KÜ-2
»Mein Prinz, euer Vater muss unbedingt von eurem Geschick und eurem Mut erfahren. Er wird so stolz auf euch sein«, sagte Hauptmann Josvel schon zum gefühlt zehnten Mal auf dem Weg zurück in die Stadt.
Ich gab nur ein undefinierbares Murmeln zur Antwort und sah hinüber zu unserem Gefangenen, der zusammengesunken auf einem Pferd saß. Nathraen der Schlächter war bewusstlos. Seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden, und ein paar Stricke hielten ihn im Sattel. Es war kein Wunder, dass er noch nicht erwacht war. Die versteckte Klinge, die ich immer bei mir trug, war in Gift getränkt gewesen. Ein Nervengift, das innerhalb von Augenblicken Lähmung und gleichzeitige Bewusstlosigkeit hervorrief. Sie war meine Notwaffe für den Fall, dass ein ehrlicher Kampf nicht möglich war. Bisher hatte ich sie noch nie einsetzen müssen. Da der Schlächter aber nicht ehrenhaft gekämpft und kurz davorgestanden hatte, mich zu töten, war dies die einzige Möglichkeit gewesen, selbst zu überleben und ihn gefangen zu nehmen. Bei unseren Feinden war er ein wichtiger Mann – möglicherweise konnte er sich noch als nützlich erweisen. Wenn es stimmte, was er gesagt hatte, und die Dunkelelfen tatsächlich erpicht darauf waren, uns zu vernichten, wäre jede Information hilfreich. Lebend war er vorerst mehr wert als tot.
»Ich bewundere eure Kampfkünste schon länger, mein Prinz. Doch niemals hätte ich erwartet, ihr könntet einen solch legendären Kämpfer zur Strecke bringen.«
»Was wollt ihr damit sagen, Josvel?« Ich war mir nicht sicher, ob es ein Kompliment oder eine Beleidigung sein sollte.
»Ihr seid Selvaras’ bester Kämpfer. Wir können uns glücklich schätzen, euch an unserer Seite zu wissen.«
»Ihr meint, mich als euren Anführer zu haben?«
»Natürlich! Auch das. Eure Männer vertrauen euch. Ihr habt erneut bewiesen, dass man sich auf euch verlassen kann.«
Ich lachte kurz auf.
»Josvel, bitte. Hört auf, mich ständig mit Lob zu überschütten. Ich weiß auch so, was ihr von mir haltet.«
Der freundliche Blick des Hauptmannes, der manchmal so gar nicht zu ihm als Kämpfer passte, brachte mich dazu zu seufzen.
»Bloß weil ich euer Prinz bin, müsst ihr nicht auf Kritik verzichten. Sagt frei heraus, was ihr denkt.«
»Mein Prinz, ich sage stets die Wahrheit!«, beteuerte der Hauptmann und wirkte dabei sogar ein wenig gekränkt.
Ich vermied es, ein abschätziges Schnauben von mir zu geben, und versuchte, mich an meine gute Erziehung zu erinnern, während wir auf die Stadttore zuritten.
Selvaras, die Hauptstadt der Waldelfen aus Calindil und ihres Königs Alathon, meines Vaters, lag gut versteckt zwischen Bäumen und konnte durch den magischen Schutz, der sie umgab, erst dann gesehen werden, wenn man direkt vor ihren Mauern stand. Somit war es für unsere Gegner fast unmöglich, sie einzunehmen, weil niemand außer uns Waldelfen ihre Lage kannte. Wir brauchten die Stadt nicht zu sehen, um zu wissen, wo sie sich befand.
Wir durchschritten die magische Sphäre, und nach einem kurzen Moment der Übelkeit, die von ihrem Zauber hervorgerufen wurde, während man sie passierte, fühlte ich Erleichterung: Wir waren zuhause.
Wie aus dem Nichts erschien die komplette Stadt, deren Türme in die Lüfte ragten – bis hinauf zu den höchsten Wipfeln der Bäume. Die spitzen Bögen des Haupttores waren unverwechselbar, ebenso die filigranen, rankenartigen Verzierungen auf den Torflügeln, die von den ersten Elfen gefertigt worden waren – so erzählt man. Da sie alle längst tot waren, gab es keine Zeitzeugen mehr, nur Fragmente in Form von Artefakten und Schriften und ein paar magische Erinnerungsfetzen, die von der damaligen Zeit erzählten.
Die Wachen auf den Mauern hatten bereits die Tore geöffnet, und so konnten wir, ohne Halt zu machen, in den großen Hof hinter den Mauern reiten und absitzen.
Unser Empfang fiel dürftig aus, da es noch immer Nacht war und die Stadt schlief. Doch das war mir lieber als ein Empfangskomitee von hundert Elfen, die sich die Mäuler darüber zerrissen, mit wie wenigen Männern ich von einer einfachen Mission zurückgekehrt war.
»Was soll mit dem Dunkelelfen geschehen, mein Prinz?«, fragte Hauptmann Josvel, während er mein Pferd festhielt, damit ich absteigen konnte.
»Werft ihn in den Kerker und bewacht ihn, bis ich zurück bin.«
Josvel nickte mir zu und wies die Männer entsprechend an. Es waren vier ausgewachsene Gardisten nötig, um den Schlächter von seinem Ross zu hieven und zum Kerkereingang zu schleifen. Er war noch immer bewusstlos, was mich nicht verwunderte. Ich hatte den Dolch fast bis zum Schaft in seine Seite gestoßen. Das Gift hatte sehr schnell in seinen Körper eindringen und seine Wirkung entfalten können. Ich runzelte die Stirn, als ich die dünne Blutspur sah, die der Gefangene hinterließ.
»Lasst einen Heiler kommen und versorgt seine Wunden, solange er noch schläft.«
»Aber mein Prinz, vielleicht solltet ihr vorher den Rat eures Vaters einholen, bevor ihr …?«
»Ihr solltet meinem Wort vertrauen, Josvel. Sagtet ihr nicht eben, dass ihr froh seid, mich als euren Anführer zu haben?«
»Sicher, das sagte ich, aber euer Vater ist immer noch …«
»… der König, da habt ihr Recht. Aber auch er wird wollen, dass der Dunkelelf lebt. Wir brauchen ihn lebend, um etwas über unsere Feinde zu erfahren. Ich habe ihn schwer verletzt. Er könnte aufgrund der Wunde den Tod finden, noch bevor er reden kann. Wenn der Schlächter stirbt, war alles umsonst. Also lasst die Heiler kommen, versorgt seine Wunde. Ich stoße bald zu euch.« Ich verabschiedete mich mit einem Nicken.
Josvel gab den Gardisten Anweisungen, während ich bereits die Stufen zum Palast erklomm.
Der Thronsaal des Herrschers über Selvaras war mit den Jahren zu einer prunkvollen Halle ausgebaut worden. Früher einmal hatte man hier nicht mehr vorgefunden als ein paar Stühle und Bänke sowie einen Haufen Bücher und Pflanzen. Doch nun, seitdem mein Vater unsere Reichsgrenzen Jahr für Jahr erweitert und uns auf Plünderungsmissionen geschickt hatte, stapelten sich die Schätze. Statuen fremder Völker lagerten zwischen Vasen und goldenen Krügen; Waffen aller Metallsorten und Farben waren als Trophäen an der einen Seite der Halle ausgestellt, während gegenüber ein heilloses Durcheinander an Schriftrollen und Büchern herrschte, in die ein Dutzend Gelehrte Tag für Tag ihre feinen Nasen steckten, um nach Gründen zu suchen, unsere Nachbarländer anzugreifen.
Mein Vater saß noch genau so da, wie ich ihn verlassen hatte: auf seinem Thron, umgeben von Bücherhaufen. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich nur fünf Minuten fort gewesen, dabei mussten es Stunden sein.
König Alathon gehörte zu den größten und stattlichsten Elfen des ganzen Königreichs, und jeder respektierte ihn, mit Ausnahme von mir, seinem einzigen Sohn und Erben.
Als er mich näherkommen sah, hob er den Kopf.
»Du warst lange fort«, bemerkte er, und ich spürte, wie sich mein Inneres zusammenzog, als ich seinem unterkühlten Blick begegnete. Ich hinkte ein wenig, sodass es mir schwerfiel, mich elegant zu verneigen, was er sofort bemerkte.
»Was ist geschehen?«
»Ein Hinterhalt, Vater. Die Späher waren nur dazu da, uns in eine Falle zu locken.«
»Unmöglich, unsere Kundschafter irren sich nicht.«
»Es war eine Falle , Vater! Man hat uns glauben lassen, dass es nur ein paar Späher seien. In Wahrheit haben uns weit mehr als fünfzig Krieger angegriffen.« Ich hatte meine Stimme erhoben, und die Gespräche der anderen im Saal verstummten.
»Das kann nicht sein, wir kontrollieren diese Wälder, unsere Augen und Ohren sind überall in Calindil. Ihr müsst euch verlaufen und versehentlich unsere Grenzen überschritten haben. «
»Ein Waldelf verläuft sich nicht. Wir haben Calindil nie verlassen, aber du hast falsche Berichte erhalten.«
»Hüte deine Zunge, mein Sohn!« Er war vom Thron aufgesprungen, doch das beeindruckte mich nicht.
»Nur drei meiner Gardisten und Josvel haben überlebt … Die anderen wurden auseinandergetrieben und wie Vieh abgeschlachtet«, presste ich zwischen zusammengebissen Zähnen hervor. »Es war ein Blutbad …«
Ich wollte schon beginnen, von dem Nebel und dem Schlächter zu erzählen, als mein Vater eine der Wachen heranwinkte.
»Schickt nach Hauptmann Josvel. Ich möchte alle Einzelheiten der Mission erfahren. Mein Sohn darf sich entfernen.« Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, ließ er sich auf seinen Thron nieder und nahm eine Schriftrolle zur Hand.
In mir brodelte es gefährlich, doch ich vermied es, aus der Haut zu fahren, stand auf und wandte mich zum Gehen. Meine Fingerknöchel knackten, während ich an den Gelehrten vorüberlief, die mich anstarrten und tuschelnd wissende Blicke austauschten. Sie redeten über mich, echauffierten sich darüber, wie ich es wagen konnte, in Gegenwart des Königs meine Stimme zu heben. Doch das war mir egal. Mein Vater war schuld, dass meine Männer gestorben waren. Er hatte uns dem Feind geopfert, weil er zu stolz gewesen war, an sich und seinen Kundschaftern zu zweifeln – und ich Idiot war dumm genug gewesen, nichts zu hinterfragen.
Der Feind hatte uns hereingelegt, uns, die Obersten von Calindil. Wir waren blindlings in die Falle getappt – in unserem eigenen Land. Und mein Vater brachte es nicht einmal fertig, seinen Fehler einzugestehen .
Ich warf einen letzten Blick auf die goldene Statue einer Göttin direkt neben den Toren und unterdrückte das Verlangen, mein Schwert zu ziehen und ihr den Kopf abzuschlagen.
»Gold und Götzen …« Leise fluchend trat ich ins Freie.
Auf halbem Weg zu den Kerkern kam mir Hauptmann Josvel entgegen, die Rüstung mit Blut besudelt.
»Was ist geschehen?«, fragten wir gleichzeitig.
»Der Schlächter, er ist wach und wütet in der Zelle, zwei weitere Gardisten sind ihm zum Opfer gefallen.« Josvel verhaspelte sich beinahe beim Reden.
Ich stöhnte auf. Das konnte doch nicht wahr sein – musste diese Bestie auch noch von Gift benebelt und in Ketten solche Schwierigkeiten machen?
»Wie hat der König entschieden?«
»Ihr werdet es gleich selbst von ihm erfahren. Geht, er erwartet euch«, erwiderte ich knapp, bevor ich die Gittertore zu den Kerkern passierte und zügig die Treppen hinabstieg.
Der Geruch von Fäulnis drang mir in die Nase, kaum dass ich zehn Schritte in die Tiefe gegangen war. Es roch nach totem Fleisch, nach Krankheit und Kot. Das konnten nur die Rattler sein, gierige kleine Nagetiere, die sich in jedem Kerker von hier bis zu den Eislanden einnisteten und sich von all dem ernährten, was die Gefangenen übrig ließen. Diese flinken, schwanzlosen Nagetiere mit den großen Schneidezähnen waren außerdem Krankheitsüberträger, und selbst wenn man glaubte, sie ausgerottet zu haben, kamen sie nach ein paar Mondwenden wieder und nisteten sich erneut ein. Die letzte Säuberung war kaum eine Mondwende her.
Auf dem Weg hinab hörte ich immer wieder das Fiepen und Huschen der gierigen Biester und musste mich zusammennehmen, nicht sofort Jagd auf sie zu machen. Ich hatte kaum Zeit für mein eigentliches Vorhaben, da konnte ich nicht noch nebenbei Ungeziefer vertreiben.
Es war nicht nötig, nach dem Weg zu fragen; die aufgeregten Rufe der Wachen wiesen mir den Weg. Man hatte Nathraen in eine der sichersten Zellen im untersten Stockwerk gebracht. Ich konnte das Rasseln von Ketten hören, das wütende Schnauben eines Mannes und die Anweisungen des Kerkermeisters, der den umstehenden Gardisten Befehle zurief. Offensichtlich war der Dunkelelf bei Bewusstsein und versuchte zu entkommen.
Als ich mich der Zelle näherte, konnte ich sehen, wie sich fünf meiner Männer vor den Gitterstäben der Zelle tummelten und mit Speeren darin herumstocherten.
»Lasst den Unsinn!«, rief ich und beschleunigte meine Schritte.
»Aber Herr, er hat Celophil und Almoron getötet.«
»Was seid ihr auch so unvorsichtig mit einem wie ihm! Ich hatte euch gesagt, wer er ist«, fuhr ich sie an und erntete beklommenes Schweigen.
»Wie hat er das überhaupt geschafft, in Ketten zwei Gardisten zu töten?«
»Sie wollten ihn gerade in der Zelle anketten, da hat er …«
»Ich will das nicht hören. Schlimm genug, dass ihr meine Warnung missachtet habt«, sagte ich mit einem Kopfschütteln.
»Nun, Heerführer, ihr seid noch nicht so erfahren wie …«
»Schweigt! Wegen eures Leichtsinns sind zwei Kameraden gestorben. Ihr solltet das nächste Mal nicht an meinen Worten zweifeln. «
Sie alle nickten.
Ich warf einen Blick in die Kerkerzelle. Der Anblick des Dunkelelfen ließ mich seufzen. Er sah erbärmlich aus. Die Wachen hatten ihm die Rüstung vom Leib gerissen. Um seine Lenden lag nur noch ein Fetzen Stoff. Er war an den Handgelenken zusammengekettet und hing von der Decke herab, sodass er nur mit dem großen Zeh den Boden berühren konnte. Seinen dunkelgrauen Körper, der unfassbar sehnig und muskelbepackt war, zierten Dutzende Narben und offene Wunden. Dreck, Blut und Spucke mischten sich auf seiner Brust und flossen zäh herab. Der Verband um seine Mitte war bereits mit Blut getränkt – offenbar hatte der Heiler keinen Sinn darin gesehen, seine Aufgabe richtig zu erledigen.
Nathraen der Schlächter wand sich kreisend um den einen Punkt, an dem er Bodenkontakt hatte, seine Hände waren bereits abgeschnürt. Aus seinen Augen blitzte unbändiger Hass, der abwechselnd mich und die anderen traf.
»Lasst ihn herunter«, befahl ich und erhielt dafür fragende Blicke seitens meiner Männer.
»Aber, Heerführer, er könnte sich losreißen und uns alle töten, so wie Celophil und Almoron.«
»Ich lasse es darauf ankommen.«
»Prinz Telrys, seid ihr sicher?«
»Tut, was ich verlange!«, bellte ich und zerrte einen der Gardisten zu der großen Winde hinüber, an der Nathraens Kette aufgerollt war. Ich ließ ihn erst los, als er die Kurbel betätigte und sich die Kette so weit senkte, dass der Schlächter auf dem Boden stehen konnte.
»Das genügt. Ihr könnt gehen.«
»Heerführer, er wird euch töten. «
»Verschwindet!« Die Wachen zuckten zusammen und machten sich schnell davon – und mit ihnen auch der Lärm, der den Aufenthalt in den Kerkern bis eben unerträglich gemacht hatte.
Entgegen den Befürchtungen der Wachen tat Nathraen gar nichts. Er stand auf wackligen Beinen, den Kopf gesenkt, dabei leise atmend. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er Schmerzen empfand, doch der größte Schmerz rührte wohl von der Demütigung her, die er erfahren hatte. Der legendäre Krieger mit dem Ruf, unbesiegbar zu sein, war nun in der Gefangenschaft seiner Feinde, und zwar durch die List eines Prinzen, den er als Burschen bezeichnet hatte.
»Ihr habt mich unterschätzt, Maala'tel.« Ich konnte mir den hochmütigen Unterton nicht verkneifen. »Ihr hättet mich nicht so reizen sollen, dann hätte ich euer Leben noch im Wald genommen, und die Schmach der Niederlage wäre euch erspart geblieben.«
Nathraen reagierte nicht und hielt noch immer den Kopf gesenkt.
»Ihr habt einen Fehler gemacht.« Ich wusste, dass ich ihn provozierte, denn genau das wollte ich. Er hatte mich unterschätzt. Nun sollte er erkennen, dass man nicht mit uns spielen konnte.
»Wartet nur ab, bis euer Volk von eurer Niederlage erfährt. Euer Ruf als Schlächter und Unbezwingbarer ist nun dahin. Ein winziger Stich mit einem Dolch war es, der euch zu Fall gebracht hat.«
Meine Blicke wanderten an dem Körper des geschwächten Mannes auf und ab und blieben immer wieder an dem blutgetränkten Verband hängen, der um seine Taille gebunden war .
»Ich werde den Heiler erneut kommen lassen, um euch richtig zu verbinden.«
Nathraen hob langsam den Kopf und musterte mich aus halb geöffneten Augen.
»Macht euch nicht die Mühe, Bursche, es ist besser für euch, wenn ich geschwächt bleibe.«
Ich reckte das Kinn und versuchte auf dieselbe überhebliche Art zu lächeln, die er mir im Wald ein Dutzend Mal gezeigt hatte.
»Ihr glaubt, mich töten zu können?«
»Es wird der Tag kommen, da bettelt ihr darum, dass ich euch meine Waffen in den Körper ramme«, knurrte er, dabei die Zähne aufeinanderschlagend, als würde er mich bereits in Gedanken zerfleischen.
Es war unmissverständlich, was er für mich empfand: abgrundtiefen Hass.
Mir ging es genauso. Er war ein Monster, das beinahe alle meine Männer getötet hatte. Ich hasste ihn dafür, dass er es geschafft hatte, uns in eine Falle zu locken. Doch er hatte sich überschätzt. Ich war es, der ihn gefangen genommen hatte, und nun war von ihm nicht mehr übrig als eine kranke Hülle. Er war geschwächt; sein Leben lag in meinen Händen. Wie reizvoll war der Gedanke, es hier und jetzt zu beenden.
»Ihr solltet es tun«, murmelte Nathraen, und für einen Moment dachte ich, er habe meine Gedanken gelesen.
»Ich sollte was …«
»Lasst eure Wut an mir aus. Es ist niemand hier. Wir sind ganz allein. Ihr könnt alles mit mir machen …«
Es war eine verlockende Aussicht, doch zu unvernünftig, um mich in Versuchung zu führen .
»Ihr glaubt, dass ich es genießen würde, euch leiden zu sehen?«
»Natürlich … ich bin in euren Augen nicht mehr wert als eine Fliege, die man zerquetscht.«
»Ihr sprecht von …«
»Meinem Volk, Prinz Telrys. Was wisst ihr denn schon über die Dunkelelfen?«
»Ihr habt dem Licht den Rücken zugekehrt, ihr seid …«
»… Abschaum! Verderbte, verfluchte und zutiefst böse Kreaturen. – So hat man es euch gelehrt, nicht wahr?«
»Stimmt es denn nicht?« Ich lief vor der Zelle auf und ab. »Seid ihr etwa nicht verflucht und zutiefst böse?«
Nathraen grinste schief.
»Böse in der Tat, verflucht möglicherweise, aber wir entstammen alle dem gleichen Schoß. Wir sind die Nachkommen der ersten Elfen – genau wie ihr und alle anderen Elfen der Oberfläche.«
»Lügner!«, spie ich aus und trat gegen die Gitterstäbe. Es war offenkundig, dass er versuchte, mich zu beeinflussen – mich, der ihn besiegt hatte, was vor mir noch niemandem gelungen war. Meine Lehrmeister hatten mir von klein auf beigebracht, dass die Dunkelelfen unsere Feinde seien, dass sie es liebten zu intrigieren, zu stehlen und zu töten. Sie waren nicht wie wir Oberflächenelfen. Sie hatten vor Äonen den Weg der Dunkelheit eingeschlagen.
»Ihr habt keine Gnade verdient, und für eure Taten werdet ihr bestraft werden.«
»Könnt ihr das entscheiden, Prinz Telrys? Habt ihr überhaupt schon das Mannesalter erreicht? «
»Ich bin alt genug, um ein ganzes Reich zu regieren.« Ich fühlte mich ein wenig beleidigt durch die Einschätzung meines Alters. Ich war schon hundertachtunddreißig Jahre alt und hatte die Grenze zum Mannesalter, die bei hundert Jahren liegt, somit längst überschritten. Als Heerführer der Waldelfen von Calindil war ich möglicherweise ein wenig unerfahren. Doch meinem Befehl hatten alle Folge zu leisten. Ich hatte mich schon von klein auf als fähiger Schwertkämpfer erwiesen und jagte schon seit ich achtzig war nach Monstern und Eindringlingen. Noch dazu sah ich aus wie ein vollwertiger Elf. Meine kräftigen Schultern, gepaart mit der schlanken Taille, erregten regelmäßig die Aufmerksamkeit der Elfinnen am Hof, ich konnte mich vor Bewunderung und Zuneigung kaum retten.
»Ihr könnt mich nicht überlisten, Dunkelelf. Ihr seid mein Gefangener, und nichts, was ihr sagt, bringt mich aus der Ruhe.« Ich blieb dicht vor den Gitterstäben stehen und gierte danach, Schwäche in seinem Gesicht zu sehen. Doch das blieb mir verwehrt. Stattdessen hatte Nathraen wieder dieses selbstgefällige Grinsen aufgelegt.
»Ihr … Glaubt ihr wirklich, dass ihr mich jetzt noch verhöhnen könnt? In eurem Zustand seid ihr hilflos. Was wollt ihr schon tun?«
Ich konnte gar nicht so schnell schauen, wie er an den Ketten reißend gegen die Gitterstäbe sprang und mich an Kragen und Gürtel packte. Ich war so überrascht von dieser Wendung, dass ich mich nicht rühren konnte und ihn nur aus großen Augen anstarrte.
»Ich könnte euch töten, jetzt und hier, noch bevor ihr um Hilfe rufen könnt«, knurrte Nathraen und neigte spielerisch den Kopf, während seine Finger sich um meinen Hals schlossen .
Ich hob das Kinn an und stemmte mich gegen seinen harten Griff.
»Tut es, wenn ihr könnt«, erwiderte ich und kostete den Moment auf eine seltsame Art aus.
»Habt ihr keine Angst zu sterben?«
»Ihr werdet mich nicht töten«, sagte die Stimme aus meinem Mund, ohne dass ich es ihr befohlen hatte.
»Warum sollte ich nicht?«
»Weil ihr sonst niemals lebend aus diesem Verlies entkommen werdet.«
Ich spürte, wie sich seine Fingernägel in meine Haut bohrten. Gleichzeitig zog er mich am Hosenbund noch näher heran, sodass meine Beine die Gitterstäbe berührten.
Nur eine Handbreit war mein Körper von seinem entfernt. Ich konnte seinen warmen Atem auf meiner Stirn spüren, so nahe waren sich unsere Gesichter.
»Ihr seid klug, Silva'tel.«
Er lächelte und lockerte den Griff um meinen Hals, kurz bevor ich Schritte hörte.
»Prinz Telrys, seid ihr hier unten?«, schallte es aus der Ferne.
Ich trat sofort einen Schritt zurück.
Nathraen zog sich währenddessen an seinen Platz zurück, den Kopf gesenkt.
Hauptmann Josvel kam herbeigeeilt.
»Gab es Probleme? Wo sind die Wachen, die ich eingeteilt hatte?«, fragte er, zwischen dem Dunkelelfen und mir hin- und herblickend.
»Ich … habe sie fortgeschickt«, antwortete ich und strich be iläufig über die Druckstellen an meinem Hals.
Nathraen schien fester zugepackt zu haben, als ich in dem Moment bemerkt hatte. Ob er mich getötet hätte, wenn Josvel nicht gekommen wäre, konnte ich nicht sagen. Ich wusste nur eines: Er war anders als alle anderen Elfen, denen ich je begegnet war. Er war stolz und stark, und er forderte mich unentwegt heraus. Das hatte vor ihm noch niemand gewagt.
»Tut so etwas nie wieder, sie sind zu eurer Sicherheit da, mein Prinz.«
»Kann ich nicht einmal alleine sein?«, stöhnte ich genervt.
Ich glaubte, aus dem Augenwinkel sehen zu können, wie Nathraen lächelte.
»Das könnt ihr natürlich, aber nur, wenn eine Wache …«
»Genug davon!« Mit erhobener Hand gebot ich ihm zu schweigen. Ich mochte es nicht, wie er mich umsorgte. Es reichte, dass meine Mutter sich ständig nach meiner Unversehrtheit erkundigte.
»Habt ihr mit meinem Vater gesprochen?«
»Ja, ich habe ihm von unserer Mission berichtet.«
»Und?«
»Er wünscht euch zu sehen.«
Ich konnte mir ein Stöhnen nicht verkneifen. Ohne den Dunkelelfen eines weiteren Blickes zu würdigen, machte ich mich, mit Josvel im Schlepptau, auf den Weg nach oben.