kein Albtraum, sondern Realität ist. Das Licht der Straßenlaterne fällt durch meine Jalousie in Streifen auf meine weiße Bettdecke.

Wieso habe ich ihn nie infrage gestellt? Als jemand, der in einer Welt ohne Gesetze, ohne Grenzen aufwuchs, habe ich mich an die Regeln meines Vaters geklammert. Sie waren meine Religion, und ich hatte nie vor, sie anzuzweifeln. Ich brauchte etwas, nur eine Sache, die konstant blieb. Die stets galt. Aber nun setze ich mich langsam auf, schiebe die Decke beiseite, stehe im Halbdunkel auf und schleiche zu meinem immer noch unausgepackten Koffer. Nachdem ich den Deckel angehoben habe, krame ich zwischen meiner Kleidung, bis ich Papillon in der Hand halte. Ich schlage das Buch auf der mir wohlvertrauten Seite auf und atme scharf ein. Ganz ruhig bleiben. Ich blättere das gesamte Buch durch, schüttele die Seiten aus.

Es ist weg. Alles.

Mit schweißnassen Händen öffne ich die Schlafzimmertür und trete vorsichtig in den Lichtkegel der Lampe, in deren Schein er liest. Dad senkt das Buch, mustert mich. Als ich meine Stimme in den Griff bekomme, ist sie ganz ruhig.

»Wieso hast du mein Geld genommen?«

»Ich verwahre es bloß sicher.« Er zuckt mit den Schultern. »Wenn ich meinen Pass habe, kannst du es vielleicht zurückhaben.«

»Ich verstehe das nicht.«

Er legt den Kopf schräg. »Was verstehst du nicht?«

»Alles. Einfach alles …« Ich versuche zu schlucken. »Wieso bist du so gemein zu Mom? Wieso …«

»Hör auf. Pass auf, was du sagst.« Seine Miene ist eiskalt, sein Körper strahlt Macht und Anspannung aus.

Aber ich habe so lang geschwiegen, dass nun alles aus mir herausbricht, mit bebender Brust, die Worte vermengt mit Tränen. »Nie war irgendetwas gut genug, nichts, was ich gemacht habe, hat je genügt, bei keinem von uns. Ich habe mich so sehr angestrengt, so sehr, damit du mich liebst …«

»Du bist hysterisch.«

»Bin ich nicht. Wieso tust du das immer als hysterisch ab, wenn jemand seine Meinung sagt? Wenn jemand nicht genau das macht, was du sagst? Du täuschst dich.« Da ist es, das verbotene Wort. Aber der Leidensdruck ist so groß, dass es mich nicht kümmert.

»Schau dich doch nur an.« Er verzieht den Mund.

Ich kann mir vorstellen, was für ein Bild ich abgebe. Spindeldürr, rotes, aufgequollenes Gesicht, kaum imstande, gerade dazustehen in meinem übergroßen T-Shirt. Aber ich schäme mich nicht.

»Schau dich doch selbst an, Dad.« Ich suche mit einer Hand auf dem leeren Sessel Halt. Er steht auf, aber ich rede weiter. »Wieso müssen sich immer alle selbst analysieren und optimieren, aber du nie? Du bist unantastbar.«

»Halt die Klappe.« Seine Worte schneiden durch das dämmrige Licht wie ein Messer. »Ich will kein Wort mehr hören. Du hast ja völlig den Verstand verloren und reimst dir irgendwelche Sachen aus der Vergangenheit zusammen.«

»Nein, hat sie nicht.«

Wir drehen uns beide um. Moms schmächtige Silhouette zeichnet sich in der Tür ihres Zimmers ab. »Wehe, du nennst sie noch einmal verrückt.«

Er läuft rot an. »Hau ab! Mach die Tür zu!«

»Nein.« Mom rührt sich nicht von der Stelle.

Irgendwie verleiht mir ihre Anwesenheit Mut, und die Wut verpufft, bis nur noch die eine Frage übrig ist, die mich wirklich interessiert. »Liebst du mich eigentlich?«

»Was plapperst du da?«

»Ich plappere nicht. Und ich habe auch nicht den Verstand verloren.«

Ich schluchze, weil ich etwas in ihm sehe, das mir das Herz bricht: eine furchtbare Leere, eine völlige Abwesenheit von Mitgefühl für dieses Mädchen, seine Tochter, die ihn anbettelt, ihr seine Liebe zu zeigen, irgendwas.

»Selbst nach allem, was vorgefallen ist, liebe ich dich noch immer, Dad. Ich würde für euch beide jederzeit losrennen, kämpfen, lügen, ich würde alles für euch tun. Ich will unsere Familie nicht kaputtmachen, ich will, dass sie funktioniert.« Ich lasse den Sessel los, und die Arme zu beiden Seiten hängen. »Alles, was ich wissen will, ist, ob du mich bedingungslos liebst.«

Ich halte den Atem an. Selbst in Florida ist es kalt, wenn man halb nackt um Mitternacht in einem Zimmer steht. Er runzelt die Stirn, als ob die Antwort völlig selbstverständlich wäre. Ich beginne wieder zu atmen.

»Natürlich nicht«, sagt er. »Es kommt darauf an, wie du dich anstellst.«

Als ich wieder zu Bewusstsein komme, klingelt mir noch immer der Kopf an der Stelle, wo er beim Fallen gegen die Wand geschlagen ist. Ich nehme alles übermäßig wahr, die kühlen Fliesen in meinem Rücken, meine Mutter, die meinen Kopf in ihren Schoß gebettet hat. So fühlt sich also eine Ohnmacht an. Ich versuche, die Beine zu bewegen, aber wie in Albträumen der Kindheit rudern sie nur langsam in der Luft.

»Willst du unsere Tochter umbringen!?« Ich spüre die Vibration des Schreies in ihrem Körper. »Geh weg!«

Auf halbem Weg durchs Zimmer bleibt er prüfend stehen.

Langsam rappele ich mich auf. Er wird mich nie ernst nehmen, wenn ich am Boden liege und um irgendwas bitte – und wenn nur um eine Lüge.

»Lass das«, sagt er, nun nah, und ich spüre, wie sich mein erschöpfter Kopf automatisch an seine Schulter lehnt.

Ich kann nicht mehr. Wir können nirgendwo hin, ich habe sonst niemanden. Wieso habe ich überhaupt mein Zimmer verlassen?

»Vergiss, was ich eben gesagt habe.« Seine Stimme ist kräftig, seltsam beruhigend. »Du überdramatisierst alles. Natürlich liebe ich dich.« Die Worte kommen ihm so leicht über die Lippen, als hätte er sie sich nicht erst zurechtlegen müssen. »Vergiss einfach alles.«

Zwei Tage später gehe ich zu einem Anwalt.

Anthonys Büro könnte einen neuen Anstrich gebrauchen; überall stapeln sich bedrohlich Bücher und Aktenberge, und eine Fliege schwirrt müde im Kreis und setzt sich auf mein Knie. Ich konzentriere mich voll und ganz auf sie. Alles nur, um dem Blick auszuweichen, mit dem er mich ansieht. Er hat schon vor einer Weile aufgehört, sich Notizen zu machen, und schiebt nun den Schreibblock beiseite und beugt sich vor. »Mein Gott, Cheryl. Ist dir klar, in was für einer schwierigen Situation du dich befindest?«

Meine Finger drücken sich in meine Oberschenkel. So schlimm wird es doch nicht sein. Immerhin habe ich meine Geburtsurkunde und den Nachweis über meine brasilianische Staatsbürgerschaft. Kann ich jetzt bitte einfach einen echten Ausweis bekommen und mein Leben weiterführen?

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Seine Augen sind voller Mitgefühl. »Armes Mädchen.«

In dieser kleinen Hinterhofkanzlei, der einzigen, die ich mir leisten konnte, setzt mein Herz aus. Habe ich etwas Wesentliches verpasst, als ich mit Überleben beschäftigt war?

Er legt mir die Sache dar. Ich gelte in jedem Land als illegal. Auch wenn ich noch nicht geboren war, als meine Eltern ihre ersten gefälschten Pässe kauften, auch wenn ich ein Kind war, als sie illegal in die USA einreisten, bin ich nun eine Erwachsene, und mit 23 wird man mich zur Rechenschaft für all das ziehen.

»Aber ich hatte doch keine Ahnung! Ich dachte …« Meine Stimme verebbt, als mir klar wird, dass ich mir über meine rechtliche Situation nie wirklich Gedanken gemacht habe. Von allen Dingen war das mein geringstes Problem. Dad hatte immer gemeint, er würde sich darum kümmern, ich solle mich auf meine Karriere konzentrieren. Und ich hatte nie in Erwägung gezogen, dass er vielleicht eines Tages nicht mehr auf meiner Seite stehen würde – dass ich nicht mein Leben lang auf der Flucht sein wollen würde.

»Okay, schauen wir uns das mal in Ruhe an.« Anthony rückt den Block zurecht, den Stift in der Hand.

Überall lauern potenzielle Fallen. Meine neuseeländische Geburtsurkunde ist zwar ein offizielles Dokument, aber die Namen meiner Eltern darauf und ihre brasilianische Staatsangehörigkeit sind falsch. Wenn ich jetzt als Erwachsene in Neuseeland oder Brasilien einen Pass beantragen würde, würde ich wissentlich diese gefälschte Hintergrundgeschichte ausnutzen. Wenn ich mich an die US-amerikanischen Behörden wende, droht mir eine Verhaftung oder Deportation.

»Aber die Frage ist, wohin sollten sie dich überhaupt deportieren?« Er massiert sich die Schläfen. »Du hast keine Basis, kein Heimatland.« Dad hat immer behauptet, ich wäre im Untergrund sicherer, doch wie sich herausstellt, habe ich keinerlei Rechte, muss aber sämtliche Verantwortung übernehmen.

Meine Blicke wandern durch die erdrückend kleine Kanzlei auf der Suche nach einem Ausweg.

»Okay.« Anthony legt die Hände flach auf den Schreibtisch, wie um seine Gedanken zu beruhigen. »Wir machen Folgendes. Wir gehen zusammen zu der brasilianischen Botschaft in Miami. Meine Frau ist Brasilianerin, deswegen spreche ich Portugiesisch. Vielleicht kann sie sogar mitkommen. Dann …«

»Ich fürchte, so viele Stunden kann ich Sie nicht bezahlen«, platze ich heraus.

»Zahl mir einfach, was du kannst. Das kannst du erst mal wieder wegstecken.« Er schiebt mir die Beratungsgebühr von dreißig Dollar wieder zu.

Ist schon merkwürdig, nicht wahr? Man erkennt erst dann, wie die Menschen wirklich sind, wenn man ihnen nichts mehr zu bieten hat.

Die Autofenster sind weit geöffnet, und der Wind spielt mit meinem Pferdeschwanz. Die Handtasche mit den Unterlagen darin fest umklammert, sitze ich auf der Rückbank in einem Sommerkleid, das enthüllt, wie dürr meine Beine sind. Anthony und seine Frau fahren mich zur brasilianischen Botschaft, und je näher wir kommen, desto nervöser werde ich. Anthony meint, das sei meine einzige Option, obwohl meine Eltern gar nicht aus Brasilien kommen. Eigentlich wollte ich das Lügen ein für alle Mal beenden, aber Anthony sagt, ich müsse das Schritt für Schritt angehen. Ich brauche irgendeine Form von Ausweis, falls ich rasch handeln muss. Für den Fall, dass ich – ich wage kaum, das auszusprechen – vor meinem Vater fliehen muss.

»Weißt du, was mich am meisten ärgert?« Anthony spricht lauter, um den Straßenlärm zu übertönen. »Du hättest vollständige Immunität erlangen können.«

»Was?« Ich beuge mich zwischen den beiden Vordersitzen zu ihnen vor. Seine Frau am Lenkrad runzelt die Stirn.

»Wenn du vor deinem 18. Geburtstag zu den Behörden gegangen wärst, wärst du automatisch begnadigt worden und hättest die Erlaubnis bekommen, in den USA zu leben und zu arbeiten. Du hättest nicht einmal deine Eltern einbeziehen müssen.«

Ich sinke im Sitz zurück, als hätte man mir eine Ohrfeige verpasst.

Er dreht sich zu mir um. »Ich wette, dein Vater wusste das. Deine Mom vermutlich nicht, oder sie hatte zu viel Angst, sich ihm zu widersetzen, aber du hattest die Möglichkeit, völlig legal aus der Nummer rauszukommen.«

Kurz darauf setzt uns Anthonys Frau vor dem Botschaftsgebäude mit den Betonsäulen am Eingang ab und winkt uns zum Abschied.

Nachdem wir stundenlang gewartet haben – wobei ich als einzige Blondine inmitten von Hunderten von Leuten völlig fehl am Platz wirkte –, wird endlich meine Nummer aufgerufen, und wir gehen steifen Schrittes auf einen Mann um die fünfzig zu, der hinter einer Glasscheibe sitzt. Anthony gibt auf Portugiesisch eine stark bearbeitete Version meiner Geschichte wieder, während ich stumm danebenstehe.

»Und wieso spricht sie dann kein Portugiesisch?«, fragt der Mann auf Englisch mit Akzent.

»Na ja, sie ist nicht in Brasilien aufgewachsen.«

»Hmm.«

Allmählich wird mir die Sache zu brenzlig. Das letzte Foto, das die brasilianischen Behörden von mir in ihren Unterlagen haben, wurde aufgenommen, als ich gerade geboren war. Ich könnte irgendeine x-beliebige junge Frau sein, die zufällig an diese Geburtsurkunde herangekommen ist.

»Warten Sie hier.« Der Mann steht auf.

Ich folge ihm mit den Augen, wie er in einem Hinterzimmer verschwindet und die Tür hinter sich schließt. Normalerweise wäre das mein Stichwort, um die Kurve zu kratzen. Meine Füße wollen nichts wie weg, aber ich zwinge mich stehen zu bleiben. Irgendwann muss das ja mal aufhören.

Als er zurückkehrt, nimmt er an seinem Tisch Platz und sieht mir endlose Sekunden lang direkt in die Augen. Ich versuche, unter seinem finsteren Blick nicht den Kopf zu senken. Plötzlich wechselt er ins Englische. »Ich weiß nicht, ob an dieser Geschichte irgendetwas dran ist.« Entschlossen drückt er einen Stempel auf einen Zettel, seine Entscheidung ist endgültig. »Passen Sie auf das Mädchen auf«, sagt er zu meinem Anwalt, schiebt das Papier durch den Schlitz im Glas und ruft den nächsten Antragsteller auf.

Mein Pass wurde genehmigt.

38 | Florida, 24 Jahre alt

Es ist eine laue Nacht, und ich sitze mit meinem Vater in einer kleinen Outdoor-Strandbar, während im Hintergrund leise Jimmy Buffett läuft. Jenseits der Strandpromenade sind die Wellen zu hören, deren rhythmisches Rauschen im Gleichklang mit meinem Herzen zu sein scheint. Vor und zurück, unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Aus Angst vor der Reaktion meines Vaters habe ich meinen Besuch beim Anwalt und in der Botschaft geheim gehalten. Aber trotz allem, was vorgefallen ist, möchte ich ihn nicht verlieren; möchte ich nicht noch die allerletzten Teile meiner Familie verlieren. In den vergangenen Wochen, in denen ich darauf wartete, dass mein Pass bei meinem Anwalt eintreffen würde, hat sich mein Dad so sehr verändert, dass ich ihn überhaupt nicht mehr wiedererkenne. In seinen Augen liegt inzwischen eine unverhohlene Drohung. Selbst jetzt, da ich ihn im Profil betrachte, während er auf das dunkle Meer hinausschaut, verspüre ich das Bedürfnis, diese Leere zu durchbrechen, zu ihm vorzudringen. Schwer schluckend berühre ich seine Hand. »Dad.«

Selbst die Art, wie er sich zu mir umdreht, ein leichtes Grinsen auf den Lippen, ist Furcht einflößend. Als ob er die Geste vorhergesehen hätte. »Ich möchte nicht, dass etwas zwischen uns steht«, sage ich. »Alles, was ich will, ist, dass wir wieder ein gutes Verhältnis zueinander haben. Wie kriegen wir das hin?«

Einen Moment lang sieht er mich ausdruckslos an. »Dann mach was aus deinem Leben und sei erfolgreich.«

»Aber … das bin ich doch.«

»Deine Mutter hindert dich daran, dein volles Potenzial auszuschöpfen; du musst dich von ihr lossagen.«

»Dad, bitte …«

»Was deine Karriere anbelangt, solltest du mir eine angemessene Provision zahlen und meinen Rat beherzigen. Sonst wirst du immer eine Enttäuschung bleiben.«

»Warte mal«, mir bricht die Stimme, »ich habe ein Buch veröffentlicht … bei einem großen Verlag … mit 21.«

Er winkt ab. »Das ist doch nichts, Bhajan. Du solltest längst weiter sein.« Nichts? All die Jahre, all meine Arbeit. Und er nennt es nichts? Er beugt sich vor. »Gib mir dreißig Prozent deiner künftigen Einnahmen, dann lassen wir deine Mutter zurück und fangen von vorn an.«

Die Welt erstarrt zu einem Standbild. Die Wellen frieren mitten in der Bewegung ein. Was hat er da eben gesagt? »Was du da von mir verlangst, ist irre!« Meine Hände fangen an zu zittern. »Ist dir klar, was du da sagst?«

Er lächelt mit leerem Blick. »Es ist allein deine Entscheidung, ob du erfolgreich sein möchtest oder nicht. Wenn du unbedingt scheitern willst, dann mach ruhig weiter mit dieser Unabhängigkeitsnummer. Ohne meine Hilfe wirst du nie wieder ein Buch schreiben, wirst du nie gesund werden.«

»Dad, sieh mich an. Ich werde meine Mutter niemals hintergehen. Das kannst du unmöglich von mir verlangen.«

»Klar kannst du, du bist nur zu schwach. Deine Gefühle standen dir schon immer im Weg.«

Ich soll meine Mutter im Stich lassen. Und dreißig Prozent meiner künftigen Einnahmen an ihn abdrücken. Das ist es also. Ein knallharter Handel. Eine Möglichkeit, seine Anerkennung zu gewinnen. Ist das wirklich derselbe Mann, der mir mit vier Jahren eingeschärft hat, ich solle mich nie fremdbestimmen lassen? Sondern selber meinen Kopf einschalten? Unfähig, diese beiden Versionen miteinander in Einklang zu bringen, starre ich vor mich hin.

Die Zeit läuft rückwärts, und auf einmal bin ich wieder das kleine, sommersprossige Mädchen mit Seitenzöpfen, die Daumen selbstbewusst hinter die Träger ihrer Latzhose eingehakt. Meine kleine Hand in seiner großen, während wir unterwegs sind zu einer neuen Mission, einem neuen Abenteuer. Die Erinnerung steht mir so lebendig vor Augen, als ob es gestern gewesen wäre, und wenn ich ihn mir jetzt anschaue, sehe ich, wie sehr er sich verändert hat.

Wahrscheinlich sollte ich wütend sein, doch stattdessen verspüre ich eine überwältigende Traurigkeit, die mir das Herz schwer macht. Jahrelang habe ich dieses lächelnde Mädchen zu einem auf Erfolg programmierten Roboter getrimmt. Ich habe versucht, Harbhajan auszumerzen, damit er mich akzeptiert. Insgeheim habe ich es wohl immer geahnt – der Preis für seine Liebe ist es, wie er zu werden. Der Preis für seine Liebe ist es, alles zu zerstören, was mich ausmacht.

Aber ich bin nicht mehr sein kleines Mädchen: Ich bin so groß wie er und blicke in seine leeren Augen. »Ich war bei einem Anwalt.«

Seine Hand ballt sich auf dem Tisch zur Faust, und ich sehe den Schlag schon kommen. Doch als ich schon zurückweiche, bremst er sich, weil ihm einfällt, dass wir nicht allein sind. Deshalb habe ich die Strandbar ausgesucht. Mein Hals schnürt sich zu, und ich muss mich zwingen weiterzusprechen. »Weißt du, was mir bewusst geworden ist, als der Anwalt mir erklärte, dass die Situation ausweglos ist? Dass du es warst, der mich in diese Lage gebracht hat. Es ist viel zu vertrackt, um reiner Zufall zu sein. Viel zu clever … Wieso sollte ich also ausgerechnet dem Menschen vertrauen, der mir eine Falle gestellt hat?« Ich hoffe beinahe, dass er mir eine plausible Antwort liefern kann. Dass ich mich täusche.

»Wo willst du schon hin, krank und mittellos, wie du bist, hm, Bhajan?« Und da sehe ich es in seinen Augen – blanken Hass.

Um uns herum dreht sich die Welt ganz normal weiter, spazieren Familien entlang, halten Paare Händchen, lachen junge Leute auf der Promenade, aber für mich ist alles vorbei. Denn er hat unseren Kodex gebrochen. Unseren unumstößlichen Kodex der Gesetzlosen.

Offenbar war ich für ihn nicht mehr als die Goldkurse, auf die er spekuliert hat. All die Jahre hat er darauf gewartet, dass sich seine Investition auszahlen, Gewinn abwerfen würde. All seine Sprüche in puncto Vertrauen und Loyalität waren nicht mehr als eine Masche, von der er wusste, dass sie bei mir ziehen würde. Nach 24 Jahren muss ich feststellen, dass der größte Clou, die beste Show, die er abgeliefert hat – die mit mir war.

Ich stehe auf und durchquere die Bar, vorbei an einem Paar, das zu Sinatra aus der Jukebox tanzt, und übergebe mich auf der kargen Toilette. Ich bin damit aufgewachsen, mich von Fremden fernzuhalten, niemandem zu vertrauen. Aber jetzt gibt es niemanden, den ich um Hilfe bitten kann, das Geld, das ich mir erarbeitet habe, ist weg, und ich bin zu krank, um neues zu verdienen. Er hat gewonnen. Meine Hände zittern unter dem kalten Wasserstrahl. Mir war gar nicht aufgefallen, wie dünn sie schon wieder sind, wie die Knochen herausstechen. Die Hände einer alten Frau.

Ich erschrecke, als jemand an die Tür pocht. »Hallo, sind Sie fertig da drin?«

Ja, ich bin fertig. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu ihm zurückzugehen.

Als ich mich durch die Bar schlängele und unseren Tisch erreiche, legt Dad ein wenig Bargeld hin und steht auf. Einen Moment lang stehen wir nebeneinander, dann tritt er nach draußen auf die Promenade. Er blickt zurück, und ich zögere, die beiden leeren Gläser neben mir. In aller Seelenruhe dreht er sich um und stolziert davon wie ein arroganter Fremder, der genau weiß, dass ich ihm folgen werde. Ich sehe ihm hinterher, während die Luft nach Salz schmeckt und die Lichter des Kinderkarussells umherwirbeln. Wie in Trance lausche ich der Brandung und spüre, wie die Luft meine Lungen füllt und verlässt. Ich schaue hinaus auf den schwarzen Ozean, als ich ein Déjà-vu habe. Es ist nur die Erinnerung an eine schimmernde Kuppel, die in den Nachthimmel ragt, aber sie ist so lebendig, dass ich beinahe meine, sie über den brechenden Wellen zu erkennen.

Ein goldener Tempel, der über dem dunklen Wasser schwebt. Das Gefühl, als ich die Augen schloss und sich alle Stimmen zu einem Singsang vereinten. Der Duft von Weihrauch und der Klang der Tabla-Trommeln. »Ek ong kar, sat nam.« Es gibt nur einen Gott. Sein Name ist die Wahrheit. Nach all den Kontinenten und Namen, die wir hinter uns gelassen haben, bin ich einen Moment lang wieder vier Jahre alt. Bin wieder Harbhajan. Das Mädchen, das alles getan hätte, um von ihren Eltern geliebt zu werden.

Zwei Jahrzehnte später ist es nicht das, was mir die Kraft gibt, standhaft zu bleiben. Ich weiß, dass ich nicht geliebt werde. Es ist sein eigenes Mantra; das Mantra, an das mein Vater nicht mehr glaubt, das mich davon abhält, ihm zu folgen. Ich zwinge mich, noch immer auf das dunkle Meer hinauszusehen, lange nachdem der goldene Schimmer verschwunden ist. An der Erinnerung festzuhalten – auch wenn ich nur noch irgendein Mädchen vor einer Bar bin. Denn ich habe mich gegen ihn und für seine Prinzipien entschieden. Ich habe mich für die Wahrheit entschieden.

39 | Florida, 24 Jahre alt

Ich muss meine Mutter mitnehmen.

Seit ich 13 war, habe ich die Anzeichen für die wachsende Gewalttätigkeit meines Vaters ignoriert. Das wird mir nie wieder passieren. Jetzt gilt es, rasch zu handeln.

Wäre ich gesund, hätten wir es vielleicht allein hinbekommen. Aber das Mädchen, das früher jederzeit bereit war, die Beine in die Hand zu nehmen, kann sich nun kaum auf den Beinen halten. Meine Medikamente sind aufgebraucht, und seit er mir meine Ersparnisse weggenommen hat, weigert er sich, mir neue zu kaufen. Meine Mutter und ich können nicht zu den Behörden gehen, wir haben keine Anlaufstelle, keine Freunde und gerade mal hundert Dollar übrig. Also schiebe ich alle Emotionen beiseite und versuche, ganz rational nachzudenken. Wer hätte ein Interesse daran, uns zu helfen? Nächtelang liege ich wach und spiele alle Optionen durch, die wir nicht haben, betrachte sie aus allen Perspektiven. Bis nur noch eine Option übrig ist.

Wir werden unseren Erzfeind um Hilfe bitten müssen.

Ich weihe meine Mutter in meinen Plan ein. Wäre es nicht schön, jemandem zu gönnen, dass er nach all den Jahren gesiegt hat? Dass die Menschen, die man jahrelang gejagt hat, plötzlich zu einem kommen und einen brauchen?

Es ist ein riskantes Unterfangen, meinen Großvater zu kontaktieren. Aber er ist der Einzige, der uns am ehesten helfen würde, uns aus dieser Situation zu befreien, schon allein aus Genugtuung, recht gehabt zu haben. Aus Genugtuung, mich ausfindig gemacht zu haben. Und so werde ich mich – die Tochter seiner Tochter – als Köder benutzen.

Eine Woche später, es ist ein sonniger, windiger Tag, schaue ich aus dem Fenster unseres Motelzimmers, um zu überprüfen, ob da draußen, wo Kinder auf der Promenade spielen, die Luft rein ist. In meiner Hosentasche steckt mein neuer brasilianischer Pass, den ich gestern in Anthonys Kanzlei abgeholt habe. An der Tür stehen zwei kleine Koffer sowie Tigger in seiner Katzenbox. Alles andere lassen wir zurück; wir konnten in der Hektik nur das Nötigste zusammenpacken, denn mein Dad kann jede Sekunde aus dem Supermarkt zurückkommen.

»Lass uns gehen«, sage ich zu meiner Mutter.

»Was sollen wir damit machen?« Sie reicht mir ein Blatt Papier.

Es ist die brasilianische Geburtsurkunde meines Vaters, die meine Mom als eine Art Versicherung verwahrt hat. Wertvolle Sekunden verstreichen. »Wir sollten sie ihm nicht geben, Bhajan. Nach allem, was er getan hat.« Sie steht nervös an der Tür. »Aber das überlasse ich dir.«

Das Schlimmste weiß sie nicht einmal, seine Versuche, mich dazu zu überreden, sie zurückzulassen. Ich zögere. Ohne dieses Papier hat er keine Option mehr, zu der er zurückkehren kann, nur noch seinen echten Namen. An dem kleinen Tisch mache ich kurz halt, hebe seine Teetasse an und klemme die Geburtsurkunde darunter. Er hat vieles in seinem Leben übersehen, aber nie seine Teetasse.

Hastig eilen wir die Treppe hinunter und hinaus auf die Promenade, wo ich mich ständig umsehe, mich zwinge weiterzugehen, angetrieben vom Adrenalin. In einem großen Hotel machen wir kurz halt, damit Mom ihre E-Mails checken kann. Mein Großvater hatte gesagt, er würde ihr die genauen Instruktionen schicken. Ich behalte den Hoteleingang im Blick, während sie am Computer sitzt und liest. Die E-Mail, verfasst auf Luxemburgisch, sieht beunruhigend lang aus.

»Und was jetzt?«, frage ich.

»Es wird dir nicht gefallen, was er vorschlägt. Er nennt es einen Kompromiss.« Es liegt Angst in ihrer Stimme.

Als wir das Hotel verlassen, bin ich vollkommen gefasst, und es stellt sich etwas Wohlvertrautes ein: Auf die Abspaltung meiner Gefühle ist eben Verlass. Ein Teil von mir läuft, aber der andere Teil beobachtet alles von oben und findet das ziemlich … interessant.

Wir stehen an einer viel befahrenen Straße und warten darauf, dass der Kompromiss meines Großvaters eintrifft. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich damit umgehen soll, aber das war seine Bedingung. Er will, dass jemand, den er kennt, uns im Auge behält, sicherstellt, dass wir wirklich gehen, wirklich den Kontakt zu meinem Vater abbrechen. Deshalb schickt er uns jemanden, von dem er glaubt, er sei vertrauenswürdig. Autos rasen vorbei, und ich blinzle gegen die Sonne, blicke der Zukunft mit Furcht entgegen.

»Dein Vater hätte dir deine Geburtsurkunde nie dagelassen.« Mom ist aufgewühlt, gedanklich woanders. »Er hätte sie verbrannt.«

Ich nehme den Blick nicht von der Straße. Denn genau das ist der Punkt: Ich bin nicht wie er.

Ein dunkler Wagen löst sich aus dem Verkehr und hält in der Nähe. Die Beifahrertür geht auf, und eine Frau in Baggy Jeans steigt aus. Während ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, beobachte ich, wie meine Schwester auf mich zukommt. Chiara bleibt einen Schritt von mir entfernt. Ungläubig mustert sie die erwachsene Version der 13-Jährigen, die sie zuletzt vor mehr als zehn Jahren gesehen hat. »Mein Gott, Bhajan …«