KÜ-6
Die Reise nach Fiyellnoas traten wir drei Tage später bei Sonnenaufgang an. Alle, die damit betraut waren, hatten durchgearbeitet, um pünktlich zum Morgengrauen fertig zu sein. Eine große Anzahl Pferde, beladen mit Proviant und Zelten, tummelte sich vor den Stadttoren. Die vielen Gardisten warteten in voller Rüstung darauf, dass es losging.
Drei Faral'dan standen bereit: eine für meine Schwestern, eine andere für meine Mutter. Die Dritte war für zwei ihrer Hofdamen vorgesehen, die ebenfalls mitkommen mussten, warum auch immer. Ich vermutete, es geschah aus demselben Grund, den auch Niriel und Venira hatten: Sie wollten Nathraen nackt sehen. Ich schüttelte vehement den Kopf, um meine Gedanken rein zu halten, denn ich hatte mir vorgenommen, mich keine Sekunde mehr unzüchtigen Träumereien hinzugeben. Was geschehen war, war nicht mehr zu ändern, doch ich konnte es hier und jetzt ablegen und nach vorne blicken.
Meine drei Leibwachen konnten sich an diesem Morgen endlich einmal nützlich machen. Nur mit ihrer Hilfe war es mir möglich, meine prächtigste Rüstung anzulegen, die ich normalerweise bei Festen und Zeremonien trug und die zum Kämpfen in etwa so geeignet war wie ein Bierfass. Sie war selbst für mich als stattlichen Waldelfen zu schwer. Der voluminöse Brustpanzer aus weißem Gold war durchzogen von einem Gebilde aus Ranken und Blättern, die sich alle in der Mitte trafen, wo ein riesiges Hirschgeweih prangte – das Wappen von Selvaras. Die schuppenartigen Panzerplatten an Armen und Beinen machten mich unbeweglich, und das Schwert an meiner Linken gab mir Schlagseite. Als mir die Wachen noch den spitzen Helm mit den hüftlangen Federn aufsetzen wollten, brach ich in verzweifeltes Gelächter aus und musste mich kurz setzen. Ich wusste ganz genau, wieso mein Vater darauf bestanden hatte, dass ich die Rüstung trug. Er brauchte etwas, worauf er sich freuen konnte. Der Anblick, wenn ich vom Pferd fiel, wie ein Käfer auf dem Rücken landete und hilflos strampelte, wäre ihm eine Genugtuung. Er wusste ganz genau, wie wichtig es mir war, in der Öffentlichkeit eine gute Figur zu machen. Aus diesem Grund zwang er mich dazu, dieses metallene Monstrum zu tragen. Dass auch sein Ruf darunter leiden könnte, war ihm dabei offensichtlich egal.
Mein brustlanges braunes Haar band ich wie immer zu einem hohen Zopf, bevor ich ohne Helm aus dem Haus trat und mich der Sammelstelle auf dem Platz vor dem Palast näherte.
Trotz bester und tagelanger Vorbereitungen war nicht die geringste Ordnung zu erkennen. Elfen aller Stände wuselten umher, schleppten Decken und Taschen, stiegen auf Pferde, riefen Kommandos und rannten ineinander. Als mich die Gardisten erblickten, nickten sie mir anerkennend zu und machten mir Platz, sodass ich die Pferde und Hauptmann Josvel ungehindert erreichte. Der Hauptmann stand vor meinem falben Hengst und hielt mir die Zügel hin, als er mich kommen sah .
»Ihr tragt gar keinen Helm, mein Prinz«, war seine Bemerkung, als ich meinen linken Fuß in den Steigbügel steckte und mich am Sattel hochzog.
»Ich werde keinen Helm brauchen«, antwortete ich und schaffte es gerade noch, aus eigener Kraft im Sattel zu landen. Derovyel, mein treues Pferd, war solch eine Last nicht gewohnt, und so tänzelte es einen Moment auf der Stelle, um mich und den Sattel an die richtige Position zu rücken, in der es ihm möglich sein würde, uns zu tragen.
»Tut mir leid, mein Freund«, murmelte ich und tätschelte ihm den Hals.
»Prinz Telrys, ihr müsst euren Helm tragen. Ich werde die Wachen danach schicken lassen. Euer Vater …«
»Josvel! «, brüllte ich ihn an, sodass mich jeder Elf im Umkreis von fünfzig Schritten erschrocken ansah.
»Ich brauche keinen Helm, habt ihr das verstanden?«, fuhr ich fort, diesmal bedeutend leiser.
»Natürlich, mein Prinz.« Josvel verneigte sich, doch in seinen Augen konnte ich lesen, dass es ihm nicht gefiel, wie ich ihn vor aller Augen angefahren hatte. Mir gefiel es ebenso wenig, ich war eigentlich immer ein recht umgänglicher Heerführer gewesen, zumindest hatte ich mich stets für einen solchen gehalten.
Als ich einen Blick auf den Gefangenen warf, den die Gardisten gerade an schweren Ketten aus dem Dunkel des Verlieses zerrten, spürte ich erneut Wut in mir aufsteigen. Nur seinetwegen war ich so gereizt, dass ich selbst meine engsten Vertrauten angiftete wie ein altes Weib.
Nathraen sah schlimm aus: Im Sonnenlicht war seine Haut aschgrau, und die unzähligen Narben und gerade erst verheilten Wunden traten hervor wie das Relief in einem Tempel. Man konnte an seinem Gesicht ablesen, dass er die Sonne nicht vertrug; ob generell, oder weil er tagelang im Kerker gesessen hatte, war nicht ersichtlich. Er versuchte, seine Augen mit den Händen abzuschirmen, doch die Wachen ließen nicht zu, dass er seine Arme hob, und zwangen sie auf seinen Rücken.
»Verbindet ihm die Augen«, rief ich, hoch zu Ross, dem Anführer der Gardisten zu, der für seinen sicheren Transport verantwortlich war. Ich erinnerte mich nur zu gut an die Worte meiner Lehrmeister. Sie hatten immer wieder betont, wie einfach es sei, die Dunkelelfen bei Tag zu vertreiben. Ihre Augen seien nicht an das Licht der Sonne gewöhnt, weil ihre Städte unter der Erde lagen.
»Darf ich fragen, wieso?«, war die Antwort des Gardisten, was mich sofort zornig werden ließ.
Ich ritt auf ihn zu, Derovyel scharrte mit den Hufen und war kurz davor zu steigen. Er spiegelte meinen Gemütszustand. Ich musste ihn zügeln.
»Was sagtet ihr?«
»Verzeiht, Prinz Telrys, aber weshalb sollte man ihm sein Los erleichtern für das, was er Celophil und den anderen Gardisten angetan hat?«
Ich musste mich beherrschen, ihn nicht ebenso anzugehen wie Hauptmann Josvel. Ich löste das Band, das meine Haare zusammenhielt, und warf es ihm zu.
»Tu, was ich dir gesagt habe.«
Die anderen Gardisten tuschelten, raunten ein paar Worte und sahen zwischen Nathraen, dem Anführer der Gardisten und mir hin und her.
»Du willst nicht gehorchen? «
Verunsichert tauschten sie weiterhin Blicke aus, bis schließlich der Kerkermeister nach vorne trat. Von seinem Gesicht konnte ich ablesen, dass er sich nicht ohne Erklärung abspeisen lassen würde.
»Soll ich ihm noch ein Kissen unter den Arsch legen, damit er sich nicht wund sitzt, Herr?«, rief er und sah mich dabei herausfordernd an.
Ich zog mein Schwert und zeigte damit auf ihn.
»Verbindet ihm die Augen. Das ist ein Befehl!«
»Wenn ihr darauf besteht, macht es doch selbst.« Es war unfassbar, wie störrisch dieser Kerl war. Er gehörte zu jenen Waldelfen, die vom Verhalten eher zu dem passte, was ich von den Dunkelelfen wusste: Er war grob und brutal, liebte es zu foltern, und tat nie, was man ihm sagte. Da er die meiste Zeit des Tages im Kerker verbrachte, sah man ihn kaum. Die ewige Dunkelheit hatte offensichtlich ihren Tribut gefordert. Wenn ich sein Gesicht täglich hätte sehen müssen, hätte ich längst dafür gesorgt, dass man ihn in eine andere Stadt versetzte. Da sich auch keiner der anderen anschickte, meinen Befehl auszuführen, stieg ich vom Pferd. Dabei knickte ich auf einem Bein ein, weil ich das Gewicht der Rüstung nicht richtig eingeschätzt hatte. Mein geplant würdevoller Auftritt war dahin.
»Gebt mir das Band«, rief ich und streckte die Hand aus. Der Gardist hob es auf. Als er es mir reichte, riss ich es ihm weg und lief damit zu Nathraen, der den Kopf zu Boden gerichtet hielt. Ich schälte mich aus meinen Handschuhen und warf sie einem Gardisten hin, bevor ich Nathraens Kopf am Kinn anhob und das Band so faltete, dass es eine gute Augenbinde abgab. Nathraen sah mich aus zusammengekniffenen Augen und mit beherrschten Mundwinkeln an. Ich legte rasch das Band um seine Augen und verknotete es an seinem Hinterkopf.
»Kümmert ihr euch immer so rührend um eure Gefangenen?«, säuselte er in einem Tonfall, dass sich alles in mir zusammenzog.
Als Antwort schlug ich ihm so kräftig ins Gesicht, dass er Blut spuckte.
»So kümmere ich mich um meine Gefangenen.«
Der Applaus aller Umstehenden war mir sicher, als ich mich hoch erhobenen Hauptes auf mein Pferd setzte und unter den bewundernden Blicken der Wachen aus der Stadt ritt. Ich wusste, dass ich meine Ehre wiederhergestellt hatte.
Kurze Zeit später begann die Reise zum Götterhain. In einem langen Zug marschierten wir im Schritttempo durch den Wald. Wir nahmen die Hauptwege und verursachten so viel Lärm wie eine Horde Menschenbauern. Gut achtzig Krieger führten wir mit uns, die an der Front, den Flanken und am Ende trabten. Allein zwanzig von ihnen waren für den Gefangenen verantwortlich, der von schwer bewaffneten Gardisten umgeben war. Nathraen trug enge Fußfesseln, die ihm nur kleine Schritte ermöglichten. Ich bemerkte, wie mühselig es für ihn war, noch dazu mit verbundenen Augen. Dennoch bereute ich meine Entscheidung nicht. Ich wollte nicht, dass er sich einprägen konnte, wo unsere Stadt lag. Auch wenn ich wusste, dass er bald tot sein würde, hatte ich das Gefühl, mein Volk vor ihm schützen zu müssen. Ich hatte schon bei mir selbst versagt und ihn viel zu nahe an mich herangelassen. Durch meinen Leichtsinn war er schließlich beinahe geflohen.
Der Zug wurde von Hauptmann Josvel angeführt. In der Mitte reisten mein Vater und die Kutschen der Frauen, im hintersten Drittel folgten die Proviantwagen und der Gefangene. Ich unterhielt mich mit meinen Schwestern durch die Vorhänge der Faral'dan und kontrollierte in regelmäßigen Abständen, ob der Schlächter noch da war. Wann immer ich bei ihm auftauchte, fand ich stets das gleiche Bild vor: Nathraen war umringt von einem Dutzend Gardisten, die ihre Speere zur Hand hatten, bereit, ihn beim kleinsten Fluchtversuch aufzuspießen. Die Ketten um seine Hand- und Fußgelenke wogen schwer, und doch lief er tapfer weiter, stolperte, fiel hin und stand wieder auf, ohne einen Laut von sich zu geben. Manches Mal, wenn ich an ihm vorüberritt, drehte er den Kopf in meine Richtung. Ganz so, als wüsste er, dass ich es war, obwohl ich nichts gesagt hatte. Entweder waren seine Ohren so gut, dass er das Hufgetrappel meines Pferdes erkannte, oder er konnte auf irgendeine Art durch den Stoff sehen. Immer wenn ich glaubte, er schaue mich direkt an, gab ich Derovyel die Sporen und suchte mir einen anderen Platz, an dem ich in Ruhe nebenher reiten konnte, ohne mich beobachtet zu fühlen.
Der Ritt durch Calindils Wälder dauerte den ganzen Tag. Gegen Abend erreichten wir den Flusslauf, der unsere westliche Grenze darstellte. Auf einer Lichtung, in der Nähe der Brücke von Dovye, machten wir Rast und schlugen unser Lager für die Nacht auf. Als ich sah, wie drei Gardisten ein großes Feuer schürten, schämte ich mich dafür, ein Waldelf aus Selvaras zu sein. Unsere Verwandten aus Lorthiras würden uns sofort von den Gästelisten ihrer nächsten Feierlichkeiten streichen, wenn sie wüssten, dass wir uns der Wälder bedienten, um uns zu wärmen.
Das Lager war ebenso dreigeteilt wie unsere Hauptstadt. Man konnte anhand der Zelte deutlich erkennen, wo die Herrschaft, wo die Arbeiter und wo die Diener untergebracht waren. Von prunkvollen Zeltbauten bis zu einfachen Decken war alles vertreten. Als die Sonne untergegangen war und die Kälte der Nacht sich herabsenkte, kam das Lager langsam zur Ruhe.
Der lange Ritt hatte mich müde und hungrig gemacht. Das Abendessen war weniger reichlich, als ich es gewohnt war, aber ich war froh, überhaupt etwas in den Magen zu bekommen.
Niriel und Venira schwärmten den ganzen Abend über von den bevorstehenden Tagen im Götterhain und den Ritualen, denen sich der Schlächter unterziehen musste. Unweigerlich kreisten meine Gedanken erneut um den Gefangenen. Ich versuchte, mich seinem Gesicht zu entziehen, diesen wilden Augen, dem selbstgefälligen Lächeln, der geraden Nase und dem hervorstehenden Kinn.
Ich versuchte die meiste Zeit, nicht hinzuhören. Erst als Venira das Wort an den König richtete, spitzte ich die Ohren.
»Vater, wirst du dem Dunkelelfen eigentlich einen letzten Wunsch gewähren?«
Ich spuckte augenblicklich ein Stück Braten aus.
»Einen letzten Wunsch?«, fragte mein Vater beiläufig, ohne von seinem Teller aufzusehen.
Josvel glaubte, ich hätte mich an einem heißen Bissen verbrannt, und sorgte dafür, dass man mir kaltes Wasser brachte. Ich bedankte mich mit einem Tätscheln seines Arms, trank das Wasser und richtete meine Ohren auf das Gespräch zwischen Vater und Tochter.
»Vater, ihr wisst doch sicher, dass es Brauch ist, einem Götteropfer einen letzten Wunsch zu gewähren.«
»Ja, Vater, ihr müsst darauf eingehen. Er wird sicher die Nacht mit einer hübschen Elfe verbringen wollen«, mischte sich Niriel ein, die wie immer ein verboten eng anliegendes Gewand mit weit ausgeschnittenem Dekolleté trug, während ihre zierlichere Schwester ein hochgeschlossenes Kleid vorzog.
»Es bringt sicher Unglück, es ihm zu verwehren. Wir bringen ihn unseren Göttern dar, sie sollen nicht glauben, wir würden uns nichts aus ihren Regeln machen.«
Der Einwand war berechtigt. Unsere Götter waren nicht dafür bekannt, besonders fürsorglich und rücksichtsvoll zu sein. Sie hatten unser Volk in den vergangenen Jahrtausenden schon oft bestraft, wenn wir ihrem Willen nicht entsprochen hatten. Den Zorn der Götter auf sich zu ziehen, war keine gute Idee, gerade für Calindils König nicht.
»Also Vater, werdet ihr es tun?«, nervte Venira so lange, bis er seinen Kelch absetzte und sie eines Blickes würdigte.
»Ich denke darüber nach.«
»Vater! Ihr müsst es tun! Der arme Mann sollte sich noch ein letztes Mal vergnügen, bevor er stirbt.« Niriel hatte sich demonstrativ auf den Tisch gelehnt, was meinen Vater dazu brachte, sie anzusehen. Er ließ sich Wein nachschenken und schenkte seiner Jüngsten ein leichtes Lächeln, das er sofort wieder versteckte, als er meinem Blick begegnete.
»Die Entscheidung werde ich nicht jetzt fällen.«
»Bitte, Vater, tut es für mich«, bettelte Niriel. »Ich verspreche, mir danach einen Ehemann zu suchen!«
Das war Musik in den Ohren meines Vaters. Er hob den Kopf und ließ den Blick auf dem Gesicht seiner Lieblingstochter ruhen .
»Einverstanden. Diejenige von euch, auf die seine Wahl fällt, die letzten Stunden mit ihm zu verbringen, wird noch vor der nächsten Sonnenwende verheiratet sein.«
Ich wusste nicht wieso, aber urplötzlich wurde mir speiübel. Ich konnte es nicht ertragen, in die lüsternen Gesichter meiner Schwestern zu sehen und das selbstgefällige Grinsen auf meines Vaters Lippen. Ich verließ das Zelt.
Sobald ich die Nase in die kühle Nachtluft hielt, ging es mir ein wenig besser.
Diese Huren! , beschimpfte ich meine notgeilen Schwestern in Gedanken und entfernte mich vom königlichen Lager.
Allein der Gedanke, dass Nathraen mit einer von ihnen schlafen könnte, versetzte meinem Herz einen Stich.
Hör auf, darüber nachzudenken, was interessiert es dich, was sie machen? , versuchte ich mich auf dem Weg in den Wald zu beruhigen. Dieser Schlächter war wie ein Blutegel. Er hatte sich in meinem Kopf festgesaugt und verdarb meine Gedanken Stunde um Stunde. Aus meinem Vorhaben, nicht mehr an ihn zu denken, war nichts geworden. Noch immer war ich ständig bei ihm, ob beim Reiten, beim Essen oder beim Pinkeln. Ich konnte sein freches Grinsen vor mir sehen, diese stechenden Augen, den wilden, gierigen Blick – und erst seine Stimme! Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter, als ich an das Gefühl seiner Hände auf meinem Oberschenkel dachte.
»Oh nein, nicht schon wieder.« Ich bemerkte, wie sich etwas in meiner Hose regte. Wie konnte das sein? Ich hatte mir doch erst vor ein paar Tagen Abhilfe verschafft.
Meine letzte Vereinigung mit einer von Mutters Hofdamen war schon mehr als vier Mondwenden her. Doch auch bei ihr und anderen Frauen zuvor hatte ich nie ein solch großes Verlangen verspürt. Für die meisten Elfen gehörte das Liebesspiel zu den notwendigen Pflichten einer Ehe, und die allerwenigsten zelebrierten es auf die Art, wie Niriel es tat. Für mich war es stets ein netter Zeitvertreib gewesen, eine Zerstreuung, wenn ich wütend auf meinen Vater war, doch nicht viel mehr.
Mich beschlich immer mehr das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmte.
Es war für viele Elfenvölker nicht ungewöhnlich, dass es gleichgeschlechtliche Liebe gab, doch von der herrschenden Familie erwartete man seit jeher, dass sie heirateten und Kinder zeugten, um den Fortbestand der Linie zu sichern. Bisher hatte ich mich für Männer nie besonders interessiert. Sie waren mir gleichgültig gewesen. Weshalb also spielte mein Körper auf einmal verrückt, nur weil ich an den Dunkelelfen dachte? Wieso gerade jetzt?
Ich hatte mich bereits so weit vom Lager entfernt, dass es um mich herum still wurde. Ich hörte weder die Stimmen der Wachen, die sich unterhielten, noch das leise Knistern des Feuers; nur das sanfte Rauschen des Windes, der durch die Baumkronen wehte und mit meinen Haaren spielte. Bald hingen sie so wirr vor meinem Gesicht, dass ich Mühe hatte, sie zu bändigen. Das erinnerte mich daran, weshalb ich kein Haarband trug.
»Der Schlächter!« Ich schlug mit der Faust gegen einen nahen Baumstamm. Der Schmerz zuckte in Wellen durch meine Finger und zog sich hinauf bis zur Schulter. All das wäre mir erspart geblieben, wenn ich ihm schon damals in den Nebeln das Leben genommen hätte, anstatt ihn mit nach Selvaras zu nehmen .
Es ist bald vorbei, ich muss nur noch bis morgen durchhalten , versuchte ich mir Mut zu machen, während ich den Rückweg zum Lager antrat. Ich brauchte Wein und die Gesellschaft einer Frau, um mich abzulenken.
Absatztrenner
Als ich zurückkehrte, herrschte im Lager fast die gleiche Stille wie im umliegenden Wald. Lediglich am Feuer hockten noch ein paar Gestalten und unterhielten sich flüsternd. Der Rest war in Zelten verschwunden oder lag eingerollt in eine Decke am Boden und schlief. Da sich mein Zelt am anderen Ende des Lagers befand, musste ich es durchqueren. Dabei traf ich nur zwei wache Gardisten auf Patrouille an; der Rest schnarchte, an Bäume gelehnt, leise vor sich hin. Als ich über einen Schlafenden hinwegstieg, blieb mein Blick an einer Gestalt haften, die ungelenk an einem Baum hing, die Arme seltsam abgespreizt.
Ich versuchte nicht einmal, mich gegen den Impuls, dorthin zu gehen, zu wehren. Ich wusste, dass ich ihn sehen musste, sonst würde ich die ganze Nacht kein Auge zutun können. Als Anführer von Calindils Truppen war es meine Pflicht, Gefangene zu überwachen. Daran war nichts Ungewöhnliches …
Nathraen hockte halb kniend in seinen Ketten, den Kopf auf die Brust gesenkt. Er schien zu schlafen. So leise ich konnte, näherte ich mich ihm. Dabei behielt ich die Wachen im Auge, die ein paar Schritte entfernt aneinandergelehnt eingenickt waren.
Das Mondlicht schien durch die Baumkronen wie in das Innere eines löchrigen Zelts und warf Lichtflecken auf Nathraens Körper. Einer davon ruhte auf seiner rechten Wange, die durch ein Veilchen entstellt war. Ich wusste zwar, dass ich hart zugeschlagen hatte – immerhin wollte ich vor meinen Männern eine gute Figur machen –, dennoch empfand ich meine Tat als ungerechtfertigt.
»Er hat es verdient«, murmelte ich, um mich selbst zu überzeugen.
Er schien das gehört zu haben, denn er hob langsam den Kopf.
»Was für ein seltener Besuch«, murmelte er mit kratziger Stimme. Ohne zu antworten, besah ich ihn mir genauer. Ich kontrollierte die Fesseln, sah mir die Befestigung am Baum an und prüfte, ob er keine Möglichkeit hatte zu fliehen. Dabei folgte er meinen Bewegungen aufmerksam mit dem Kopf.
»Wie macht ihr das? Ihr könnt mich unmöglich sehen«, fragte ich, da ich das Gefühl nicht loswurde, dass er sich eines Tricks bediente.
»Ich sehe euch – auch ohne meine Augen zu benutzen.«
»Womit … dann?«
»Ich nutze andere Sinne, um euch wahrzunehmen. Durch meine Dunkelsicht kann ich eure Aura wahrnehmen.«
Ich musste schlucken. Meine Befürchtung bestätigte sich: Die Dunkelelfen hatten Fähigkeiten, von denen wir Waldelfen nichts ahnten. Wenn sie in der Lage waren, Wesen auf anderen Ebenen wahrzunehmen – was würden sie noch alles können, wovon meine Lehrmeister nichts wussten?
»Wie … sieht so eine … Aura aus?«
»Eure strahlt so hell wie das Mondlicht, rein und weiß.«
»Und … die der Wachen?«
»Welche meint ihr? Die Drei dort, zehn Schritte links von mir, oder die Zwei rechts von mir oder gar die Fünf direkt hinter dem Baum?«
»W-Woher wisst ihr, wo …«
»Sie strahlen nicht mal halb so hell wie ihr, ihre Auren schimmern in allen Grüntönen, die es gibt.«
»Das ist … nicht möglich«, rief ich aus.
»Was glaubt ihr denn, wie wir uns in den dunkelsten Höhlen zurechtfinden?« Er bewegte seine Arme, um kurz seine Handgelenke kreisen zu lassen.
»… Feuer?«
Nathraen schnaubte verächtlich.
»Ihr wisst nicht viel über Dunkelelfen. Jeder, der sich auch nur ein wenig mit meinem Volk auseinandergesetzt hat, weiß, dass es in den Tunneln zwischen den Städten unzählige hochgiftige Pilzvorkommen gibt, deren Dämpfe die Gänge verpesten. Sie sind noch dazu hoch explosiv. Nur ein Narr würde sich mit einer Fackel in einen solchen Tunnel begeben.«
Er hatte recht: In den Lehrstunden über andere Elfenarten hatte ich meist gefehlt oder mich mit anderen Sachen beschäftigt. Ich war nie davon ausgegangen, dass ich dieses Wissen jemals brauchen könnte. Ich kam mir ein wenig dumm vor, mich so von ihm belehren lassen zu müssen.
»Also könnt ihr mich sehen, ohne mich zu sehen?«
Nathraen lachte leise auf.
»Sagt mir, was ich tue.« Ich hob meinen rechten Arm.
»Ihr winkt.«
»Und jetzt?« Diesmal hob ich den linken Arm und streckte ihn senkrecht in die Höhe .
»So werdet ihr an die Früchte des Baumes nicht herankommen«, war sein Kommentar, der mich staunen ließ. Er konnte tatsächlich sehen was ich tat, selbst mit verbundenen Augen.
Ich probierte noch ein paar weitere Gesten aus und wartete auf seine Reaktion. Ihn schien das schnell zu langweilen, denn er beantwortete die weiteren Versuche kurz und knapp, teilweise sarkastisch.
»Warum seid ihr hergekommen?«, fragte er, als ich meine Arme hinter meinem Rücken verschränkt hielt.
»Ich …« Mir fiel keine Antwort ein.
»Ihr wollt mehr von mir, als ich euch im Moment zu geben in der Lage bin«, sagte Nathraen nach einer längeren Pause.
»W-Wie meint ihr das?«
»Glaubt ihr etwa, ich weiß nicht, was ihr denkt? Wonach ihr euch sehnt? Weshalb ihr gekommen seid?«
Grob riss ich ihm das Band vom Kopf und trat rasch drei Schritte zurück. »Ich bin nur deswegen gekommen«, behauptete ich.
»Ich freue mich, euch zu sehen, Telrys«, sagte Nathraen, kaum dass er die Augen geöffnet hatte.
»Prinz Telrys«, berichtigte ich und band mir flüchtig die Haare zu einem Zopf.
»Nicht. Das offene Haar steht euch«, protestierte er und richtete sich auf, die Brust herausgedrückt, und ließ seinen Blick unverhohlen an meinem Körper entlangwandern.
Ich spürte, wie meine Hände schwitzig wurden, und drehte mich rasch weg. Ich hätte ihm doch die Augenbinde lassen sollen.
»Prinz Telrys … «
Selbst die Art, wie er meinen Namen aussprach, brachte mein Blut in Wallung.
»Ich habe k-kein Interesse an euch. Ihr gebt euch umsonst Mühe. Hört auf, mich immer so anzusehen.«
»Wie sehe ich euch denn an?« Nathraen neigte spöttisch grinsend den Kopf.
»Na so eben«, sagte ich, während ich seinem Blick weiterhin auswich.
»Wie wollt ihr, dass ich euch ansehe?«
»Vergesst es. Ich … wollte euch mitteilen, dass man euch einen letzten Wunsch gewähren wird … bevor ihr geopfert werdet.«
Nathraen hob den Kopf und sah mich aus schmalen Augen an.
»Einen Wunsch?«
»Eine Bitte, etwas, … das man euch besorgen kann, … woran ihr Freude habt«, erklärte ich überflüssigerweise.
»Wie etwa eure notgeile Schwester?«
»Ihr! « Ich preschte auf ihn los, packte seinen Hals und drückte zu.
»Redet nie wieder so von meiner Schwester«, knurrte ich, während ich es genoss, meine Finger in seine festen Halsmuskeln zu drücken.
»Soll ich vielleicht eure Mutter nehmen?«, sagte Nathraen und zeigte seine weiße Zahnreihe.
»Ehrloser Bastard einer Hure!«
Ich drückte noch weiter zu, mein Gesicht nur Zentimeter von seinem entfernt. Ich legte all meine Kraft in meine Finger, doch anstatt den Griff um seine Kehle zu verstärken, ließ ich locker und hielt seinen Hals bald ohne jeglichen Druck zwischen meinen Händen.
»Ihr … dürft … nicht …«, hauchte ich und bewegte mich immer weiter auf sein Gesicht zu. Meine Finger glitten an seinem Hals hinab, strichen über seine Brust. Seine Lippen standen leicht offen, und meine öffneten sich wie von selbst.
Kurz vor dem Kuss merkte ich, was ich im Begriff war zu tun. Ruckartig stieß ich ihn von mir, sodass seine Ketten klapperten, und stolperte rückwärts.
»I-Ihr habt mich verhext, Dunkelelf! Ich verbiete euch, mich jemals wieder anzusehen oder anzusprechen! Ihr neigt den Kopf, wenn ihr mich seht, und zeigt Demut. Habt ihr verstanden?!«
»Ist das wirklich euer Wunsch?«, raunte Nathraen, die Lippen zu einem spöttischen Lächeln verzogen.
»Hört auf damit! Ihr … aaah!«
Ich lief davon. Ohne zurückzusehen, hastete ich zu meinem Zelt und versteckte mich bis zum Morgengrauen.