40 | Unterwegs/Luxemburg, 24 Jahre alt

Chiaras Ehemann Walter, rotbackig und selbstsicher, fährt, während sie uns erzählt, wie sie sich in einer Spelunke in Washington, D.C. kennengelernt haben, wo sie kellnerte und regelmäßig in Schlägereien verwickelt wurde – wie sie, mit den Knöcheln knackend, stolz unterstreicht. Ich sitze zusammengesackt neben Mom und Tigger auf der Rückbank und bin fasziniert. Ihre Verwandlung von der Jasagerin mit dem einschmeichelnden Lächeln zu dieser tätowierten, qualmenden Gestalt mit derbem Umgangston ist ziemlich überzeugend. Aber ich vermute, das ist einfach die Rolle, in die sie geschlüpft ist, um in ihr neues Leben zu passen – und je länger ich sie beobachte, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass sie damit ihre Ängste überspielt.

Ich betrachte Walters Profil. Er hat definitiv keinen blassen Schimmer, was Chiaras Vergangenheit angeht. Vermutlich was vieles angeht. Das ist auch der Grund, weshalb Chiara so angespannt ist. Offenbar will sie meine Mutter testen, sehen, wie viel Kampfgeist noch in ihr steckt, und wechselt zwischen einem vertraulichen und vorwurfsvollen Tonfall. Chiara wird laut, macht meine Mutter für all ihre derzeitigen Probleme verantwortlich, selbst dafür, dass Walter seit Jahren arbeitslos ist. Sie leben von Chiaras Einkommen, aber hauptsächlich von dem Geld, das ihr unser Großvater monatlich überweist. Kein Wunder, dass Chiara so gereizt ist.

Ich möchte schreien, wenn ich sehe, wie meine Mutter unter ihren Vorwürfen immer mehr schrumpft. Zuletzt hatte sie sich so gut berappelt. Sie muss nur noch ein wenig länger durchhalten. Um mir zu helfen. Chiara und ihr Mann fahren uns nach New York City, damit ich noch mal zu meinem Arzt gehen kann, bevor wir von dort aus nach Luxemburg fliegen. Mehr hat uns mein Großvater nicht zugestanden. Ich blicke zu meiner Mutter neben mir auf der Rückbank und spüre eine überwältigende Erschöpfung, die nichts damit zu tun hat, wie viel wir gelaufen sind. Und auch nichts mit dem konstanten Schmerz in meinem Bauch. Es ist vielmehr die Last der Verantwortung; ich kann mich nicht erinnern, dass es je eine Zeit gab, in der Liebe nicht mit dieser Schwere verknüpft war. Mit dem Gefühl, jemanden retten zu müssen.

»Und was hast du zuletzt so gemacht, Bhajan?« Chiara ändert die Taktik, damit sie mich vom Beifahrersitz aus beobachten kann. »Gearbeitet?«

Ich bewahre die Fassung. »Nein.«

Sie hebt eine Augenbraue. »Was hast du dann gemacht?«

»Ach«, sage ich schulterzuckend, »nicht viel.«

Ich werde diesen Psychos bestimmt nichts von meiner Modelkarriere und meinem Buch erzählen. Cheryl Diamond ist der einzige Name, den sie nicht kennt, und sie wird ihn auch nie erfahren. Ich werde Chiara keinen Grund liefern, neidisch zu sein, und meinem Großvater nichts, wozu er Nachforschungen anstellen könnte. Denn dann sind beide am gefährlichsten.

»Genießt einfach das Leben, was?« Walters Bauch wabbelt, als er gluckst vor Lachen.

Wir machen irgendwo zwischen North und South Carolina halt für die Nacht. Als wir auf dem leeren Parkplatz die Koffer ausladen, passiert es. Chiara kann einfach nicht aufhören, Mom niederzumachen und all ihre Wut der vergangenen Jahre bei ihr abzuladen, während wir anderen viel zu müde sind, um klar zu denken. »Du hast dich immer aufgeführt wie eine Prinzessin«, faucht Chiara, »ich frage mich echt, wieso ich mir das angetan hab mit dir.« Sie hebt einen Koffer hoch und wirft ihn gegen Moms Bein. Das wars – damit ist sie einen Schritt zu weit gegangen.

Ich stelle mich zwischen Chiara und Mom. Ich mag abgemagert sein, aber ich bin immer noch einen Kopf größer als beide. »Prinzessin? Ist das dein Ernst?« Ich balle die Fäuste. »Eine Mutter, die drei Kinder großziehen und ständig von einem Land ins andere, von einem Kriegsgebiet ins nächste ziehen muss? Hast du sie noch alle?«

»Du bist doch genauso, Miss Perfect!«, schreit sie. »Schaust ständig auf alle anderen herab! Du blöde Schlampe, wie kannst du sie auch noch verteidigen? Sie hat uns das doch alles überhaupt erst eingebrockt, indem sie deinen Vater geheiratet hat. Deinen Vater! Du bist genau wie er …«

Ihr Ehemann steht wie angewurzelt neben dem Auto, während ich auf Chiara zugehe. »Wag es ja nicht, Mom zu verurteilen und so scheinheilig zu predigen.« Alles, was ich spüre, ist Zorn. Ich bin voll davon. »Halt dich von meiner Mutter fern!«

Ich greife nach meinem Koffer und gehe auf die Lichter des Hotels zu. Alles an mir ist erschöpft, und so nehme ich den Lufthauch der Bewegung zu spät wahr. Ihr Schlag trifft mich ins Genick. Ich werde nach vorn geschleudert, mit dem Gesicht auf den Asphalt. Da wirft sie sich erneut auf mich und prügelt auf meinen Rücken ein, trommelt mit den Fäusten auf meine Wirbelsäule. Ich versuche, mich hochzudrücken, doch meine dünnen Ärmchen geben nach.

Mit einem Mal hören die Schläge auf, und es gelingt mir, mich auf dem Boden umzudrehen. Ihr Ehemann starrt Chiara an, als hätte er eine Fremde vor sich, während Mom sie von mir wegzerrt. Eine traurige Gewissheit, so real wie ein Gewicht, macht es mir schwer, mich aufzusetzen. Absurderweise fange ich an zu lachen. Denn dieser Moment – sie mit wütendem Irrsinn im Gesicht, ich mit arrogant trotziger Miene – ist das erste Mal, dass wir ehrlich zueinander waren.

Viertausend Meilen entfernt laufen meine Mutter und ich durch einen gespenstisch stillen Flughafen, in dem man das Echo unserer Schritte hört. Luxemburg. Seltsam, wenn ich darüber nachdenke, dass wir uns nach all den Jahren zu unserem Verfolger begeben. In meiner Vorstellung ist er überlebensgroß; ein garstiger Riese, der das Leben anderer kontrolliert, mich jeden Schatten ängstlich beäugen lässt. Aus irgendeinem Grund stelle ich ihn mir zudem in Uniform vor. Ich schiebe den Träger von Tiggers Box höher und versuche, die Schultern zu straffen. Was, wenn ich zu hoch gepokert habe? Was, wenn ich das Leben meiner Mutter aufs Spiel gesetzt habe?

Mom und ich wechseln einen Blick. Da sind sie.

Am Ausgang steht stocksteif ein ernst dreinblickendes Paar um die neunzig und mustert uns. Meine Großeltern. Zum ersten Mal blicke ich in die Augen des Mannes, vor dem ich mich so lang gefürchtet habe. Sie sind dunkel, dunkelblau, wie meine, aber unergründlich. Sein Gesicht ist eine Landkarte aus scharfen Linien, doch man kann immer noch erkennen, dass er einst sehr gut aussehend gewesen sein muss. Er trägt einen Tweedanzug, keine Uniform. Etwas wie Hoffnung kommt in mir auf, als ich beinahe schüchtern auf sie zugehe.

Er ist größer als ich und sieht selbst mit 94 noch stattlich aus. Meine Großeltern mustern mich von oben bis unten, das schwarze T-Shirt und die Jeans hängen lose an meinem dürren Körper, und ich fühle mich an meine Modelcastings zurückerinnert. Diese schleichende Furcht, ich könnte nicht genügen. Er studiert mein Gesicht, das dem meines Vaters gleicht. Dann erhellt sich seine Miene plötzlich und wird lebendig.

Ich lächle.

»So«, er nickt zufrieden, »hab ich dich endlich gefunden.«

Nach dreißig Jahren, etlichen Kontinenten und unzähligen Identitäten stehen wir auf demselben Dachboden im ländlichen Luxemburg, aus dem meine Mutter vor Jahrzehnten geflohen war. Beengt und nur spärlich beleuchtet durch die kleinen Fenster in der Dachschräge. Der Unterschied zu damals ist, dass ich hier bin.

In den nächsten Tagen lerne ich, dass man von mir erwartet, morgens mit meinen Großeltern am Tisch in der holzgetäfelten Küche zu sitzen und dabei zuzusehen, wie sie ihren Kaffee schlürfen. Mein Großvater spricht gepflegtes Englisch, aber meine Großmutter, die nur Italienisch und Französisch kann, belässt es dabei, mich steif und ungerührt zu beobachten, während ich nervös mit den Händen herumfummele. Sie ist klein und zierlich, und ich überrage sie in meinen Motorradstiefeln und meinen schwarzen New Yorker Klamotten, aber mit nur einem Blick weist sie mich in meine Schranken. Dieser eine Blick, der mich daran erinnert, dass egal was geschieht, ich immer seine Tochter sein werde.

Es beschämt mich, wie schnell sie es geschafft haben, dass ich mich klein fühle, schwach und pleite, weit weg in einem unbekannten Land, in dem ich niemanden kenne. Selbst wenn ich Geld hätte, könnte ich nicht wegfliegen. Mein Großvater hat die Behörden informiert, dass ich mit einer billigen Kopie eines brasilianischen Ausweises eingereist und die Tochter des von Interpol gesuchten Mannes bin. Die Tochter des Mannes, dem er von Anfang an misstraut hat.

Dabei sind sich mein Großvater und mein Vater in einem erstaunlich ähnlich, wie ich am dritten Tag feststelle: Beide besitzen die Fähigkeit, mir sofort meinen größten Schwachpunkt anzusehen. »Deine Schwester ist schon vor Langem zu uns gekommen.« Er nippt an seinem Kaffee. »Sie ist ein nettes Mädchen.«

Ich rutsche unruhig hin und her. Neben mir sitzt meine Mutter und fleht mich mit erschöpftem Blick an, nichts zu sagen. Alle haben Angst vor ihm, davor, dass er außer sich gerät, wenn jemand seiner Sicht der Dinge widerspricht.

»Deine Schwester arbeitet hart, das musst du auch noch lernen. Du bist es gewohnt, den lieben langen Tag nichts zu tun und von deinem Vater ausgehalten zu werden.« Am liebsten möchte ich aus der kleinen Küche davonrennen. Aber wie so oft spüre ich die Furcht meiner Mutter und nicke ihr zuliebe lediglich. Er studiert mein Gesicht. »Du musst lernen, mehr wie deine Schwester zu sein.«

Heute werde ich zum Justizministerium gehen und mich den Behörden stellen.

»Nicht dort!« Bopa – so hat mich mein Großvater angewiesen, ihn zu nennen – schüttelt vehement den Kopf. »Da lang!« Er deutet mit seinem Gehstock geradeaus wie ein Oberbefehlshaber und geht, seine Hüft-OP zum Teufel jagend, schnurstracks auf ein schlossartiges Gebäude im Zentrum zu.

»Was heißt eigentlich Bopa?«, flüstere ich.

Sie schaut überrascht. »Das heißt ›Opa‹ auf Luxemburgisch. So wie Nonna auf Italienisch ›Oma‹ heißt.«

»Ah.« Die letzten Tage habe ich einfach mitgespielt, da er in der Sache ziemlich hartnäckig war. Am Fuße der Treppe halte ich kurz inne und blicke an dem imposanten Gebäude empor.

»Forvards, forvards.« Bopa deutet ungeduldig zum Eingang, sichtlich genervt von mir.

Was ich gleich tun werde, widerspricht meiner Erziehung, all meinen Instinkten, aber ich möchte die Chance haben auf etwas, was für die meisten Menschen selbstverständlich ist: eine Identität, das Recht zu leben, das Recht, irgendwo legal zu wohnen. Deshalb muss ich es tun. Ich muss dem System vertrauen.

Ich stehe vor dem Oberinspektor des Justizministeriums. Das Büro ist klinisch nüchtern eingerichtet, und alle sprechen über meinen Kopf hinweg auf Luxemburgisch, aber alles, was ich höre, ist die Stimme meines Vaters: Das überlebst du nie. Vor den Glaswänden des Büros ist der Flur voll von Beamten, die betont langsam vorbeigehen oder mich offen anstarren. Mit steinerner Miene. Nach all den Horrorgeschichten, die mein Großvater in den vergangenen Jahrzehnten über uns verbreitet hat, und all den Kontakten, die er genutzt hat, um uns zu jagen, beäugt man mich mit Misstrauen und morbider Faszination. Die Tochter eines Monsters.

Angestrengt versuche ich zu erahnen, was der Inspektor mit meiner Mutter und meinem Großvater bespricht. Obwohl alle, die hier arbeiten, es fließend beherrschen, weigern sie sich, mit mir Englisch zu sprechen, und reden stattdessen in rasendem Tempo auf Luxemburgisch über mich hinweg. Spielen mit meinem Leben in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Immer mehr Leute kommen aus ihren Büros, starren mich an, flüstern miteinander.

Ich spreche einen der Beamten an. »Das alles hat angefangen, noch bevor ich geboren wurde. Die gefälschten Pässe, das alles. Ich versuche nur, das wieder in Ordnung zu …«

Doch er winkt nur ab und ignoriert mich. Einen Fall wie meinen hat es so noch nie gegeben; laut Gesetz habe ich Anspruch auf die luxemburgische Staatsbürgerschaft, da meine Mutter hier geboren wurde – aber natürlich gibt es einen Haken. Als meine Eltern meine Geburt haben eintragen lassen, taten sie das unter falschem Namen. Deshalb bin ich vor dem Gesetz die Tochter eines brasilianischen Paares, das nicht existiert, und habe keinerlei Rechte in Luxemburg.

Je mehr Leute hereingebracht werden, um meinen Fall zu diskutieren, desto klarer wird es – das Versprechen meines Großvaters, wonach sich alles von allein klären würde, sollte mich vermutlich vor allem ins Flugzeug locken. Ich bin gefangen im Niemandsland. Mein Besuchervisum für Europa läuft in weniger als drei Monaten aus. In die USA darf ich nicht mehr einreisen. Und nun, da ich die Wahrheit gesagt habe, haben sie mich. Die Polizei, die Beamten kennen mein Gesicht und haben meine Fingerabdrücke genommen. Das unsichtbare Mädchen wird in einem gläsernen Büro festgenagelt. Ich weiß nicht, ob ich losweinen oder den Schreibtisch dieses Mistkerls umwerfen soll, dass alle Blätter durcheinanderwirbeln. Man zieht mich zur Rechenschaft für etwas, das jemand anderes getan hat, noch ehe ich auf der Welt war.

Schlussendlich droht das Außenministerium, mich abzuschieben.

Zurück auf dem Dachboden liege ich im Bett und starre an die Decke. Wenn man mir nur damit drohen würde, mein restliches Leben im Exil zu verbringen, könnte ich damit vielleicht noch leben. Aber nun, da ich vor mir selbst zugeben musste, was alles vorgefallen ist, halte ich es kaum aus. Albträume rauben mir den Schlaf, ich schlafe nie mehr als zwei Stunden am Stück. Immer wieder spielen sich die gleichen Szenen meiner Kindheit vor meinem inneren Auge ab, bis ich schweißgebadet aufwache. All die Jahre später spüre ich noch immer den Verlust meines Bruders, sehe Chiara noch immer, wie sie an jenem Abend die Treppe zu mir hinaufsteigt.

Ich versuche die Wut, die Angst beiseitezuschieben, aber sie kommt wieder hoch, sobald meine Großeltern über Chiara reden, sie loben. Jedes Mal fleht mich Mom mit einem Blick an, die Wahrheit hinunterzuschlucken. Aber zittrig vom Schlafentzug fällt es mir schwer, meine Emotionen zu verbergen. Bopa spürt natürlich die unterschwellige Anspannung. Wie jeder gute Vernehmungsbeamte, der eine Lüge wittert, stichelt er, fragt mich, ob ich nicht Chiara begrüßen möchte. Wenn sie anruft, beobachtet er mit messerscharfem Blick meine Mimik. Lauscht aufmerksam jedem meiner Worte. Schlägt vor, ich solle Chiara sagen, dass ich sie vermisse, und ich weiß, in Wirklichkeit ist es gar kein Vorschlag, sondern ein Befehl.

Ich bin gefangen. Bopas Krankenversicherung deckt die Kosten für meine Notfallmedikamente, die Arztbesuche und den Krankenhausaufenthalt, der laut den Ärzten nötig sein wird, da meine inneren Blutungen mit jedem Tag stärker werden. Ohne diesen Dachboden würde meine Mutter auf der Straße sitzen. All das weiß er.

Jedes Mal, wenn ich rauswill, jedes Mal, wenn ich zum Supermarkt im nahe gelegenen Dorf gehe, muss ich zuerst Bopa um Erlaubnis bitten und hinterher alles detailliert berichten, damit er angebliche Lücken in meiner Geschichte aufspüren kann. Diese Nachbesprechungen machen mich so wahnsinnig, dass ich immer seltener vor die Tür gehe. Aber ich unternehme immer wieder Versuche. Eines Morgens schleiche ich mich auf Zehenspitzen, Jacke und Schuhe bereits angezogen, die Treppe hinunter; nach all unseren Fluchtaktionen bin ich darin schließlich geübt. Aber Bopa hat den Sessel im Wohnzimmer verrückt, sodass ich auf dem Weg zum Eingang nicht unbemerkt an ihm vorbeikomme.

»Warte!«

Die Hand auf der Türklinke lasse ich die Schultern sacken. Ich war so nah dran.

»Wo gehst du hin?«

»Ich gehe spazieren.«

»Und wohin?«

»Einfach um die Felder herum.«

»Wen triffst du?«

»Ich gehe nur eine kleine Runde.« Wir stehen uns gegenüber, und ich mache einen Schritt nach hinten, ein Zeichen von Angst, das ich sofort bereue.

»Falls du irgendwo anders hingehst«, sagt er ruhig, »werde ich das herausfinden.«

So weit ist er noch nie gegangen, und ich starre ihn ohnmächtig an.

»Deine Eltern dachten, sie könnten davonlaufen, aber ich habe sie überallhin verfolgt. Kanada. Die Bahamas. Sie haben gelogen, sind geflohen, aber ich habe jeden Anruf aufgezeichnet. Ich habe euch immer gefunden.« Er deutet über die Schulter ins Wohnzimmer, wo sich mannshoch fein säuberlich Kassettenbänder stapeln. Ein Schaudern überkommt mich; die ganze Zeit waren sie hier, gut sichtbar. Die Gespräche mit meiner Mutter, nachdem sie geflohen war; die Gespräche, die er versprach nicht aufzuzeichnen. Ich starre stumm auf den Kassettenturm. Er ist stolz darauf; das verrät sein Grinsen. Ein Grinsen, das besagt, dass er uns alle übers Ohr gehauen hat, weil er sich nicht an die Regeln gehalten hat.

»Wo ist der Unterschied?«, sage ich.

Er runzelt die Stirn.

»Du hast gedroht, ihre Kinder wegzunehmen. Sie haben gelogen, um dem zu entgehen. Und du hast gelogen, um sie zu aufzuspüren. Wo ist dann der Unterschied zwischen euch?«

Noch während ich das sage, staune ich, dass mir das nicht früher aufgegangen ist. Einerseits war da mein Großvater mit seinen Drohungen, den aufgebauschten Interpol-Fahndungen, den Briefen an die örtliche Polizei, stets offiziell und mit Stempel, und alles nur, weil er beim Geheimdienst war. Nur weil er es konnte. Und dann war da mein Vater mit all seinen Regeln und seinen unerreichbaren Ansprüchen, der uns eine fürchterliche Angst vor Außenstehenden eintrichterte … Waren wir letztlich nur die Bauernopfer in einem Krieg zwischen zwei sturen, paranoiden Männern?

Mein Vater muss gewusst haben, dass keine Notwendigkeit mehr bestand zu fliehen. Ja, er hatte sämtliches Anlagekapital seiner Investoren gestohlen, aber nachdem er neue Pässe gekauft hatte, als ich neun war, waren wir erfolgreich untergetaucht, hatten alle Spuren verwischt. Wir hätten uns niederlassen, ein normales Leben aufbauen können. Doch stattdessen ist mein Vater immer weitergezogen, hat weiterhin unser Leben riskiert, uns isoliert. Vielleicht hat er die Vergangenheit benutzt, um uns zu kontrollieren, oder vielleicht waren wir so sehr daran gewöhnt, in konstanter Angst zu leben, dass wir nicht mehr damit aufhören konnten.

Aber nun weiß ich sicher, dass alles ein geistiges Produkt dieser beiden Männer war. In ihrem Zorn haben sie die Monster erschaffen. Sie haben Interpol und eine junge Familie in ihren Machtkampf hineingezogen, in ihren Kampf, sich gegenseitig auszutricksen, koste es, was es wolle. Mein Gott, sie sind genau gleich. Nur in unterschiedlichem Gewand. Der Geheimdienstagent und der Yogi. In ihrer Rachsucht haben sie uns das Leben zur Hölle gemacht, wir waren ihre Opfer. Wir waren die Leidtragenden.

Die Hand auf der Türklinke sehe ich meinen Großvater an. »In Wahrheit, Bopa, hast du uns nie gefunden. Du hast herausgefunden, wo wir uns aufhielten; und dann bist du hin und hast mit der Polizei geredet.« Ich bemühe mich, gelassen zu bleiben. »Außerdem, mich hast du nie geschnappt, Bopa. Ich habe meine Mutter gebeten, dich anzurufen. Ich hätte noch ewig davonlaufen können.«

Mag sein, dass er Macht hat, aber ich möchte ihn daran erinnern, wer von uns, wer von uns genau, schneller als der Teufel ist. Ich drücke die Klinke und bin schon durch die Tür – quer über die Felder, bis ich das Haus weit hinter mir gelassen habe. Über die Bahngleise zum Ortseingang der nächsten kleineren Stadt. Ich beeile mich, brauche Ablenkung, muss mit jemandem reden. Schließlich sehe ich meine Freundin am Zaun des nächsten Feldes stehen. Regungslos, als ob sie schon auf mich gewartet hätte.

»Hey.« Ich stütze die Ellenbogen auf dem Holzzaun auf. »Wie gehts?« Der Tag ist windig und rau wie immer, die Wolken hängen tief. Meine Stiefel versinken im Schlamm. Während ich den Mantel enger ziehe, beschließe ich, es ihr einfach zu erzählen. »Es wird eine große Anhörung vor Gericht geben, bei der sie entscheiden, was mit mir passieren soll …« Ich merke, wie ich mich selbst umarme, als ob das irgendwie helfen würde. »Ich habe das Gefühl, dass die Staatsanwältin etwas gegen mich hat. Na ja, du weißt ja, wie Bürokraten so sind. Beziehungsweise, vielleicht auch nicht.«

Die Kuh sieht zu mir hoch und kaut Gras.

41 | Luxemburg, 24 Jahre alt

Als vehementer Verfechter von Regeln hat Bopa eine Anwältin für meine Anhörung engagiert. Es scheint ihm zu schaffen zu machen, dass ausgerechnet das Recht, das er sein Leben lang so hochgehalten hat, nun gegen ihn arbeitet. Er möchte erreichen, dass ich Luxemburgerin werde und für immer bleiben kann, aber mein dreimonatiges Besuchervisum läuft bald aus. Irgendwie scheint er davon auszugehen, dass man schon auf ihn hören und mir meinen Pass geben wird. Seit mehr als neunzig Jahren lebt er auf diesem Planeten und hat immer noch nicht kapiert, dass das Recht selten gerecht ist.

Die Staatsanwältin und eine Reihe von Topanwälten tagen im Justizgebäude in der Cité judiciaire, um über meinen Fall zu beraten. Während ich die Treppe hinaufgehe, versucht mich meine Mutter zu beruhigen. »Die Chancen stehen so gut wie nie.« Wir haben einen offiziellen DNA-Test anfertigen lassen, um nachzuweisen, dass ich ihre Tochter bin. Nun können sie mir mein Recht auf die Staatsbürgerschaft nicht mehr streitig machen.

Ich setze mich vorsichtig an den großen Tisch, flankiert von meiner Anwältin und meiner Mutter. Die Staatsanwältin und die gegnerischen Anwälte fahren damit fort, auf Luxemburgisch über meinen Kopf hinweg zu reden. Nur einmal wendet sich die Staatsanwältin auf Englisch an mich. Und zwar am Ende, als sie sich zu mir umdreht, die ich starr dasitze und zusehen muss, wie man über meine Zukunft entscheidet. Sie trommelt mit dem Stift. »Also, Harbhajan … dein ganzes Leben war eine einzige Lüge.« Sie lächelt süffisant. »Wer sagt uns, dass du nicht wieder lügst?« Ausgerechnet in diesem Raum, in dem ich die ganze Wahrheit gesagt habe, fühle ich mich am meisten wie eine Kriminelle.

Die Staatsanwältin argumentiert, dass mir die Staatsbürgerschaft aufgrund der falschen Angaben meiner Eltern nicht zusteht. Eine Schocksekunde lang senkt sich Stille über den Raum, und ich starre ins Nichts. Meine Anwältin steht auf, sammelt meine Akten zusammen und erklärt, dass wir vor den obersten Gerichtshof ziehen werden. Wir werden versuchen, das luxemburgische Recht zu ändern.

Von diesem Tag an arbeitet sich mein Fall im Schneckentempo bis hoch zum Obergerichtshof vor. Bei jeder erdenklichen Gelegenheit schmettert die Staatsanwältin unsere Gesuche ab und sorgt für noch mehr Verzögerungen. Ich spüre, wie ich immer mehr abdrifte, so wenig wie möglich rede und meine Gedanken schwammiger werden.

Doch ich begrüße diesen Dämmerzustand. Er macht meine ständigen Bauchschmerzen erträglicher. Und weil diese Benommenheit nicht wehtut und sogar meine Verzweiflung betäubt, empfange ich die Depression mit offenen Armen. Ich hülle mich in diese namenlose Retterin wie in eine Decke und bleibe im Bett, warte darauf, dass der Tag endet. Dass die Wochen zu Monaten werden. Dass mein Leben endlich vorbei ist. Niemand versucht wirklich, etwas wegen mir zu unternehmen. Weil es viel einfacher so ist, nicht wahr? Es ist besser für uns alle, wenn ich endlich still bin.

Bopa ist mit seiner Suppe unzufrieden; sie ist ihm zu salzig. Aber er isst sie trotzdem, denn früher, im Krieg, da hatten sie nichts. Das könne ich nicht nachvollziehen, weil ich nie gearbeitet, nie irgendetwas getan hätte, aber im Krieg, da lernte man, nicht wählerisch zu sein und zu essen, was man kriegen konnte. Denn es gab nichts, nichts!

Nonna eilt los, um ihm noch mehr Brot zu bringen. Mom reibt sich die Schläfen, bereits erschöpft von dem Sprachunterricht, den sie gibt. Aber geistig bin ich weit weg, an einem nichtssagenden Ort, an dem alles stummgeschaltet ist.

Wir haben gerade das Hühnchen zu Ende gegessen, was es während des Krieges ebenfalls nicht gab, als er mich erneut ins Visier nimmt. Mir erzählt, was für ein guter Mensch Chiara ist, wie hilfsbereit und freundlich sie zu ihnen gewesen ist. Gegenüber am Tisch versteift sich meine Mutter. Ich drifte noch weiter ab, höre weg, während er mir erzählt, wie Chiara sich für ihre Familie aufgeopfert hat. Wie sie sogar etwas von dem Geld, das er ihr schickte, verwendet hat, um unseren verschollenen Bruder in New York zu suchen.

Mein Kopf schnellt hoch. Der Wutausbruch ist stärker als meine generelle Lethargie. Ich stehe abrupt auf, stelle meinen Teller in die Spüle und schaue sie der Reihe nach an. »Sie wird nie meine Schwester sein.«

Als ich aus der Küche stürmen will, komme ich an meiner Mutter vorbei. »Bhajan, bitte bleib und sei nett«, flüstert sie.

Ich beuge mich vor, bis mein Gesicht dicht vor ihrem schwebt. »Ernsthaft? Das ist deine Lösung für alles, oder?« Mit Nachdruck stürme ich die Treppe zum Dachboden hoch, hebe einen der alten Holzstühle hoch und schmeiße ihn mit aller Kraft gegen die Wand, wo er zersplittert und in seine Einzelteile zerlegt auf den Boden fällt.

Schwer keuchend durchquere ich die Tür zu meinem Schlafzimmer. Unten vor dem Fenster rauschen die Züge durch die Nacht, und ich bette meine glühende Stirn gegen das kühle Glas. Ein Nebelschleier hängt tief über dem Land und wabert an den Eingangsstufen der gepflegten Häuser vorbei. Sie sehen alle gleich aus, gruselig.

Ich mache das Fenster weit auf, die Luft schlägt mir kalt und feucht entgegen, und ich lehne mich hinaus.

Oje. Diese Straße … zumindest weiß ich jetzt, woran es mich erinnert.

Little houses made of ticky tacky, little houses all the same.

Ich bin an genau jenem Ort, über den ich als Kind freudestrahlend gesungen habe. Weil es mir damals unmöglich erschien, selbst mal in einem gefangen zu sein.

Ein leises Geräusch veranlasst mich, mich umzudrehen.

Mom steht reumütig in der Tür, eine Wärmflasche für mich in der Hand. »Bhajan, was kann ich tun?«

»Ich halte das nicht mehr aus, Mom. Ich kann mir das über Chiara nicht mehr anhören.«

Sie macht einen Schritt zurück. »Aber ich habe das doch für dich getan. Wir brauchen ihn, damit er für deine Arztbesuche bezahlt. Ich habe nur versucht, das Beste zu …«

»Nein, hast du nicht.« Ich habe sie das schon oft sagen gehört, aber ich will die Wirklichkeit nicht länger ignorieren. »Du belügst dich selbst, Mom. Du hast das gemacht, was am leichtesten war, du hast dir etwas vorgemacht. Das tust du immer noch.«

Als ich die Kränkung in ihrem Gesicht sehe, will ich mich beinahe zurückhalten weiterzureden. Aber die Worte kommen wütend und knallhart aus mir herausgeschossen. »Es hilft niemandem, wenn du den Märtyrer spielst! Nur weil jeder Tag ein Kampf ist, heißt das nicht, dass uns das weiterbringt. Ist dir eigentlich klar, wie sehr ich darum gekämpft habe, dass all diese Lügen endlich aufhören?«

Wir starren uns im dämmrigen Licht an.

Ich weiß, wie sehr sie ihren Vater fürchtet, seine Stimmung, die abrupt umschlägt wie das Wetter; wie sehr sie fürchtet, was er uns antun kann. Schlagartig wird mir klar, dass sie mir nicht beistehen wird. Sie fürchtet ihn mehr, als sie mich liebt. Meine Schultern sacken zusammen. »Dann tu wenigstens eins für mich, Mom. Hilf mir, hier rauszukommen.«

Mein bedrohlicher Gesundheitszustand könnte vielleicht meine einzige Chance sein zu fliehen. Nach fast fünf Jahren mit unerträglichen Schmerzen glaube ich nicht mehr, dass ich jemals genesen werde. Glaube nicht mehr, dass irgendwas mich retten kann. Alles, was mir noch geblieben ist, ist der verzweifelte Wunsch, hier wegzukommen. »Irgendwohin. Irgendein Krankenhaus. Irgendein Facharzt. Sag Bopa, ich müsse dringend zu einem Termin. Bitte.«

Wie als Antwort auf meine Bitte ignoriert das Außenministerium den unumstößlichen DNA-Nachweis, der mein Anrecht auf die Staatsbürgerschaft begründet, und gibt einen Abschiebungsbefehl für mich raus. Stillschweigend schließe ich den Koffer, den ich nie ausgepackt habe.

Das Einzige, was ich sagen kann, ist: Mir werden die Kühe fehlen.

42 | Berlin, 25 Jahre alt

»Die oberste Regel lautet: Killt nie jemandem aus eurem Team!«

Ich verkneife mir ein Seufzen. Neue Leute kennenzulernen, kann so anstrengend sein. Ich habe Fieber, steife Glieder und muss noch immer zigmal am Tag aufs Klo rennen – insofern ist es nicht der günstigste Zeitpunkt, um sich unter Menschen zu mischen. Aber aus irgendeinem Grund habe ich beschlossen, mir das anzutun, nachdem man mir erlaubt hat, zwischen meinen Krankenhausaufenthalten in meine kleine Wohnung zurückzukehren. Ständig zwinge ich mich dazu rauszugehen. Eigentlich sinnlos. Menschen machen mir Angst, denn ich weiß, wozu sie fähig sind, und trotzdem verspüre ich das Bedürfnis, mit ihnen zu reden. Der einzige Grund, weshalb ich überhaupt in dieser Lasertag-Halle bin, ist, dass eine Frau in einer Facebook-Gruppe namens »Internationals in Berlin« schrieb, sie bräuchten noch jemanden für ihr Team heute Abend. Ich kenne diese Leute nicht mal. Ich könnte genauso gut zu Hause sitzen und mir einen Kühlakku an die fiebrige Stirn drücken.

Ein zierliches Mädchen Ende zwanzig gesellt sich zu mir. »Ich bin Amber. Und der mit den wilden Haaren ist mein Freund Wormy, er hat heute Geburtstag. Weißt du, wie man mit einer Lasertag-Pistole umgeht?«

Ich nestele daran herum. »Ich weiß nicht, ob ich euch eine große Hilfe sein werde. Ich habe Fieber.«

Sie klatscht ihre Hand auf meine Stirn. Patsch! Die Haut brennt ein wenig. Für jemanden, der so zierlich ist, hat sie ganz schön viel Wumms.

»Jep.« Amber nickt. »Fieber.«

Unsicher, was ich erwidern soll, starre ich sie an, bis sie bedauernd seufzt. »Ich habe leider nichts dagegen, tut mir leid. Gestern hatte ich selbst Kopfweh und konnte nichts machen. Es ist so schade, dass Wormy all meine dubiosen Medikamente aus Thailand weggeworfen hat.«

Wir beide landen in einem Team mit Johan, einem jungen, muskelbepackten Deutschen, der früher bei der Bundeswehr war. Während er sich dehnt, verschafft er sich einen Überblick über die dunkle Halle und überlegt sich eine ausgeklügelte Taktik. Amber und ich stehen daneben, die Weste mit der Ausrüstung planlos umgelegt, und folgen mit unseren Augen den umherkreisenden Lichtern an der Decke.

Johan klatscht entschlossen in die Hände. »Wir müssen uns noch Zeichen überlegen, mit denen wir uns teamintern absprechen.« Er tritt einen Schritt zurück, deutet mit gespreiztem Zeige- und Mittelfinger von seinen Augen auf ein imaginäres Ziel und deutet an, wie sich jemand abrollt.

Amber und ich nicken ernst.

»Alle Teams an den Startpunkt!«, ruft jemand.

»Huch«, flüstere ich, als ich mich in das stockdunkle Gebiet vorwage.

Fünf Minuten später hocke ich desorientiert hinter einem Stapel aus Sandsäcken und hoffe auf Verstärkung. Ich spähe über die Barriere. Ein paar Meter entfernt kauert Johan hinter einer anderen Barrikade wie ein lauernder Tiger und gestikuliert mit der freien Hand. Schau, spring, geh zu Boden und kriech weiter? Dreh dich um? Die Augen panisch weit aufgerissen, schüttele ich verständnislos den Kopf.

»Uuuah!« Amber kommt hinter einer Wand hervor auf das Spielfeld gestürmt und rennt, die Hände am Kopf, die Pistole lose herunterbaumelnd, auf mich zu. Ihre Weste leuchtet hell auf, als sie abgeschossen wird, dann fällt sie über die Sandsäcke und plumpst neben mich. »Yo.«

»Yo«, sage ich grinsend.

Johan reibt sich die Stirn und beginnt erneut, wild zu gestikulieren, nun mit mehr Nachdruck.

»Guck ihn dir an.« Ich schnäuze meine triefende Nase. »Er ist wie ein Power Ranger.«

Sie kichert. »Auf diesen Moment hat er bestimmt seit seiner Armeezeit gewartet, und jetzt hat er uns an der Backe. Sag mal, wie kommt es eigentlich, dass du keinen bestimmten Akzent hast?«

Wir rücken hinter der Barriere zusammen. »Ich bin ständig mit meinen Eltern von A nach B gezogen.«

»Echt? Ich auch.«

»Wieso das?«

Wir schauen uns einen Moment lang schweigend an; offenbar wägt sie ab.

»Also, mein Dad ist Kanadier«, beginnt sie langsam.

»Meiner auch!«, rutscht es mir raus, noch ehe ich nachgedacht habe.

»Und meine Mom ist eine thailändische Baccara-Spielerin und offiziell irre. Sie hat mich überall mit hingeschleppt und mich einfach in den Fünfsternehotels und Casinos rumlaufen lassen, während sie gezockt und dabei beschissen hat. Das ist meine Lebensgeschichte in Kürze. Und was macht dein Dad so?«

Ich stütze mich auf einem Ellenbogen auf. »Er ist ein Trickbetrüger.« Auf dem Boden liegend, umgeben von umherschießenden Laserstrahlen, kringeln wir uns vor Lachen, bis wir kaum noch Luft kriegen, und starren dann einträchtig an die Decke. Noch eine Außenseiterin. Vielleicht gibt es mehr von uns, als ich dachte.

»Oh nein.« Mein Magen krampft, und ich setze mich auf.

»Was ist los?«

»Ich muss aufs Klo.« Wie peinlich; ich weiß schon, warum ich lieber in der Wohnung bleibe. »Tut mir leid«, sage ich und beginne aufzustehen. »Wenn ich rausgehe, verlieren wir wertvolle Punkte. Aber ich werde versuchen, mich beim Rausgehen hinter die Wand da zu ducken.«

»Ich komm mit dir mit.«

»Nein, ist schon okay.«

Aber Amber hat bereits ungelenk ihre Waffe gezückt. »Ich werde dir Schutzfeuer geben. Feuerschutz? Äh, irgendeinen Schutz jedenfalls.«

Zu zweit springen wir auf und über die Barriere. Als wir zum Ausgang rennen, stolpere ich über meinen offenen Schnürsenkel und lasse fast meine Waffe fallen, während Amber ihre drohend in der Luft schwenkt.

»Was macht ihr da?« Johan späht hinter einem Stapel aus Backsteinen hervor.

»Wir gehen aufs Klo!«, ruft Amber, während unsere Westen unter dem Beschuss aufleuchten.

»Das geht jetzt nicht!«

»Was für ein Bürokrat«, murmele ich, ehe ich mir das Knie an einem unechten Felsen stoße und in den Flur taumele.

In Luxemburg legt die Staatsanwaltschaft endlich ihr abschließendes Ergebnis vor. Sie drohen, meinen Fall ad acta zu legen, sofern ich nicht zwei Nachweise vorlege, die ich unmöglich beschaffen kann: eine Bescheinigung der neuseeländischen Ärztin, die mich zur Welt gebracht hat, in der sie bestätigt, sich an meine Eltern und meine Geburt zu erinnern, und eine weitere Bescheinigung darüber, dass sie mich und meine Eltern auf den Fotos zweifelsfrei identifizieren kann.

Erstaunt spricht meine Anwältin die Staatsanwältin nach der Verhandlung darauf an, dass es juristisch gesehen keinen besseren Beweis gibt als den DNA-Test, den wir vorgelegt haben. Das ist ein untrüglicher wissenschaftlicher Beweis. Wohingegen es schier unmöglich ist, nach all den Jahren die Ärztin in Neuseeland ausfindig zu machen. Selbst wenn uns das gelingt, wie soll sich eine Ärztin, die bei Tausenden Geburten dabei war, an eine erinnern, die mehr als zwanzig Jahre zurückliegt? Jetzt wissen wir es ganz sicher – die Staatsanwältin verlangt absichtlich Unmögliches.

Dass ich mich aktuell überhaupt noch in Europa aufhalten darf, verdanke ich der vorübergehenden Aufenthaltsgenehmigung des Gerichtes. Sie sollte bis zum finalen Urteil gültig sein. Was danach mit mir passiert, steht in den Sternen.

Ich stehe in der Berliner Wohnung meiner Freundin Jazmin und bewundere neugierig den festlichen Anblick. Der Holztisch ist gedeckt, Kerzen leuchten, rote Servietten liegen gefaltet neben unseren Tellern, alles sieht so ordentlich und gemütlich aus. In unserer Familie haben wir etliche Feiertage komplett übergangen, und dieser war einer davon.

»Was gabs bei euch zu Hause so an Thanksgiving?« Jaz beugt sich hinunter zum Ofen, während ihr ihre hinreißende, wilde, dunkle Lockenmähne ins Gesicht fällt.

»Wir haben Thanksgiving nie gefeiert.«

»Was? Nein, warte, sag nichts.« Sie wedelt mit dem Pfannenheber. »Wenn du jetzt anfängst, davon zu erzählen, wie ihr den Himalaja hochgekraxelt seid oder so was, vergesse ich darüber den Truthahn.«

Ich helfe ihr, Tomaten für den Salat zu schneiden. Oft ist es mir selbst ein Rätsel, wie sie zustande gekommen ist, unsere kleine Gruppe. Doch obwohl wir nun schon Monate miteinander verbringen, habe ich noch immer nicht den Mut aufgebracht, ihnen außer amüsanten Reiseanekdoten irgendwas zu erzählen. Ich habe mich so lang allein gelassen und ausgeliefert gefühlt, dass ich jedes Mal, wenn sie mich in die Arme nehmen und nichts im Gegenzug erwarten, ungläubiges Staunen empfinde. Angst, dass mir das alles schon bald wieder genommen werden könnte.

»Das wird das beste Danke-giving aller Zeiten!« Jaz drückt mir einen Kuss auf die Wange, als es klingelt.

Ich reiße die Tür auf. Peter, der geradewegs von seinem hochkarätigen Finanzjob kommt, schlendert an mir vorbei und entledigt sich seines maßgeschneiderten Jacketts.

»Was geht? Ich habe eine super Idee für einen Streich«, flüstert er mir zu.

»Nein, nein.« Jaz kommt in den Flur. »Ich lasse euch nicht zusammensetzen, wenn ihr beide euch wieder aufführt wie Zweijährige.«

Es klingelt erneut; es sind Patrick und Amber, die sich im Treppenhaus begegnet sind. Patrick hängt seinen Mantel brav auf; Amber lässt ihre XXL-Armeejacke zu Boden fallen und plumpst auf einen Stuhl.

»Mann, was für ein Tag.« Sie atmet schwer aus. »Ich war in einem Café, und da hat mich so ein Kommunist angelabert von wegen, ich sei dem Kapitalismus verfallen. Dabei hat er denselben Kaffee getrunken wie ich! Und am Tisch nebenan saß so ein Typ und hat geschrieben, und da meinte ich: ›Hey, meine Freundin Cheryl schreibt auch. Was schreibst du denn da?‹ Und er so: ›Einen Brief an den Tod.‹«

»Einen Brief an wen?« Ich habe das mit dem Tomatenschnippeln aufgegeben.

»An den Tod.«

Patrick senkt den Blick und seufzt.

»Ja, er meinte, er schreibt schon seit Jahren daran, um mit dem Leben klarzukommen.«

»Peter, hilf Cheryl mal mit dem Salat«, ruft Jaz vom Herd aus.

»Jedenfalls«, Amber lehnt sich zurück, »nur um das klarzustellen, der Kaffee war definitiv nicht Fairtrade.«

Während wir essen, befällt mich dieses Gefühl, das ich manchmal habe, eine Art außerkörperliche Erfahrung, als ob ich mich in einem Theaterstück mit dem Titel Das normale Leben befände, das schon heute Abend zu Ende sein kann. Bisher sind alle Behandlungen fehlgeschlagen, und in einer Woche soll ich in ein Krankenhaus außerhalb von Berlin eingeliefert werden, das auf Morbus Crohn spezialisiert ist. Mit zittrigen Händen lege ich Gabel und Messer ab und sage ihnen die Wahrheit.

Einen Moment lang sind alle still und verdauen die Neuigkeit von meiner Krankheit. Peter dreht sich auf seinem Stuhl zu mir. »Wie schlimm ist es?«

»Schlimm.« Die letzten Monate habe ich meinen abgemagerten Körper unter weiter Kleidung versteckt.

»Warum hast du uns nichts gesagt?«

Es ist eine ganz simple Frage, aber als ich nun im Kerzenschein in ihre Gesichter blicke, bin ich stumm. Hier, in ihrer Anwesenheit, wirkt die Stimme so fehl am Platz, die mir suggeriert, ich könne meine Freunde verlieren. Die mir sagt, niemand wolle ein nicht funktionierendes Mädchen.

»Ist ja auch egal«, sagt Jaz, die meinen Gesichtsausdruck bemerkt. »Ich werde recherchieren, welche Naturheilverfahren es gibt. Es muss doch irgend…«

»Sie braucht richtige Medizin«, wirft Peter entschieden ein. »Nicht so eine Voodoo-Truppe wie euch.«

»Es ist ein Healing Circle …«

»Warte mal. Wo ist dieses Krankenhaus?« Patrick braucht angesichts dieser Turbulenzen etwas Solides, eine Adresse, und zieht sein Handy heraus.

»Lauchhammer – das ist eine Kleinstadt zwei Stunden von Berlin entfernt.« Es kommt mir so vor, als würde ich jedes Mal, wenn ich im Leben einen Schritt nach vorn mache, Hunderte Kilometer zurückgeworfen. Diesmal werde ich aus Berlin herausgerissen, wo ich mir gerade ein Leben aufgebaut habe. Wie mir aufgefallen ist, hat meine Krankheit ein paar Dinge mit meinem Vater gemeinsam. Sie sorgt dafür, dass ich hilflos, abwesend, abgetrennt von allem bin. Genau wie seine Stimme, die mich nach wie vor überallhin verfolgt.

»Okay«, sagt Peter. »Wir kommen vorbei und bringen Plätzchen mit.« Alle nicken. Bis auf Amber.

»Ich könnte mitkommen«, bietet sie an.

»Amber, du kannst nicht ins Krankenhaus, wenn dir nichts fehlt.«

»Wer sagt, dass mir nichts fehlt?« Sie klingt beleidigt. »Da gäbe es einiges. Insofern würde ich vorschlagen, wenn du reingehst, kann ich einfach damit drohen, mir die Pulsadern aufzuschneiden, wenn sie dich von mir trennen wollen. Das sollte reichen, um in die psychiatrische Abteilung eingewiesen zu werden. Und dann können wir uns immer in der Cafeteria treffen und zusammen Tee trinken und so.«

Wir blicken sie staunend an.

»Oder wir besuchen sie einfach regelmäßig«, schlägt Jaz vor.

Ich räuspere mich. »Also … falls ihr mich wirklich besuchen kommen wollt, müsst ihr wissen, dass ich dort nicht unter Cheryl angemeldet sein werde. Das ist nur der Name, den ich fürs Modeln und meine Bücher verwende.«

»Okay … Und wie heißt du dann wirklich?«

»Harbhajan.«

Peter bricht in Gelächter aus. »War ja klar. War ja klar! Natürlich nichts, von dem man je gehört hätte.«

»Ist das indisch?« Patrick hat das Handy mit der Karten-App abgelegt. Die nützt ihm nun nichts mehr.

»Das ist Sanskrit. Meine Eltern waren früher Sikhs und … Jedenfalls haben sie mich immer Bhajan genannt.«

»Bomga?«

»Nein, Peter.« Meine Schultern beben unfreiwillig angesichts der Absurdität des Ganzen, und ich bin selbst erstaunt, dass ich darüber lachen kann. »Bhajan!«

Jaz holt tief Luft. »Und ich dachte, Thanksgiving mit meiner mexikanischen Familie wäre genug Drama, aber das hier toppt alles.«

Peter lächelt voller Zuneigung und hebt das Glas. »Auf unsere Bomga!«

Monatelang ist es mir gelungen, meine Mutter davon abzuhalten, mich besuchen zu kommen, aber nun ist sie fest entschlossen, aus Luxemburg rüberzufliegen, um mich ins Krankenhaus zu bringen. Zum ersten Mal in meinem Leben sage ich etwas, das ich noch nie zu ihr gesagt habe. Nein. Die Zeit, die ich allein verbracht habe, vielleicht aber auch die Leichtigkeit, die ich bei meinen Freunden verspüre, hat mir gezeigt: Meine Familie macht mich kaputt. Ich bin sauer auf sie, auf sie alle. Auf meine Großeltern, das Gericht, meinen Vater dafür, dass er mich nie geliebt hat. Aber vor allem auf mich selbst dafür, dass ich auf sie reingefallen bin. Ich sehe keinen Ausweg aus dieser Situation und will meine gesamte Vergangenheit einfach ausradieren. Den ganzen Betrug. Ich will davonlaufen, bis mich niemand mehr findet.

An meinem letzten Abend in Berlin nehmen meine Freunde und ich eine Untergrund-Weinbar an einer ruhigen Kopfsteinpflasterstraße in Beschlag und sitzen im Kreis, das Licht gedämpft, Wu-Tang Clan auf Anschlag. Wenn wir so zusammen sind, fühlt es sich wie ein Moment für die Ewigkeit an, und genau das brauchen wir jetzt. Denn im Frühling wird Amber nach China gehen, Peter nach Afrika und ich … Ich weiß nicht einmal, was bis dahin noch von mir übrig sein wird. Ich selbst bin zu schwach, aber als die anderen aufstehen und tanzen, verdränge ich den Gedanken daran, denn ihnen zuzuschauen, ist ein Ausblick auf das, was sein kann.

In der Stille der Nacht begleiten mich meine Freunde die paar Blocks nach Hause. Schnee fällt wie ein Flüstern ringsum, während sie über die vereiste Straße schlittern und in einem Bogen zurückkommen, um mich ebenfalls übers Eis zu ziehen. Unser Lachen hallt von den dunkel daliegenden Fassaden und schattigen Hauseingängen wider, und Peter kniet sich hin, um einen Schneeball zu formen.

Für sie ist es ein Abend, wie sie noch viele erleben werden. Aber ich werde dieses Gefühl nie vergessen. Sie ziehen mich mit, mir rutscht meine Wollmütze herunter, und ich lache so ausgelassen, wie es mir als Kind nie vergönnt war.

43 | Weihnachten im Krankenhaus
in Lauchhammer, 26 Jahre alt

Die vergangenen Wochen sind ineinandergeflossen, und wenn ich aus dem Fenster der Intensivstation blicke, weiß ich nicht, ob ich wirklich entlassen werden möchte. Jedes Mal, wenn ich mir vorstelle, in die Welt da draußen zu gehen, bekomme ich wieder Angst. Sie ist so ein riesiger, chaotischer und unberechenbarer Ort. Und ich bin ein Gerippe auf zwei Beinen – einen Meter achtzig groß und 44 Kilo schwer. Alles an mir ist schwach. Ich bin unfähig, mehr als ein paar Schritte zu gehen. Aber vor allem traue ich mir selbst nicht mehr. Hier im Krankenhaus komme ich nicht umhin, alles, was passiert ist, gedanklich immer und immer wieder durchzuspielen. Wie kann ich je wieder meinen Instinkten, meinem Urteilsvermögen vertrauen, wenn ich mich so lang habe täuschen lassen? Mein Leben lang.

Im Flur sind Schritte zu hören, und ich schaue aus dem Fenster, erwarte, dass eine Krankenschwester hereinkommt.

»Bhajan?«

Meine Mutter steht in einem bodenlangen Wintermantel abwartend in der Tür. Sofort bin ich genervt. Wieso kann meine Familie mich nicht einmal in Ruhe lassen? Es ist etliche Monate her, seit wir uns zuletzt gesehen haben – seit ich Luxemburg verlassen habe, seit ich darum bat, allein meinen Weg gehen zu dürfen. »Bhajan, ich weiß, du wolltest nicht, dass ich herkomme. Aber … Wenn du deinem Großvater sagen willst, was wirklich in unserer Familie vorgefallen ist, bin ich auf deiner Seite.« Sie betritt mein Zimmer. »Keine Lügen mehr.«

Langsam, fast als wollte sie meine Erlaubnis abwarten, nimmt sie auf dem Stuhl neben meinem Bett Platz. Nachdem mein anfänglicher Schock nachgelassen hat, stelle ich beim Betrachten ihres Gesichtes fest, was für einen langen Weg sie zurückgelegt hat. Nicht der Flug, nicht die stundenlange Zugfahrt, nicht das vermutlich mühsam zusammengekratzte Geld von ihren Nachhilfestunden. Sondern was es sie für Überwindung gekostet haben musste, ihrem Vater die Stirn zu bieten, dem Menschen, den sie am meisten fürchtete.

»Hi«, sage ich sanft. Denn vor mir sitzt die Frau, die vor vielen Jahren Noriega angerufen und meinen Vater aus einem panamaischen Gefängnis rausgeholt hat. Über die Jahre habe ich nur einen Funken, nur einen Schimmer dieser Frau gesehen, aber ich wusste, sie war immer noch da. Ich nehme ihre Hand. »Du hast mir gefehlt, Mom.«

Schweigend sitzen wir da, die Finger ineinander verschränkt, sie in ihrer Steppjacke, ich in meinem Pinguin-Schlafanzug, an einem Tropf hängend. Sie sieht mich an, und wie immer durchschaut sie mich, sieht durch meinen stoischen Ausdruck hindurch. »Was macht dir Sorgen?«

Ich möchte ehrlich zu Bopa sein. Ich möchte ihm schreiben. Er weiß zwar, dass wir meinen Vater verlassen haben. Aber er weiß nicht, wie schrecklich alles war. Wie sehr ich Frank vermisse. Wie sehr ich Chiara misstraue. Wie alles auseinanderbrach. Aber was, wenn mich mein Großvater für diesen Brief bestraft? Was, wenn er mir meine Krankenversicherung streicht? Mein Kinn bebt. In meiner Fantasie stelle ich mir alle möglichen Horrorvisionen vor, wie er mir das Leben zur Hölle machen könnte.

Mom öffnet den Reißverschluss ihrer Jacke, streift sie ungeduldig ab.

»Bhajan, ist dir klar, dass du mein Leben gerettet hast? Du hast mich geliebt, selbst als ich als Mutter ein Totalausfall war, trotz all meiner Fehler … Es ist mir egal, wie mein Vater reagiert. Wir finden eine Lösung.«

»Noch einen Rückschlag halte ich nicht mehr aus, Mom. Ich halte das einfach nicht aus.« Meine Stimme bricht.

Sie greift erneut mit kräftigen Fingern nach meiner Hand, zwingt mich, ihr zuzuhören. »Liebling, vergiss eines nie. Mag sein, dass du dich momentan gebrechlich fühlst, aber du warst schon stärker als wir alle, als du noch ein kleiner Knirps in Latzhosen warst.«

Ich runzle die Stirn, meine Arme zerstochen von Hunderten Nadeln.

Sie beugt sich vor, auf den Lippen ein verschmitztes Grinsen. »Kann ich dir ein Geheimnis verraten?«

»Oh Gott«, stöhne ich.

»Nein, nein, keine Sorge, nichts, das dich für den Rest des Lebens traumatisiert, versprochen!« Sie hebt die Hände. »Und vielleicht ein gutes Beispiel … Wusstest du, dass dein Vater versucht hat, als Autor Karriere zu machen?«

Mir verschlägt es die Sprache.

»Ja-ha, ein paar Jahre, nachdem wir uns kennenlernten, hat er einen Roman geschrieben, der auf seinen Erfahrungen im Goldgeschäft basierte.«

»Und was ist dann passiert?« Ich setze mich gegen das Kissen gelehnt höher.

»Tja, die Verleger mochten die Geschichte und fanden das Thema interessant … aber wie bei so vielem, was er tat, fehlte auch dem Text die Emotion.«

»Er hat mir nie erzählt, dass er ein Buch geschrieben hat«, bringe ich mühsam hervor.

»Natürlich nicht, Bhajan. Du hast mit 19 verwirklicht, was er sein ganzes Leben lang nicht geschafft hat.«

In der Stille nehme ich jedes Geräusch wahr: den Rollwagen der Krankenschwestern, meinen unsteten Atem. Ich schlucke schwer. »Ist das der Grund, weshalb er mich nie geliebt hat?«

Mom lässt den Kopf lange sinken, ehe sie mich geradewegs ansieht. »Das hätte ich dir schon eher sagen sollen, aber ich war so wütend auf ihn … Dein Vater hat dich geliebt. So sehr, wie jemand wie er dazu imstande war. Aber du bist über ihn hinausgewachsen, so einfach ist das, Harbhajan. Er ist ein Hochstapler, der eine Idealistin hervorgebracht hat. Und irgendwann gehen diese beiden Pole nicht mehr zusammen.«

Ich weine, zuerst still, dann beben meine Schultern; es ist, als würde mein ganzes Weltbild ins Wanken geraten. Für ein Kind ist die eigene Familie das gesamte Universum, und meine hat meine Wahrnehmung von der Welt als einen nicht vertrauenswürdigen Ort maßgeblich geprägt. Ein Ort, an dem ich nie genügte. Wenn ich daran denke, dass diese Vorstellung mein gesamtes Leben dominiert hat. Wenn ich daran denke, dass meine Familie nur eine Handvoll unter Milliarden von Menschen ist, dann dreht sich mir der Kopf.

»Wenn du hier rauskommst, Harbhajan – und ich weiß, das wirst du –, wirst du Menschen begegnen, die deine Zuneigung viel mehr verdient haben. Menschen, die dir die gleiche Liebe entgegenbringen wie du ihnen.«

Ich denke an meine Freunde, die sechs Stunden durch einen Schneesturm gefahren sind, um eine Stunde mit mir in der Cafeteria zu sitzen. Mom lehnt sich zurück und seufzt. »Ich weiß nicht, was ein Psychologe davon halten würde, was ich gleich sagen werde, aber … Was den Rest angeht, alles, was früher war – komm drüber hinweg.«

Mein Gesicht läuft rot an.

»Knall mir ruhig eine, aber ich meine es ernst. Dir steht so ein großes, wundervolles und mutiges Leben bevor. Verschwende nicht weiter deine Zeit mit vier unbedeutenden Figuren, die dir nicht das Wasser reichen können. Sei einfach Bhajan – und jag diese Trottel zum Teufel.«

Zuerst kann ich nicht genau sagen, was mit mir geschieht. Unendliche Erleichterung erfüllt mich. Wir lachen Tränen, lachen wie seit Jahren nicht mehr, wie vielleicht noch nie. Ich hänge mit dem Arm am Tropf, Mom sitzt auf dem Stuhl, als es mir klar wird … Wenn wir hier in diesem Krankenzimmer so ausgelassen lachen können nach allem, was wir durchgemacht haben, nach allem, was wir überlebt haben – dann sind wir quasi unbesiegbar.

Ein paar Nächte später spüre ich die Veränderung in meinem Körper. Es ist nicht die willkommene Benommenheit oder die Abwesenheit von Schmerz. Alles tut immer noch höllisch weh. Aber da ist etwas anderes, eine winzige Flamme. Ein Funken Kraft. Tief unter allem anderem begraben, kehrt sie allmählich wieder zurück. Ich wage es, nicht erst nachzudenken oder abzuwarten. Es ist mitten in der Nacht, aber ich ziehe mich am Metallständer meines Tropfes hoch und rolle ihn, in meinem Schlafanzug, zur Tür. Eines der Räder verhakt sich an der Ecke und bleibt hängen. Ich verdrehe die Augen und trete mehrfach mit meinen Schlappen dagegen. Für so was habe ich jetzt keine Zeit!

Die Reifen quietschen neben mir, während ich über den leeren Flur der Intensivstation wanke. Von der Schwesternstation höre ich leises Gemurmel. Schon bald nehme ich nichts weiter wahr als mein Herz, das heftig wummert, und meine verschwitzte Hand am Metallständer. 14 Schritte. Ich ruhe mich an die Wand gelehnt aus. 14 Schritte.

Nach diesem Tag mache ich jeden Tag Gehversuche. Zuerst auf den Tropfständer gestützt, bis ich ihn nicht mehr brauche. Jeden Tag fünf Schritte mehr. Wenn ich nachts mit geschlossenen Augen daliege, visualisiere ich es. Jahrelang habe ich meinen jetzigen Zustand mit meinem früheren Ich verglichen. Eine Invalide im Vergleich zu dem Mädchen, das für die Olympischen Jugendspiele trainierte. Aber in mir steckt noch der gleiche unbedingte Wille. In all den Jahren des Leistungssports habe ich eins gelernt – wie ich meinen Körper geduldig trainieren, aus dem Nichts Kraft aufbauen kann. Ich muss es nur diesmal langsamer angehen lassen. Also werde ich damit beginnen, und zwar genau hier. Denn vielleicht hatte meine Familie letztlich mit einer Sache recht: Vielleicht bin ich wirklich stark.

44 | Toskana, 27 Jahre alt

Der kleine Küstenort, in dem wir leben, ist ein Idyll, wie es nur Italien hervorbringt. Terrakottafarbene Häuser, vor den Fenstern hängt Wäsche zum Trocknen, vor den Cafés sitzen alte Männer, trinken Espresso und spielen Schach, und inmitten von alledem wir zwei große, ausländisch aussehende junge Frauen, die auf Fahrrädern über die Piazza eiern.

Ich bin immer noch zittrig auf den Beinen und vollgepumpt mit starken Medikamenten, aber es gibt nie den richtigen Zeitpunkt dafür, sich wieder der Welt zu stellen. Schon bald, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, entdeckten Jazmin und ich eine Annonce, in der zwei Englischlehrer in der Toskana gesucht wurden, und wir bewarben uns trotz mangelnder Erfahrung kurzerhand darauf.

Die Familie, deren Kindern wir Englisch beibringen, besitzt eine Bungalowanlage in den toskanischen Feldern vor den Toren der Stadt, wo wir unsere eigene casa haben. Jaz und ich können unser Glück kaum fassen: Die Familie ist hinreißend, die Kinder rennen nicht mehr schreiend vor uns davon, und am Wochenende haben wir frei. Da Zugfahren günstig ist, bekommen wir so während unseres zweimonatigen Aufenthaltes Gelegenheit, Siena, Pisa und Rom zu erkunden.

Vor der Post fahren wir mit unseren antiquierten Rädern gegen die Wand und steigen ab. Die defekten Bremsen sind Teil des lokalen Charmes.

»Möchtest du, dass ich mit reinkomme?«, fragt Jaz besorgt.

Eine Weile stehe ich da, den Umschlag in der Hand, und blicke hinauf zu dem gelben Schild: UFFICIO POSTALE.

Als ich heute Morgen den Brief an meinen Großvater verfasst habe, geschah das ohne jeden Groll. Ich habe am eigenen Leib erfahren, weshalb Wut und Rachsucht so gefährliche Emotionen sind – weil sie einen ewig an genau die Menschen und Erinnerungen binden, denen man entkommen will. In meiner Wut über die Ungerechtigkeit des Ganzen habe ich mich von genau jenen Menschen abhängig gemacht, die mir wehgetan haben. Indem ich darauf hoffte, sie würden sich entschuldigen, mich irgendwie erlösen. Bevor alles auseinanderbrach, weigerte sich meine Familie, die Kontrolle über mich abzugeben. Aber letztlich war ich es, die sich an sie klammerte. War ich es, die sich am Ende nicht traute, frei zu sein.

Als ich meinem Großvater schrieb, habe ich deshalb versucht, Verständnis aufzubringen für alles, was wir durchgemacht haben. Was wir alles verloren haben. Am Ende sind fünf Seiten Papier herausgekommen, die schwer in meiner Hand wiegen.

Ich berühre Jazmin an der Schulter. »Bin gleich wieder da.«

Drinnen drückt eine ältere Dame einen Stempel auf den Umschlag und legt ihn auf einen Stapel Briefe. Mir ist fast schwindelig, als Jazmin und ich wieder auf die Räder steigen und im Schatten der Pinien auf der Straße fahren. Langsam trete ich in die Pedale, konzentriere mich auf jede Bewegung, den Lenker fest umklammert. Alles im Leben geht einfacher mit einer guten Freundin an deiner Seite.

Eines pastellfarbenen Abends lädt uns die Familie zum Abendessen in ihren Garten ein. Es herrscht heiteres Chaos: Die Kinder rennen wild durcheinander, die Nonna und die Mamma rufen aus der Küche Anweisungen, auf die niemand hört, die jungen Leute gestikulieren wild beim Reden, und der sonnengebräunte Opa, dessen Hände rau sind von Jahren der Feldarbeit, sieht dem Treiben vergnügt zu.

Alle fallen übereinander her, Küsschen hier, Küsschen da, Arme über die Schultern gelegt, ohne jedes Gefühl für Privatsphäre. Eigentlich sollte mir diese Übergriffigkeit zuwider sein, aber irgendetwas daran rührt mich. Ich weiß, ich bin nicht Teil dieser Familie, ihrer grenzenlosen Liebe, aber zuletzt hat es mich schon beruhigt zu sehen, dass es sie gibt. Immer wenn ich versuche, mich zurückzuziehen, durchbrechen sie die Mauer, indem sie Scherze machen und mich mit Fragen bombardieren, ohne Unterlass auf mich einreden. Wenn ich nicht gerade davon genervt bin, glaube ich, dass mir das guttut.

Natürlich essen wir erst spät am Abend, aber ich warte nicht mehr ungeduldig wie früher. Es ist mir schwergefallen zu verstehen, was Italiener ausmacht, dieses sich Zeit nehmen. Aber am Tisch zu sitzen und dem pulsierenden Leben zuzuschauen ist eine wahre Freude. Italiener scheinen verstanden zu haben, was Freude ist, und wie man sie ausgerechnet dort findet, wo ich es nie vermutet hätte: im Zusammensein mit anderen Menschen.

Mein Handy schrillt, ich ziehe es aus der Hosentasche und schaue auf das Display. Sofort ist jede Faser meines Körpers angespannt. Mein Großvater. Ruft mich über Skype an. Nachdem ich mich entschuldigt habe, eile ich den Weg entlang, bis ich vor dem Bungalow stehe, wo Jaz und ich wohnen. Meine Hände schwitzen, und ich lasse das Handy beinahe fallen. Ich hatte schon oft in meinem Leben Angst, aber noch nie so. Das ist nicht der monatliche Kontrollanruf, um zu hören, wie es mir gesundheitlich geht.

Ich tippe auf Annehmen und sehe, wie sein Gesicht allmählich Gestalt annimmt. Er sieht streng aus wie immer.

Unsere Blicke begegnen sich, und wie gehabt verliert er keine Zeit.

»Ich habe deinen Brief gelesen.«

Ich will das Telefon wegwerfen und davonrennen. Bopa verzieht das Gesicht, als müsste er niesen. In meinem Angstzustand dauert es, bis mir klar wird, was ich da sehe. Er weint. Tränen laufen ihm über seine gefurchten Wangen. Langsam tupft er sich die Tränen mit einem Taschentuch ab und faltet es fein säuberlich zusammen. Als er den Kopf hebt, erkenne ich seinen Blick. So sehe ich aus, wenn ich eine Entscheidung getroffen habe: völlig regungslos.

»Danke«, sagt er. Ich bin so schockiert, dass ich ihn nur anstarre. Ich hatte alles erwartet, aber nicht das. »Niemand erzählt mir je irgendwas.« Er schüttelt den ergrauten Kopf.

Das liegt daran, weil du alle einschüchterst! Meine Stimme zittert: »Wieso warst du dann nicht netter zu mir?«

»Ich … ich weiß nicht, wie das geht.«

Mein Gott, dieser Mann hat sein ganzes Leben lang damit zugebracht, andere Leute unterzubuttern, dabei hatte er insgeheim gehofft, dass sich ihm jemand entgegenstellte. Dass er zu jemandem einen guten Draht haben würde, was dadurch unmöglich gemacht wurde, weil er so gefürchtet war. Wie viel Zeit wir damit verschwenden, um die Wahrheit herumzuschleichen, obwohl doch kein guter Freund sofort weg ist, nur weil man sie ausspricht.

»Insofern danke, dass du den Mut aufgebracht hast.«

45 | Luxemburg, 27 Jahre alt

Wie sich herausstellt, ist das Gute daran, in eine Familie von Gesetzlosen geboren zu werden, der Umstand, dass sich alle an einen erinnern. In Luxemburg hat meine Mutter unermüdlich an der schier unmöglichen Aufgabe vonseiten des Gerichtes gearbeitet: jene Ärztin in Neuseeland ausfindig zu machen, die meine Geburt begleitet hat und deren Namen wir nicht wissen. Nach monatelanger Recherche findet Mom sie.

27 Jahre später erinnert sich die Frauenärztin, mit der wir nur kurz zu tun hatten, nicht nur an unsere Familie und mich, das summende Baby, das sämtliche Decken wegstrampelte, sondern sie erinnert sich auch lebhaft an den Kontrollwahn meines Vaters während und nach meiner Geburt, identifiziert uns alle zweifelsfrei auf Fotos und liefert dem Gericht in Luxemburg eine eidesstattliche Erklärung, die meine Aussagen stützt.

Mom ruft mich an, um mir die guten Neuigkeiten zu verkünden, als ich die Tür zu unserer kleinen casa in der Toskana zum letzten Mal aufschließe. Jaz und ich stehen auf dem leeren Bahnsteig, umgeben von den silbrigen Blättern der Olivenbäume und den zirpenden Grillen. Unser idyllischer Lehrauftrag ist vorbei, und Jaz geht zurück nach Berlin, während ich nach Luxemburg fliege, falls sie mich für eine Anhörung brauchen. Nach all den Jahren sieht es so aus, als hätte ich doch noch die Chance auf einen Pass. Wie viele handfeste Beweise können sie noch ignorieren?

»Ich kann mir nicht helfen«, sagt Jaz wehmütig, als wir auf den Zug zum Flughafen warten. »Aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass du nicht nach Berlin zurückkehren wirst.«

»Du meinst, ich werde letztlich in Luxemburg festhängen?«, frage ich panisch.

»Gott, nein!« Sie legt mir ermutigend die Hand auf die Schulter. »Ich meinte Italien. Irgendwie passt das Land zu dir.«

Das ist mir auch aufgefallen. Dieses Land hat irgendwas – das Chaos, die sich ewig dehnenden Nachmittage und Menschen, die einem in die Augen schauen und lächeln –, das mir am ehesten ein Gefühl von Heimat vermittelt. Dabei muss ich an Nonna denken, an ihre Kindheit in diesem sonnenverwöhnten Land und daran, ob es noch etwas anderes gibt im Leben als Härte. Italien ist Teil meiner verwirrenden Herkunft, und allmählich frage ich mich, was wäre, wenn ich, anstatt vor meinen Wurzeln davonzulaufen, ein paar davon als meine eigenen annehme. Ich habe bereits genug Italienisch aufgeschnappt, um zumindest einfache Unterhaltungen zu führen, und was, wenn ich mich richtig dahinterklemme? Was, wenn ich eine Sprache erlerne, die die ganze Familie spricht?

Was solls. Ich war schon vieles. Warum sollte ich nicht ein wenig mehr Italienerin werden?

Dabei ist das natürlich völlig unlogisch. Vernünftigerweise sollte ich mir einen Ort aussuchen, an dem ich mir erneut eine Karriere aufbauen kann, der Stabilität und Ordnung verspricht. Aber Berlin hat sich nie nach einem Zuhause angefühlt, nur die Menschen, die ich dort kennengelernt habe. Und tief im Inneren weiß ich, auch wenn Amber und Peter bald schon weggehen, macht das nichts. Denn diese kleine Gruppe von Menschen, die mich über die vereiste Straße gezogen hat, während ringsum der Schnee rieselte, werde ich immer bei mir tragen.

Jaz wuchtet sich ihren Rucksack auf, als der Zug einfährt. »Weißt du was? Du solltest zur Abwechslung einfach mal tun, wonach du dich fühlst.«

Ich wünschte, es wäre so einfach, aber meine Zukunft ist noch immer in der Schwebe. Vielleicht muss ich erneut fliehen. Vor dem Zugfenster rauschen Terrakotta-Dächer und Olivenhaine vorbei. Ich versuche, mir alles einzuprägen, das Spiel von Licht und Schatten, denn die Dinge, die ich liebe, sind so oft das, was ich zurücklassen muss.

»Ich habe noch nie gern Befehle erteilt!«, teilt mir Bopa mit, der in der Küche Kaffee schlürft. »Aber ich habe auch noch nie gern Befehle entgegengenommen!«

Er mag es nicht, Befehle zu erteilen? Das ist der Eckpfeiler seiner Persönlichkeit. Ich bin seit ein paar Tagen in Luxemburg, und die anfängliche Befangenheit ist verflogen. Wir haben zwar kein Wort mehr über meinen Brief verloren, aber er scheint eine Art Barriere zwischen uns beseitigt zu haben. Inzwischen betrachtet er mich mit so etwas wie Vorfreude; ein alter Bulle, der endlich jemanden gefunden hat, der genauso dickköpfig ist wie er, jedes rote Tuch gekonnt ignoriert und im Ring bleibt.

Am Esstisch hebt Bopa sein Kinn vornehm und fährt mit seinen Ausführungen fort, während ich mit geschlossenen Augen Kraft sammle. »Ich wollte nie andere Leute herumkommandieren. Mit welchem Recht auch?«

Nonna und Mom zu beiden Seiten von mir sind still. Ich nicke ernst und lege mir die richtigen Worte auf Italienisch zurecht. »Aber du hast für den Geheimdienst gearbeitet. Da erteilt man ständig Befehle.«

Nonna sieht mich aufmerksam an. Es ist das erste Mal, dass sie mich eine Sprache sprechen hört, die sie versteht.

»Das war schließlich mein Job!«

»Und du warst gut darin, nicht wahr?«, sage ich mit einem Zwinkern.

»Finalmente!« Ein ungewohnter Klang erfüllt die Küche, und wir alle erstarren. Nonna beugt sich mit bebendem Rücken über ihren Teller. Sie lacht, sie lacht doch tatsächlich. Ehrlich gesagt schüchtern mich beide immer noch ein, aber es gefällt mir, wie sich die Dinge entwickeln. Nonna reckt eine knorrige Faust. »Wusstest du«, sie spricht die Worte ganz deutlich aus, damit ich ihr folgen kann, »dass, als er nach dem Krieg zur Polizei ging, seine Mutter mich warnte?«

»Sie hat dich nicht gewarnt!«

»Sie sagte …«

Bopa wird lauter. »Sei nicht albern, wir …!«

»Warte mal«, unterbreche ich ihn auf Italienisch, »warum lassen wir Nonna nicht ausreden?«

In dem kurzen Moment der Stille nutzt Nonna ihre Chance. »Seine Mutter sagte, ich solle bloß aufpassen, es würde nur noch schlimmer mit ihm!« Ihre grünen Augen blitzen auf.

»Das ist ja interessant.« Ich klatsche in die Hände. »Erzähl mir mehr.«

Drei Tage später hat sich Bopa mit Tigger ins Arbeitszimmer verkrümelt, da nach 96 Jahren die Grundfesten seiner Ehe ins Wanken geraten. Ich lerne täglich mehr Italienisch, aber Nonna hat sich noch schneller bei mir die Tendenz abgeschaut, Autoritäten infrage zu stellen. Umgeben von dicken Luxemburger Gesetzbüchern ähnelt Bopa einem Mann, der sich unter Beschuss sieht und nach Gewissheiten sehnt.

»Hi.« Ich stehe an den Türrahmen gelehnt, die Hände in die Taschen meiner Secondhand-Männerhose im Stil der Zwanzigerjahre gesteckt.

»Wieso musst du immer aus der Rolle fallen?«, schnaubt er.

Ich gehe auf ihn zu, der in seinem Lieblingssessel sitzt, und drücke ihm ein Küsschen auf die Wange. »Inzwischen ist es vor allem so was wie Gewohnheit.«

Wir schauen uns schüchtern an, während ich mich ihm gegenüber auf die Sofakante setze. Früher habe ich diesen Mann gehasst. Aber wenn ich ihn nun betrachte, seine noch breiten Schultern, das gemeißelte Gesicht, sehe ich, dass er in Wirklichkeit bloß Angst hatte, Angst davor, ihm nahestehende Menschen zu verlieren. Je stärker er sich an sie klammerte, desto realer wurde die Gefahr. Im Grunde hat er ein Leben lang daran gearbeitet, seinen schlimmsten Albtraum wahr werden zu lassen. Ich schlucke schwer, denn ich habe eine andere Strategie verfolgt, die aber genauso fatal war. Ich habe mich an meine Familie geklammert in dem Glauben, ich würde es ohne sie nicht aushalten, und habe deshalb stillschweigend alles erduldet. Die Realität verleugnet. Bis ich am Ende alles nur noch hasste. Wütend auf mich war, auf das Leben. Aber in Wirklichkeit, glaube ich, hatte ich einfach nur Angst. Insofern sind Hass und Angst womöglich ein und dasselbe.

Ich suche nach etwas Verbindendem. »Das Steak, das du gemacht hast, war lecker.«

»Direkt aus Luxemburg«, verkündet er stolz.

Ich muss überrascht aussehen, denn er schmunzelt. »Nicht alles, was aus Luxemburg kommt, ist schlecht. Wir haben immerhin viele Rinder.«

»Ich habe bei meinen Spaziergängen manchmal mit ihnen geredet.«

»Als ich klein war, hatte mein Vater Rinder.«

»Wirklich?«

»Ja, sechs Rinder und vierzig Schweine … eins davon war ich.«

Ich lache spontan auf und lehne mich dann, ein Couchkissen in der Hand, zurück.

Bopa sieht aus, als würde er abwägen, ob er mir etwas erzählen soll. »Einmal, während des Krieges in Italien …«, stirnrunzelnd senkt er den Blick, und ich warte, »hat mein Geschwader drei Partisanen gefangen genommen. Mein Kompanieführer befahl mir, sie aufs Feld zu führen – es gab dort Felder mit hohem Gras, in denen man sich verlaufen konnte –, um sie hinzurichten.«

Meine Hände sind schlagartig kalt. »Und was hast du gemacht?«

»Ich habe sie hinaus aufs Feld geführt und ihnen gesagt, sie sollen bis zum Anbruch der Nacht mucksmäuschenstill im Gras liegen bleiben. Dann habe ich dreimal auf den Boden gefeuert.«

Ich spüre, wie mir sanft ums Herz wird. »Man sollte nicht alle Befehle ausführen.«

»Nein.« Er hebt den Zeigefinger. »Aber die meisten. Das musst du noch lernen.«

In unserer Dickköpfigkeit sind wir uns so ähnlich.

»Du musst lernen, normal zu sein wie alle anderen auch. Als deine Mutter mit deinem Vater untergetaucht ist, hat sie uns alles genommen. Unsere Enkel, alles!«

Um keinen Streit vom Zaun zu brechen, deute ich nur vorsichtig an: »Das ist ja nur ein Teil der Geschichte.«

Die Fäuste geballt, verwandelt er sich vom netten Opi zu einer bedrohlichen Gestalt. »Sie hat Gesetze gebrochen, Pässe gefälscht! Dein Vater ist kriminell! Sie haben euch Kinder wild, ganz ohne jede Erziehung großgezogen …«

Ich straffe die Schultern. »Bopa, ich will mich nicht mit dir streiten. Aber du hast ihr gedroht, ihr die Kinder wegzunehmen; sie hat keinen anderen Ausweg gesehen, als wegzulaufen.«

»Sie hat mich am Telefon angelogen, was ihren Aufenthaltsort anging. Gelogen! Aber ich habe ihre Fährte aufgenommen, alles auf Band aufgezeichnet!« Er wedelt mit dem Arm in Richtung der Regalbretter hinter seinem Schreibtisch, auf denen sich die Kassetten stapeln. »Ich habe sämtliche Lügen deiner Mutter auf Band!«

Es reicht mir, ich habe keine Lust mehr, nett zu sein. »Somit hast du auch gelogen.«

»Was?«

»Sie hat das Klicken in der Leitung gehört, aber du hast ihr versichert, es würde nichts aufgezeichnet. Wieso hätte sie dir die Wahrheit sagen sollen, wenn jedes eurer Gespräche damit begann, dass du sie täuschst?«

»Sie hat alles kaputtgemacht! Sie …«

»Halt.« Erschöpft hebe ich eine Hand. »Hör auf damit.«

»Deine Mutter …«

»Ja, sie ist meine Mutter. Und ich würde mich nie gegen sie stellen – nicht für dich oder für irgendwen. Niemals.«

Er öffnet den Mund, um mir zu widersprechen, doch ich schneide ihm das Wort ab. »Wenn du möchtest, dass wir miteinander auskommen, kannst du nicht so was sagen. Es gibt vieles, worüber wir beide nicht einer Meinung sind.«

Wütend schüttelt er den Kopf, sagt aber nichts. Ich lasse es unausgesprochen – die Tatsache, dass er und meine Großmutter beschlossen haben, weiterhin Kontakt zu Chiara zu halten, ihr Geld zu schicken. Ich tue mich schwer damit anzuerkennen, dass sie sich an etwas klammern müssen, selbst wenn es nur die Erinnerung an ihre liebe kleine Enkelin ist. »Ich bin bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Wirklich. Ich muss nur wissen, ob du es auch bist.«

Sämtliche vom Gericht verlangten Nachweise und noch vieles mehr wurden von meiner Anwältin bei der Staatsanwaltschaft eingereicht. Nach all den Jahren hängt alles von dieser einen Entscheidung ab. Nun müssen wir abwarten. Es kann Monate dauern, bis sie entscheiden, ob ich eine rechtmäßige Bürgerin dieses Landes werden darf.

Wir haben die Anwaltskanzlei im Zentrum verlassen, als meine Mutter mich beiseitenimmt und mir ein Blatt Papier in die Hand drückt. Der Text ist auf Italienisch. Ich bin gedanklich so mit meinem Gerichtsverfahren beschäftigt, dass ich es nur entgeistert anstarre. »Du hattest doch gesagt, du wolltest dort einen Sprachkurs machen?«

Ihre Worte dringen nur allmählich zu mir durch.

Ich habe meine Mutter immer geliebt, aber erst seit ich hier bin, fange ich an, sie wirklich zu verstehen. Anzuerkennen, welche Willensstärke sie aufbringen musste, um wegzulaufen und für ihre Freiheit zu kämpfen, nachdem sie in einer Atmosphäre der Angst groß geworden war. Selbst hier auf dem kalten Dachboden ihres Elternhauses, eine Rückkehr, die andere vielleicht als Niederlage werten würden, baut sie sich Schritt für Schritt ein Leben auf, indem sie Nachhilfe gibt und Geld spart, um mir die Dinge zu ermöglichen, die mir unerreichbar erschienen. Solang ich mich erinnern kann, habe ich mich immer für meine Mutter, für ihre Sicherheit verantwortlich gefühlt. Doch nun ist das nicht mehr nötig.

Nichts ist perfekt. Aber mein innerer Kampf ist vorbei.

Der Tag meines Abflugs ist gekommen, und ich drücke vor dem Haus meiner Großeltern einen letzten Kuss auf Tiggers wohlriechende Stirn, ehe ich den Koffer zum Auto schleppe, wo Mom bereits auf mich wartet. Dicker Nebel hängt über dem Rasen und verhüllt das Gras, als ich etwas höre und mich umdrehe. Bopa kommt angelaufen, den Morgenmantel über seinem Schlafanzug zugeknotet. »Du trägst ja schon wieder diese Motorradstiefel, wie ich sehe.« Er stützt sich auf seinen Gehstock.

»Und du musst schon wieder an allem herumkritisieren, wie ich sehe.« Ich verschränke die Arme.

»Ach ja, die Rebellin.«

»Soso, der Polizist.«

Wir stehen da, vorübergehend still, und blicken zu den Häusern hinüber, little houses all the same. Er pocht mit dem Gehstock auf den Boden und sagt dann zögerlich: »Meinst du, Rebellinnen und Polizisten können Freunde sein?«

Unweigerlich sehe ich all die Male vor mir, die ich voller Furcht diesen Weg entlanggeschritten bin. All die Male, die ich mich fühlte wie die Erinnerung an einen Mann, den sie hassten. Die Narbe ist noch so frisch, dass ich ihn bestrafen möchte, ihm zeigen möchte, wie sehr er mir wehgetan hat, wie verzweifelt und allein ich mich gefühlt habe, wie – doch dann fällt mir ein, was meine Mom mir erzählt hat. Er hatte sie darum gebeten, für meine Unterkunft aufkommen zu dürfen, solang ich studiere.

Es arbeitet in seinem Gesicht, während Bopa auf seine Pantoffeln starrt und die Tränen zurückzuhalten versucht, bis er aufgibt.

»Weiß nicht, Bopa«, sage ich und lasse müde meine Schultern sacken. »Aber das wäre nicht das erste Mal, dass wir etwas Ungewöhnliches zustande bekommen.«

46 | Rom, 27 Jahre alt

Wenn es morgens in Rom noch frisch ist und nach Espresso und Croissants duftet, ist das Pantheon beinahe leer. Jeden Tag verlasse ich meine winzige Wohnung lange vor Unterrichtsbeginn und komme hierher. Es ist schier unvorstellbar, dass ich, den Rucksack mit den Büchern über die Schulter geworfen, durch einen antiken Tempel laufen darf, der bereits seit zweitausend Jahren hier steht. Wie immer setze ich mich in eine der Reihen direkt unter der kreisrunden Öffnung in der Kuppel und lege den Kopf in den Nacken. Das reine Licht des neuen Tages fällt als goldene Säule in den Raum. Zwei Jahrtausende, in denen es zuerst als heidnische Kultstätte für alle Götter und später als Kirche fungierte. Und nun bin ich hier, schließe die Augen und spüre, wie immer an diesem Ort, mein Herz ruhig schlagen.

Noch bevor die Kirchenglocken um neun Uhr läuten, eile ich hinaus auf die Kopfsteinpflasterstraße, winke dem Wachmann zu und laufe am Senat vorbei zur Schule. Meine Lieblingsklassenkameradin Melissa steht vor dem Eingang und benutzt die Tür als Schreibunterlage, um schuldbewusst noch schnell ihr Arbeitsblatt auszufüllen. »Hast du deine Hausaufgaben gemacht oder hast du wieder im Pantheon geträumt?«

Grinsend halte ich mein Blatt neben ihrs und schreibe ihre Antworten ab.

Selbst während wir im Kurs sitzen und neue Wörter lernen, muss ich immerzu diese Stadt bestaunen. Mein Blick schweift durchs Fenster zu dem kunstvoll gearbeiteten Steinbau auf der gegenüberliegenden Straßenseite und zu dem bunten Treiben vor dem Café unter uns. Wirklich magisch ist es aber um Mitternacht herum, wenn die Straßen leer gefegt sind und das Echo meiner Schritte nachhallt. Ich spaziere gern allein umher. Die ins warme Licht der Straßenlaternen getauchten und seit Jahrhunderten unveränderten antiken Bauten wirken mystisch und tröstlich zugleich. Manche sagen, Rom hänge in der Vergangenheit fest, aber mir gefällt es gut, an einem Ort zu sein, der unverändert geblieben ist. An einem Ort, an dem Dinge Bestand haben.

Der erste Monat meines Kurses ist halb vorbei, als mir mein Arzt aus Berlin empfiehlt, zu Dr. Petrucci zu gehen, einem renommierten Gastroenterologen. Er möchte meinen Zustand beobachten, während ich meine starken immunsuppressiven Medikamente absetze, die ich täglich nehme. Ich bin froh, dazu in Italien zu sein, denn es wird nur sehr langsam vorangehen, wie alles andere auch in diesem Land. Zum ersten Mal passe ich zum Lebensrhythmus, der mich umgibt.

Dr. Petrucci setzt sich in den Ledersessel hinter seinem Schreibtisch und studiert mich ernst. »Lass uns über das Konzept von Karma sprechen und ob es wirklich rings um uns herum presente ist.« So steigt er immer in unsere Sitzungen ein, mit einer obskuren existenzialistischen Frage. Er wendet kurz den Blick von mir ab, nimmt eine Glühbirne in die Hand, an der noch kurze silberne Drähte hängen, und betrachtet sie, als würde sich dort die Antwort verbergen. Dr. Petrucci hat eine Lieblingsschublade an seinem verzierten Holzschreibtisch, die er regelmäßig aufzieht, um verschiedene Spielereien herauszuholen, etwa eine gravierte Miniatur-Türklinke oder ein Türschloss. Offenbar helfen sie ihm beim Sinnieren.

Mit seinen mehr als sechzig Jahren, dem gebräunten Teint und dem unaufdringlichen Charme hätte Dr. Petrucci genauso gut ein Therapeut wie aus dem Bilderbuch werden können anstatt ein berühmter Gastroenterologe. Er ist ein komischer Kauz, der mir selten medizinischen Rat gibt, sondern lieber über den Sinn des Lebens philosophiert. Aber die Termine bei ihm sind angenehm, oder zumindest nicht unangenehm. Ich experimentiere noch damit, wem ich meine Lebensgeschichte anvertraue, ihm, Melissa. Wem ich mein Herz ausschütte. So ähnlich muss sich ein Fallschirmsprung anfühlen: angsteinflößend, aber auch süchtig machend.

Er kramt in seiner Schublade und zieht einen silbernen Teelöffel heraus, den er sich horizontal vor seine stattliche Nase hält. »Gefällt dir der Sprachkurs?«

Ich nicke, obwohl es mir mehr als nur gefällt. Es ist eine Offenbarung. Endlich einmal etwas nur aus reiner Freude zu lernen, etwas, das ich mir ausgesucht habe.

»Wer ist alles in deiner Klasse?«

»Ich und drei Priester.« Ich grinse. »Einer davon ist Deutscher. Und ein dänisches Mädchen namens Melissa.«

Er schüttelt traurig den Kopf.

Seine Reaktion verwirrt mich. »Aber wir verstehen uns total gut, sie und ich.«

»Das ist höchst schade.« Er trommelt mit dem Löffel nachdenklich auf den Schreibtisch. »Ich hatte gehofft, man würde dich mit Männern deines Alters zusammenstecken. Damit du dich nicht mehr so verschließt. Schade.«

»Ich verschließe mich gar nicht mehr«, protestiere ich. »Ich habe mittlerweile Freunde.«

»Ich meine nicht Freunde. Sondern Männer, eine Beziehung, sich verletzlich machen … Die Tatsache, dass du immer Nein sagst, weil du dich insgeheim noch immer wie ein Kind fühlst.«

Ich beobachte den Teelöffel und höre aufmerksam zu.

»So bleibst du für immer im Alter von neun stecken, als dein Bruder zu dir ins Bett kam und du kein Mitspracherecht hattest. Aber jetzt bist du erwachsen. Du kannst Nein sagen oder Ja sagen.«

Ich sitze regungslos auf dem Stuhl.

»Aber gleichzeitig erschaffen viele Schriftsteller und Künstler ihre größten Werke gerade in der Isolation, in der Verzweiflung.« Er sieht nachdenklich zur Decke. »Darüber können wir nächstes Mal reden, würde ich vorschlagen.«

Dr. Petrucci legt den Löffel auf den Schreibtisch, und wir beide starren den abgelegten Gegenstand an.

Ich brauche immer etwas Zeit, um seine Weisheiten zu verarbeiten, da sie oft schwer zu entschlüsseln sind. Mehr Knobelaufgaben denn klare Ratschläge. So kommt es, dass ich jeden Abend durch die Stadt laufe, vorbei an den schließenden Restaurants in Richtung Piazza Santa Maria in Trastevere, bis ich die Musik höre. Ein Mann in einem gramerfüllten Anzug sitzt auf einem Klappstuhl, während hinter ihm die Kirchturmspitze das Mondlicht reflektiert. Den Kopf über das Cello gebeugt, streicheln seine Hände sanft die Saiten und entlocken ihnen eine Melodie. Wie verzaubert sitze ich auf den Stufen des Brunnens, die Arme um die Knie geschlungen, und lausche den Klängen, die beinahe an ein Schlaflied erinnern. Bei diesen Mitternachtsspaziergängen ist es nicht so sehr die liebliche Atmosphäre, die mich zu Tränen rührt. Sondern die Tatsache, dass ich irgendwann, irgendwann während meines langen Kampfes, aufgehört habe, an Schönheit zu glauben. Aufgehört habe zu glauben, dass mir etwas Schönes gehören könnte. Nun, da ich den untrüglichen Beweis vor mir habe, fange ich endlich an zu weinen.

Es gibt etwas, das einem Menschen selten über den Krieg erzählen: Wenn ein Kampf endet, beginnt der nächste. Ich dachte, ich wäre mutig gewesen, als ich nichts spürte, als ich mich zwang, meine Gefühle zu betäuben. Dabei sind Friedenszeiten das wirklich Beängstigende. Ich sehne mich so danach, normal zu sein oder zumindest annähernd, aber die Vergangenheit, die Emotionen, die immer wieder hochkommen, sind sehr viel verwirrender und beunruhigender, als es die Taubheit je war. Es wäre sehr viel einfacher, bestimmte Teile von mir für immer wegzuschließen. Denn Gefühle zuzulassen, heißt, potenziell wieder verletzt zu werden. Krieg ist einfach. Die Nachwehen erfordern echten Mut.

Als er in mein Leben tritt, hat er ein blaues Auge, ein Motorrad und die Art von Lächeln, vor dem einen ältere Frauen warnen. Ich sitze zusammengesunken bei einer Outdoorparty auf einem Stuhl, abseits der Leute, und bin extrem erschöpft. Ich bin noch immer zu schwach, um längere Zeit zu stehen, sodass ich immer unsozial und desinteressiert an Menschen wirke.

»Ciao.«

Ich sehe hoch und erblicke … meinen Typ Mann. Da ich mit meinem Leben bisher genug zu tun hatte, ist mir erst kürzlich aufgegangen, dass dunkelhaarige Männer, die sich athletisch bewegen und unverbesserlich aussehen, es mir angetan haben. Schon bald sitzt er neben mir, und wir diskutieren. »Drei Priester in einer Klasse? Ich weiß nicht, ob ich dir das abkaufen soll.«

»Es ist aber so.«

»Das überzeugt mich nicht.«

Ich recke das Kinn. Es sind wirklich drei, und ich kann es beweisen.

»Okay.« Er sieht mich abschätzend an. »Wie wäre es, wenn ich dich morgen nach deinem Kurs abhole und mir selbst ein Bild davon mache, ob es die drei wirklich gibt?«

Mir fallen Dutzende Gründe ein, weswegen ich ablehnen könnte. Ich meine, der Typ denkt bestimmt, ich sei ein süßes US-Girl im Auslandsjahr. Weit gefehlt. Aber vielleicht hat Dr. Petrucci mit seinem Teelöffel etwas in mir ausgelöst, denn letztlich nicke ich und sage Ja.

Am nächsten Tag laufe ich mit Melissa die Marmorstufen in unserer Schule hinab. »Ich kann es nicht fassen.« Aufgekratzt hakt sie sich bei mir unter. »Dein erstes Date! Aber sag ihm das auf keinen Fall. Du musst das ganz cool angehen.« Als wir uns dem imposanten Holztor nähern, das stets zur Piazza hin offen steht, gehen wir langsamer und senken die Stimmen. »Wirst du ihm eine deiner abgefahrenen Kindheitsgeschichten erzählen?«, flüstert Melissa.

»Auf gar keinen Fall.«

»Ja, wahrscheinlich besser so.«

Wir verbergen uns im Schatten und schleichen uns auf Zehenspitzen zur Eingangstür, um verstohlen hinauszuspähen. Tomas ist wirklich gekommen und steht in dunkler Jeans auf der hellen Piazza, der Helm baumelt von seinem muskulösen Arm. Melissa lehnt sich nach hinten gegen die Wand. »Ich bin so stolz auf dich.« Sie klatscht aufgeregt in die Hände. »Den würde ich auch sofort besteigen!«

Ich unterdrücke ein Lachen, da ertönt ein leises Scharren. Als wir über die Schulter blicken, sehen wir, dass die drei Priester einen Meter hinter uns stehen – und uns mit finsterer Miene lauschen. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, treten sie durch die Tür auf die Piazza. Es ist eine Genugtuung, Tomas dabei zuzusehen, wie er den dreien nachschaut. Aber ich wage mich noch immer nicht raus und bekomme Zweifel. Ich muss mir irgendeine Strategie überlegen, bevor ich einen Schritt nach vorn trete. Meine Erfahrung sagt mir, dass es besser ist, sich vorher einen detaillierten Plan zu machen, bevor man sich mit Neuem konfrontiert. Ich grübele gerade über mögliche Katastrophen und Peinlichkeiten nach, als Melissa sich hinter mich stellt, mir eine Hand ans Kreuz legt und mich unsanft nach draußen schubst.

Tomas und ich haben das Restaurant verlassen und schlendern zu seinem Motorrad, als ich neugierig an ihm hochsehe. »Woher hast du das blaue Auge?« Es ist fast verschwunden und nur noch blass erkennbar.

»Ich trainiere Grappling und habe einen Ellenbogen abbekommen.«

»Du hast also verloren?«, ärgere ich ihn.

Er sieht mich nachdenklich an. »Würdest du aufgeben, nur weil du einen Ellenbogen abkriegst?«

Sprachlos steige ich auf den Rücksitz seiner Ducati, und das Motorrad rast in die Nacht davon und legt sich um das Kolosseum herum scharf in die Kurven. Lachend klammere ich mich an seine Lederjacke, während er Gas gibt und meine Haare unter dem Helm flattern. Wir fahren an den angestrahlten Bögen vorbei, wo die Gladiatoren früher miteinander kämpften; ich kann beinahe vor mir sehen, wie die antiken Pferdespannwagen nebeneinander über den Schotter preschten. Eine kleine Gasse, eingerahmt von wispernden Bäumen und duftenden Orangenhainen, windet sich den Berg hinauf, und ganz oben steht eine einzelne Laterne im Mondschein.

»Wo sind wir?« Ich hantiere am Kinngurt meines Helmes.

Klick. Er öffnet die Schnalle und zieht ihn mir vom Kopf. »Komm mit, ich will dir was zeigen.«

Es ist eine Tür. Eine große, beeindruckende Tür, aber mehr nicht. »Schau durchs Schlüsselloch.« Ich blinzele, bis mir klar wird, was ich da sehe. Anstatt in ein Gebäude zu spähen, blicke ich durch ein Spalier aus Hecken geradewegs auf die glänzende Kuppel des Petersdoms.

Wie ich herausfinden werde, fasst das Tomas gut zusammen. Ich dachte, er wäre tough und auf den Straßen Roms zu Hause, dabei ist er Neurowissenschaftler. Er bringt mich zu einer Tür, und dahinter verbirgt sich der Vatikan. Ich dachte, ich hätte ein Monopol darauf, wie ein Buch anhand des Covers falsch eingeschätzt zu werden, aber offenbar sind wir hinter unserer großen Klappe gegenseitig voneinander enorm verwirrt.

Als wir unter den Orangenbaumblättern über den knirschenden Schotter laufen, hält Tomas an und zieht mich zu sich. In der lang anhaltenden Stille beugt er sich zu mir runter und küsst mich, und die letzten Reste meiner Großspurigkeit schwinden dahin. Etliche Jahre lang bestand meine einzige Unterhaltung darin, meinem Herzschlag zuzusehen, wie er auf dem Krankenhaus-Monitorgerät piepte, dass es mir schwerfällt, diese neuen sinnlichen Eindrücke zu verarbeiten.

»Gehts dir gut?« Verwirrt zieht er den Kopf zurück.

»Jep, jep.« Zeig irgendeine Reaktion!

Er hat den Arm um meine Schultern gelegt, und wir sitzen, gefährlich nah vorm freien Fall, auf einer Steinmauer hoch oben über den Lichtern der Stadt. Zwischen unseren Küssen beobachte ich zwei andere Paare mit beinahe intellektuellem Interesse; schaffe es irgendwie nicht, ganz im Moment zu sein. Wahrscheinlich ist es das erste Mal, dass ich berührt werden möchte – ohne dass mich jemand dazu zwingt –, und doch kenne ich nur eins: Fluchtinstinkt. Die erste Regel eines jeden guten Straßenkämpfers ist leicht – lass nie jemanden nah genug an dich ran, damit er dir nicht wehtun kann. Hier, hoch oben über Rom, beschleicht mich eine Angst. Nicht zu wissen, wie man das macht, Mädchen zu sein, und wie man zur Frau wird.

Drei Wochen, nachdem wir uns kennengelernt haben, steht Tomas’ Abreise unmittelbar bevor. Es ist ein interessanter Rollentausch, dass zur Abwechslung mal jemand vor mir die Stadt verlässt. »Ich bin nervös«, sagt er in seiner direkten Art, während wir im Schatten der Basilica di Santa Maria Maggiore laufen, vor der ein Zauberer mit Zylinder seinen Stand aufgebaut hat.

»Sieh es einfach als Abenteuer. Als eine Erfahrung.« Ich verstehe nicht, was die große Sache daran ist, für ein Forschungsprojekt quer über den Globus nach Singapur zu fliegen. Ich meine, er hat es sich ja ausgesucht. Niemand zwingt ihn dazu.

Tomas schaut mich von der Seite an, und etwas Undefinierbares streift sein Gesicht. »Ihr seid also quer durch die Welt gereist, als du klein warst, obwohl dein Dad keinen richtigen Job hatte?«

»Na ja, er wollte die ganze Welt sehen, das hat er auch, würde ich sagen … Aber das war nicht immer spaßig.«

»Dein Dad klingt nach einem Rockstar.«

»War er nicht.« Er sollte den warnenden Unterton in meiner Stimme hören.

Sein Lächeln fordert mich heraus. »Klingt aber wie einer.«

Ich weigere mich, mich aus der Reserve locken zu lassen. Schweigend überqueren wir den Viale di Trastevere und laufen Richtung Brücke, während sich eine Schwere in mir ausbreitet. Er ist eben doch nur ein gewöhnlicher Typ; er wird mich nie verstehen. All die Erinnerungen an einsame Jahre kommen wieder hoch; niemand wird mich je verstehen.

»War er derjenige, der sich so für Yoga und gesunde Ernährung interessiert hat?«

»Ja, ich habe mich praktisch von Salat ernährt.«

»Da hast du den Salat.« Er lacht.

Ich funkele ihn an.

»Ich finde trotzdem, es klingt, als sei es total toll gewesen, in so einer Familie aufzuwachsen.«

Ich verspüre das dringende Bedürfnis, ihn von der Brücke zu schubsen, und praktischerweise überqueren wir gerade den Ponte Garibaldi, der unter uns dahinrauscht. Ich lege einen Schritt zu, eile hinüber und sehe es nicht kommen, als Tomas mit einem Mal von hinten die Arme um meine Taille schlingt, mich zu sich zieht und mich zwingt, ihm in die Augen zu schauen. »Warum bist du wütend?«

Witzig, es war mir nie zuvor aufgefallen, aber seine Augenfarbe wechselt in der untergehenden Sonne von Braun zu Grün. Ich schaue weg.

»Was habe ich getan, dass du mir nicht vertraust?« Konzentriert wartet er auf meine Antwort, und mein Ärger ist augenblicklich verpufft.

»Ach, es hat nicht mit dir zu tun«, sage ich seufzend. »Sondern damit, wie ich aufgewachsen bin.«

Er streicht mir eine vom Wind verwehte Strähne hinters Ohr. »Du meinst, mit Salat?«

Ich lache, und er lächelt. »Erzähl.«

Und so erzähle ich es ihm. Zumindest einiges davon. Wie wir ständig Menschen, die uns ans Herz gewachsen waren, ohne jede Vorwarnung zurückließen. Wie ich mich noch so sehr anstrengen und trotzdem den Ansprüchen meines Vaters nie genügen konnte. Ehrlich gesagt war mein kurzer Ausflug in den Knast das einzige Mal, dass ich eine strukturierte Umgebung hatte und mich aufgehoben fühlte. Ich erzähle ihm von New York, wie ich allein und obdachlos versuchte, über die Runden zu kommen, mich in dem Haifischbecken der Modelbranche zu behaupten. Meine Sicht verschwimmt, und ich drehe mich weg und wische mir über die Wangen.

»Cher, komm her.« Er runzelt besorgt die Stirn, dann liegt mein Kopf an seine harte Schulter gebettet. Die Touristen starren uns an.

»Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen. Das tut mir leid«, murmelt er an meiner Wange.

Aber ich empfinde Euphorie. Ich habe gerade geweint. Vor einem Mann, den ich kaum kenne. Wie ein ganz normaler Mensch. Und so kommt es, dass wir uns das erste Mal ernst unterhalten. Er ist ebenfalls in einer Kampfzone aufgewachsen. Während er außer Rand und Band war, keine Regeln kannte und auf der Straße in Schlägereien geriet, bekriegten sich seine Eltern zu Hause. Das erklärt vermutlich, wieso wir uns in bestimmten Dingen so ähnlich sind.

Als wir uns trennen und ich am Fluss entlang den ganzen Weg von Trastevere zur Piazza del Popolo laufe, denke ich nach. An meiner Wohnungstür halte ich inne. Es wird interessant sein zu sehen, ob es trotzdem bei unserem Date heute Abend bleibt.

Als er später anruft, um abzusagen, überrascht mich das nicht. Es sei schon spät, sein Flug gehe in aller Frühe, aber zwischen den Zeilen lese ich heraus, dass ihm der heutige Tag zu viel war. Dass ich zu viel bin.

Jeden Morgen schiebt ein gebückter alter Mann einen Holzwagen mit Sonnenblumen – meinen Lieblingsblumen – langsam die Straße entlang, ohne sich um die vorbeirasenden Autos zu scheren. Am Morgen nach unserem Gespräch lehne ich mich aus dem Fenster und sehe dem alten Mann dabei zu, wie er in seiner aus der Zeit gefallenen braunen Strickjacke und dem Filzhut seinen Stand an der Ecke aufbaut. Als ich ans Telefon gehe, reagiere ich wie auf Autopilot.

»Kann ich dich vor dem Unterricht noch mal sehen? Ich müsste es noch rechtzeitig zum Flughafen schaffen.«

Zwanzig Minuten später fährt Tomas in der Ducati-Lederjacke, die ich mag, vor und parkt sein Motorrad neben dem Sonnenblumenmeer. Ich betätige den Türsummer. Oh Mann, Bhajan, versuch wenigstens, cool zu bleiben. In der winzigen Küche gieße ich grünen Tee in die einzige Tasse, die ich besitze. Wir schweigen einen Moment lang. Morgendliche Wärme dringt durch den Rollladen in den abgedunkelten Raum. Bis mittags wird es heiß wie im Backofen sein.

»Ich habe viel darüber nachgedacht, was du gesagt hast.« Er reicht mir die Tasse, damit wir sie uns teilen.

»Über welchen Teil?«

»Den ernsten Teil.«

»Ah ja.« Ich kaschiere meine Nervosität mit einem Grinsen. »Das einzige ernste Gespräch, das wir je hatten.«

Er lächelt nicht. »Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, ob es dafür einen Ausdruck auf Englisch gibt, aber: Mi dispiace.«

»Du meinst, es tut dir leid?«

»Ja, aber in einer anderen Bedeutung. Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest. Mi dispiace veramente.«

Ich senke den Blick, denn er kennt gerade mal einen Bruchteil des Ganzen. Unsere Knie berühren sich, während wir auf den hohen Barhockern sitzen, und er legt eine Hand auf mein nacktes Bein. Er beugt sich vor, küsst mich, beißt mir leicht in die Lippe. Dann schnappt er sich einen der vielen Stifte, die auf meiner Arbeitsplatte herumliegen, dreht die Visitenkarte einer lokalen Gelateria um und kritzelt etwas darauf. »Ich möchte mit dir in Kontakt bleiben. Wir könnten telefonieren, wenn du magst?«

Damit hatte ich nicht gerechnet. Außerdem war ich zu sehr von den Muskeln abgelenkt, die sich unter seinem weißen T-Shirt abzeichnen. Ich dachte darüber nach, dass ich mich wenigstens einmal an jemanden erinnern möchte, ihn mir mit seinem ganzen Gewicht einprägen will. Offenbar habe ich ihn aus Versehen dazu gebracht, ganz höflich zu sein, wertvolle Zeit damit zu verschwenden, diverse Videocall-Adressen zu notieren. Vielleicht ist es die Tatsache, dass er wegfliegt, die mir Mut verleiht. Oder vielleicht fange ich an, allmählich zu begreifen: Nicht alles, was echt ist, muss für immer halten. Manchmal sind zwei Menschen dazu bestimmt, dass sich ihre Wege kreuzen, aber auch wieder auseinandergehen – deshalb ist es nicht minder bedeutsam.

Meine Lippen an seinen stoppligen Hals gepresst, sage ich: »Zieh dein Shirt aus.«

Er dreht sich auf dem Hocker in meine Richtung und sieht mich herausfordernd mit hochgezogenen dunklen Augenbrauen an. »Wieso?«

»Ach, jetzt mach schon!«, sage ich lachend.

Lächelnd nehme ich seine Hand. Ich führe ihn ins Schlafzimmer, wo er mich herumwirbelt und auf das weiße Laken wirft. Dann zieht er sein Shirt aus, wie Jungs es tun, mit einer Hand und ohne sich um ihre verstrubbelten Haare Gedanken zu machen. Glücklich spüre ich jeden Zentimeter seiner Haut auf mir. Er setzt sich auf, die Knie zu beiden Seiten meiner Beine, nur mit seiner abgewetzten Jeans bekleidet. Ich möchte ihn wieder zu mir herunterziehen, aber es ist solch ein atemberaubender Anblick. Verstrubbelte schwarze Haare, markanter Kiefer und der schlanke Körper eines Kämpfers mit einer langen Narbe quer über die Brust.

Auch er betrachtet mich, prägt sich den Moment ein, dann ist er wieder bei mir und küsst meinen Hals, fährt die Konturen meines Gesichtes nach. Wie seltsam, dass ich erst jetzt begreife, dass ich noch nie von jemandem berührt wurde, dem es ernst damit war. Denn wie bei allem anderen im Leben macht Ehrlichkeit auch hier einen spürbaren Unterschied.

47 | Luxemburg, 28 Jahre alt

Am 6. Februar hebt der Obergerichtshof von Luxemburg die Entscheidung der Staatsanwaltschaft auf. Das Außenministerium ordnet an, einen sogenannten Heimatschein, einen Staatsangehörigkeitsnachweis, auf meinen Namen auszustellen. Monate später ist es so weit. Ich bin offiziell Staatsbürgerin.

Meine Schritte hallen durch den leisen Flughafen von Luxemburg, und ich muss an den Tag zurückdenken, als ich mit meiner Mutter hier ankam. Die automatischen Schiebetüren zur Gepäckabholung gehen auf, und ich sehe, wie sie hinter dem Gate auf mich wartet. Wortlos, ungläubig umarmen wir uns und fahren dann zum Ministerium. Ich stehe im Büro, noch immer zu dünn, aber zunehmend kräftiger, und recke das Kinn, während die Kamera aufblitzt. Es gibt viele Porträtfotos von mir, aber das ist mein Lieblingsfoto. Das wird in meinem neuen Pass prangen. Endlich bin ich kein Phantom mehr.

Am späten Nachmittag sitzen mein Großvater und ich im Garten, in dem die Apfelbäume Knospen treiben. Er leckt an einem Cornetto, und ich trinke meinen Tee, die Beine über die Lehne eines Korbstuhls gelegt. Nonna, die in einem Jahr hundert wird, macht sich mit einem Rechen an Unkraut im Rucola-Beet zu schaffen. »Du trägst also immer noch diese Männerhüte«, sagt Bopa mit einem Seufzen.

Meinen Fedora nach hinten drehend, versuche ich, ihm sein Cornetto wegzuschnappen.

»Also ich …«

Wir beide erschrecken beim Klang von Nonnas Stimme.

»… mag ihren Hut!« Sie wirft Unkraut über die Schulter und macht beim Salatbeet weiter.

Eine ganze Zeit lang betrachtet er mich mit sanftem, aber unschlüssigem Blick. Ironischerweise hätte er mir, wenn er mich erzogen hätte, genau die Dinge, die er an mir schätzt, nie durchgehen lassen, geschweige denn mich dazu ermuntert. Meinen sturen Optimismus, so konträr zu seinen Ansichten, und meine Entscheidung, immer an ein Morgen zu glauben. Offenbar ist das Leben ein langer Prozess, im Laufe dessen unsere Überzeugungen ordentlich durchgeschüttelt werden. Da kam so ein 24-jähriges Mädel auf Storchenbeinen angelaufen und stellte alles infrage, woran er je geglaubt hatte. Ich habe sein Bild unserer Familie ins Wanken gebracht und seinen Glauben an die Gerechtigkeit der Gesetze und des Rechtssystems, für das er sich zeitlebens eingesetzt hat. Aber ich habe gelernt, ihn zu respektieren, denn sobald ich ehrlich zu ihm war, hat er mir keine Schuld an irgendetwas gegeben. Stattdessen hat er eine gute Anwältin engagiert und ist mit seinen 96 Jahren und seinem Gehstock jede Woche zum Gericht marschiert. Während ich in Berlin und im Krankenhaus war, hat er darum gekämpft, damit ich das bekam, was er sonst niemandem zugestanden hatte: Freiheit.

Es wird nie ganz und gar harmonisch zwischen uns sein. Wir sind uns immer noch in so vielem uneinig, aber vielleicht ist das einfach typisch Familie. Es ist schwer anzuerkennen, dass sie auch nur Menschen sind, zumal wenn sie nicht ganz den eigenen Erwartungen entsprechen. Man kann seine ganze Lebenszeit damit verschwenden, deswegen wütend auf jemanden zu sein, wie er nun mal ist. Mein Großvater hat das beinahe getan, was für mich eine echte Lektion war. Deshalb sage ich, wenn Leute mich fragen, ob ich meinen Frieden gemacht und meiner Familie verziehen hätte, die Wahrheit: Ich habe ihnen weder verziehen noch nicht verziehen.

Denn ich glaube, in diesem Fall ist es nicht an mir, jemandem zu vergeben.

So viele Jahre lang war ich todunglücklich und habe mich gequält, weil ich dachte, das alles sei meine Schuld. Dass irgendetwas an mir nicht liebenswert wäre, weshalb andere Menschen mir Schmerz zufügten, mich täuschten oder verließen. Aber falls das Universum einen Mittelpunkt hat, dann garantiert nicht mich. Die Menschen in meiner Familie hatten tief sitzende Probleme und womöglich Persönlichkeitsstörungen, und ich wurde zufällig in diese Konstellation hineingeboren. In das Kreuzfeuer.

Inzwischen gelingt es mir sogar zu sehen, wie oft sie sich redlich bemüht haben, wie sie mir zuliebe ihr Bestes gaben. Sie hatten nicht vor, das Mädchen zu zerstören, das ihnen am Herzen zu liegen schien. Aber wenn eine Person so selbstzerstörerisch ist, treffen die Granatsplitter unweigerlich auch diejenigen, die sich entschieden an ihre Seite stellen.

Insofern stellt sich nicht die Frage, ob ich ihnen vergebe oder nicht. Denn ich habe endlich verstanden, dass das nichts mit mir zu tun hatte. Es ist etwas, das ich durchlebt habe, der Auftakt zu meinem Leben, der mir wohl oder übel zuteilwurde. Doch das ist nicht meine gesamte Geschichte. Ich besitze die Fähigkeit, den Rest meines Lebens selbst zu gestalten – eine ebenso beängstigende wie befreiende Vorstellung. Eine Fortsetzung zu erschaffen, die zur Abwechslung mal besser ist als die ursprüngliche Idee, aus der sie entstand.

In einem idyllischen Garten im Schatten des Apfelbaums lehnen sich der ewige Bulle und die Tochter eines Trickbetrügers zurück und lächeln einander an.