»Telrys …« Ich konnte sie hören; eine angenehme Stimme rief meinen Namen.
»Hörst du mich? Du musst erwachen.«
Erwachen?
Ich wusste nicht einmal, dass ich geschlafen hatte.
»Bitte, gib mir ein Zeichen, dass du mich hörst.«
Ich hob meinen Zeigefinger und sofort griffen weiche Hände nach meinem Arm.
»Du kannst mich hören. Ich bin so froh, mein Sohn.«
Mutter?
Langsam öffnete ich die Augen und sah durch einen undurchsichtigen Schleier, der sich nur langsam lichtete.
»Mutter … bist du es?«
»Ja, ich bin hier.« Ich konnte Königin Valyriel schon viel besser erkennen. Mit ihren dunkelbraunen Haaren, dem schmalen Gesicht, den großen hellen Augen und dem Lächeln, das sie mir seit jeher schenkte, war sie ein freudiger Anblick
.
Sie drückte meine Hand, und erst jetzt, als ich die Umgebung rund um sie herum schemenhaft wahrnahm, bemerkte ich, dass ich in meinem Bett lag.
»Wie lange … habe ich geschlafen?«, rief ich, mit solch trockener Kehle, dass ich nicht mehr als ein Krächzen hervorbrachte.
»Fast drei Tage.« Sie hielt mir sofort einen Krug Wasser hin, den ich dankbar entgegennahm.
»Drei Tage … was ist passiert? Ich … erinnere mich nicht.«
»Streng dich nicht an, ich erzähle dir gerne alles, was du wissen willst, mein Sohn. Du musst dich schonen.«
Durch meine verschleierte Sicht konnte ich die Sorgenfalten rund um ihre Augen erkennen, die mich traurig stimmten.
»Wie habt ihr mich gefunden?«
»Dein Vater hat seit dem Tag der Verhandlungen mit den Dunkelelfen Dutzende Spähtrupps ausgesandt, die den Wald abgesucht haben. Sie haben dich im Südwesten gefunden, nahe der Bucht von Morno. Dort hatten wir dich nicht vermutet, deswegen hat es so lange gedauert …« Sie senkte den Blick und streichelte mir über die Fingerknöchel.
»Ich will ihn sehen – Vater … ich muss mit ihm sprechen.«
»Das kann warten. Du musst erst zu Kräften kommen, mein Sohn. Du wirst ihn noch früh genug sehen.«
»Mutter … ich habe so viele Fragen, die ich loswerden muss.«
»Also gut, aber nur kurz und nur für die wichtigsten Fragen. Ich werde die Diener rufen lassen, damit sie dir beim Ankleiden helfen.
Zur Mittagsstunde empfangen wir Gäste aus Lorthiras. Alathon wird sich sicher über deine Anwesenheit freuen. Danach legst du dich wieder hin.«
»Mutter, geh noch nicht.« Ich hielt ihre Hand fest, als sie im Begriff war aufzustehen. »Wie geht es euch? Ist jemand im Götterhain verletzt worden?«
»Ach mein Junge, du darfst nicht so viel nachdenken.«
»Bitte … ich muss es wissen.«
»Wir sind alle wohlauf, dein Vater, deine Schwestern und ich. Viele der Gardisten haben dafür mit dem Leben bezahlt.«
»Und der Hauptmann?«
»Josvel ist schwer verletzt worden. Er hat sich dem Schlächter gestellt … als dieser deine Schwester töten wollte. Aber es geht ihm schon besser.«
»Niriel?«
»Ja. Sie war vor Angst wie gelähmt. Das dumme Kind ist nachts herumgelaufen.«
»Er … hat versucht, sie zu töten?«
»Das fragst du sie besser selbst, ich war nicht dabei. Dein Vater hat mich und deine älteste Schwester sofort in den Wald geschickt, noch bevor die Schlacht angefangen hatte.«
»Er hat richtig gehandelt«, sagte ich und sah die Schlacht plötzlich direkt vor meinen Augen. Tagelang hatte ich diese Bilder verdrängt, doch nun waren sie so greifbar, dass ich genau das gleiche Gefühl der Furcht verspürte, wie in jener Nacht im Götterhain. Nathraen kam darin vor. Wie der Gott des Unterreichs selbst stand er auf einem Berg von Kristallen, wirbelte die Klingen um sich und schlachtete jeden Angreifer ab, der es wagte, ihn zu attackieren. Er stand bis zu den Knien in Leichen, sein Körper ein Anzug aus Blut. Er war ein Monster
des Krieges; ein Tier, das keine Reue oder Liebe kannte. Das Einzige, wonach es ihn gelüstete, war Blut.
»Lass die Diener kommen, ich werde zum Empfang da sein.«
Es kam in den letzten Jahren häufig vor, dass wir Besuch der Königskinder aus Lorthiras bekamen. Zu jeder Sonnenwende beherbergte Selvaras mindestens einen unserer Verwandten aus dem Süden. Oftmals war es der junge Prinz Lorenar, der an den Feierlichkeiten teilnahm, die mein Vater zweimal jährlich abhielt. Die Lorthiraner, wie wir die Waldelfen aus der Stadt der Lichter insgeheim nannten, waren anders als wir: verschlossener, wunderlicher und gerissener. Sie waren weniger für ihre Kampfkraft als für ihr Geschick bekannt. Während ich und meine Männer vor allem den Schwertkampf und das Reiten erlernten, brachte man den Waldelfen aus Eriadlyn das Klettern und Bogenschießen bei. Kein Wunder also, dass sie kaum Treppen benutzten und ständig die Geländer übersprangen – sie waren es nicht anders gewohnt.
Der Empfang der Gäste fand, wie es bei uns üblich war, im Thronsaal statt. Mein Vater besetzte seinen Stuhl, während wir anderen uns um ihn scharten und auf die Tore glotzten, die sich jeden Moment auftun konnten. Nach dem Angriff im Götterhain war es das erste Mal, dass ich meine Schwestern wiedersah. Sie sahen gut genährt und gesund aus; keine Spur von Wunden oder Narben, die ihre Schönheit verderben konnten. Sie benahmen sich wie immer und stritten darum, wer dem jungen Prinzen als Erste die Aufwartung machen
durfte. Es schien fast so, als wäre nichts geschehen. Selbst mein Vater, der eigentlich vor Wut toben müsste, weil die Dunkelelfen ihn hereingelegt hatten, wirkte eher gleichgültig, wie er in einem alten Buch blätterte, das Kinn auf eine Hand abgestützt.
»Wie könnt ihr nur so tun als wäre nichts geschehen?«, rief ich aus. »Calindil wird von den Dunkelelfen bedroht. Ihr konntet nur mit Glück dem Tod entkommen, und ich bin erst seit Kurzem von meiner Gefangenschaft zurück.«
»Mein Sohn, das ist nicht der rechte Zeitpunkt für derlei Gespräche«, erinnerte mich mein Vater, der es dabei nicht mal für nötig hielt, von seinem Buch aufzusehen.
»Derlei Gespräche? Ich bin da draußen fast gestorben, genau wie viele meiner Männer im Götterhain. Die Dunkelelfen könnten uns jeden Moment angreifen, und du sitzt da wie ein alter, fauliger Stamm und starrst in ein Buch!«
»Telrys!« Niriel wirkte geschockt. »Wie redest du denn mit Vater?«
»Das wundert dich? Warum bist du nicht genau so genervt von seiner Haltung wie ich, Niriel? Hast du schon wieder vergessen, dass du beinahe getötet wurdest?«
Sie antwortete nicht. Ich sah zwischen ihnen hin und her und konnte kaum glauben, was ich sah.
»Ich verstehe euch nicht! Ihr wart doch dabei! Ihr habt miterlebt, wie sie viele unserer Untertanen und Freunde abgeschlachtet haben. Wie könnt ihr da einfach mit ihnen verhandeln?«
»Wir hatten keine Wahl.« Meines Vaters Hände legten sich fest um den Eichenstab mit dem Geweih auf der Spitze – das Zeichen seiner Herrschaft – der normalerweise an seinem Thron lehnte
.
»Sie haben dich gefoltert, was hätten wir denn tun sollen?«, rief Niriel, und ich konnte sehen, wie sie gegen den Drang zu weinen ankämpfte.
»Also interessiert es euch doch.«
»Natürlich!« Mein Vater stieß den Stab auf den Boden.
»Was glaubst du denn?! Sie haben uns zum Narren gehalten. Wir waren gezwungen zu fliehen. Du weißt ganz genau, dass ich das niemals getan hätte, wenn es nicht dem Überleben meines Volkes gedient hätte.« Die Zornesfalten auf meines Vaters Stirn waren so tief, dass sie der Rinde eines Baumes glichen.
»Er hat dich gedemütigt, mein Sohn. Uns alle – jedes Mal wenn er den Mund geöffnet hat. Ich hätte ihm die Kehle durchgeschnitten, als er uns von deiner Folterung erzählt hat, wenn es nicht dein Leben gekostet hätte.« Er sah unauffällig zu der Haarlocke hinüber, die um seinen Stab gewickelt war. Ich erkannte sie, es war meine.
»Du sprichst von …«
»Nathraen, dem Schlächter! Der grausamste seiner Art. Er hat uns mit Angst regiert.«
»Regiert?«
»Er hatte dich in seiner Gewalt. Meinen Sohn, meinen einzigen Erben. Mehr als einmal hat er gedroht dich zu töten. Es hat ihm Freude bereitet, uns bis ins letzte Detail zu erklären, welch grausame, perverse Spielchen er mit dir vorhatte, und jedes Mal habe ich ihn angefleht, nicht weiterzusprechen.«
»… perverse … Spielchen?«
Als wäre es Niriels Stichwort gewesen, mischte sie sich in das Gespräch ein, um schmutzige Einzelheiten preiszugeben
.
»Er hat erwähnt, dass er dich bestiegen hat, wie ein Hengst seine Stute. Es soll dir gefallen haben.«
Ich musste schwer schlucken, als mir bewusst wurde, in welche Richtung dieses Gespräch abzudriften drohte.
»Blödsinn!«, rief ich, noch bevor Niriel die Röte auf meinen Wangen bemerken konnte.
»Mehr als einmal, so erzählt man sich. Tut mir leid, Bruderherz, aber er klang sehr überzeugend. Auch alle deine Männer glauben das.«
»Ich bin ein Prinz Calindils, … ich würde niemals mit … einem anderen … Mann … Das ist unnatürlich.«
»Nun eigentlich nicht …«
»Niriel, halt den Mund!«, fuhr König Alathon sie an.
»Ja, Vater.« Sie senkte den Kopf, offensichtlich traurig darüber, dass sie es nicht geschafft hatte, mich bis an meine Grenzen zu reizen.
»Es ist egal, was er erzählt hat. Sie hatten dich in ihrer Gewalt, mein Sohn, und die einzige Möglichkeit, dich zurückzuholen, war, auf ihre Forderungen einzugehen.«
»Bitte sag mir, dass sie nicht zu viel verlangt haben …« Ich malte mir gedanklich schon die schrecklichsten Szenarien aus.
»Das Schlimmste.« Mein Vater musste kurz die Augen schließen, bevor er weitersprechen konnte. »Wir sind nun ihre Verbündeten.«
»Nein! Nein, nein, nein! Wie konntest du das tun?!«
»Telrys, dein Vater hatte keine Wahl«, mischte sich meine Mutter ein, doch Vater gebot ihr zu schweigen
.
»Wir mussten akzeptieren. Nur so haben wir dich lebend zurückbekommen. Du bist am Leben und zurück in Selvaras. Und so dankst du es mir?«
»Ich wäre fast gestorben in unseren Wäldern, weil du nicht bis zu Ende verhandelt hast, Vater. Diese Dunkelelfen haben sich einen Spaß daraus gemacht, mich zu quälen. Sie sind Spieler, alle miteinander, und man darf ihren Worten niemals trauen!« Erst, als ich die Worte bereits ausgesprochen hatte, war mir klar, wie vehement ich mich gegen Nathraen und sein Volk stellte. Ohne mir dessen bewusst zu werden, hatte ich meine Entscheidung getroffen, den Worten meiner Familie Glauben zu schenken. Obwohl ich mir geschworen hatte, das, was Nathraen und ich geteilt hatten, in Ehren zu halten, fiel es mir schwer, nicht zurück ins Unterreich zu reisen und ihn für seine falschen Worte an den Haaren von einer Klippe zu hängen.
»Sie waren klug genug, dich als Geisel zu nehmen, und nicht eine deiner Schwestern.«
»Was ist daran klug gewesen? Ich bin ein ebenso erprobter Kämpfer, wie dieser Schlächter. Sie hatten Glück, mich ohne Waffen in dem Zelt vorzufinden.«
»Was ist da eigentlich genau gelaufen, Bruderherz?«, mischte sich Niriel wieder ein, die keck den Hals reckte, um mich schräg über Vater hinweg ansehen zu können.
»Was? Warum interessiert dich das?«
»Der hübsche Dunkelelf war doch mit dir in diesem Zelt oder nicht?«
»Ja … und?«
»Hat er etwa nicht Hand an meinen Lieblingsbruder gelegt?
«
»Wie kommst du denn auf die Idee!?« Meine Stimme überschlug sich fast.
»Er hat gesagt, dass er dich bestiegen hat. Er scheint Gefallen an Männern zu finden. Immerhin hat er mich verschmäht.«
»Nicht jeder Mann will sich mit dir vergnügen, schon mal daran gedacht?«
»Ich glaube doch.«
»Nein, sicher nicht.«
»Genug jetzt!« Vater brachte uns zum Schweigen. »Es ist egal, was passiert ist. Was zählt, ist die Zukunft. Wir werden diese Zwangsallianz mit Würde tragen, und zwar so lange, bis wir genug Verbündete um uns geschart haben, um sie zu vertreiben oder wir die Chance haben, ihren Anführer zu töten.«
»Nathraen …?«
»Den Schlächter, ganz genau.« Mein Vater warf mir einen stolzen Blick zu. »Ich habe ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Jeder Bewohner Calindils kennt seinen Namen und sein Aussehen. Derjenige, der mir seinen Kopf bringt, wird in den Adelsstand erhoben.«
»Aber Vater, das geht nicht, unsere Gesetze besagen …«
»Ich entscheide, welche Gesetze wann zum Tragen kommen, und jeder, der diesem Monster Einhalt gebietet, verdient es, für immer geehrt zu werden. Die Dunkelelfen sind ein Haufen wilder Kreaturen, die nur durch ihn solch eine Stärke erreichen konnten. Er ist die Kraft, die sie antreibt. Wenn er fällt, zerbricht das Heer, damit auch die Allianz, und das Land wird wieder uns gehören.«
»Ich hoffe, wir können ihn stoppen.
«
Es war sinnlos, sich noch etwas vorzumachen. Er hatte es ein weiteres Mal geschafft, mich zu täuschen. Nathraen war der Anführer der Spieler, und ich war sein Spielzeug gewesen. Ich hatte es gemocht, wie er lächelte, wie er mich angesehen hatte, seine Berührungen, seinen Duft. Ich war ihm verfallen gewesen – und das, obwohl ich wusste, in welches perfide Spiel er mich verwickelt hatte. So vieles von dem, was wir gemeinsam erlebt hatten, war wie ein wunderschöner Traum gewesen. Es war bizarr, wie oft Blut und Tod dabei eine Rolle spielten. Wir hatten Spaß gehabt, er hatte mir von seiner Vergangenheit berichtet und mich herumgeführt. Der Flug auf dem Drachen, das Essen in seinem alten Haus – all das war Teil des Spiels, oder hatte ich es nur geträumt und war die ganze Zeit im Kerker gewesen?
»Telrys, du solltest zurück auf dein Zimmer gehen, du wirkst geschwächt«, bemerkte mein Vater, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
»Ich bin geheilt. Ich kann es nur immer noch nicht fassen, dass wir und die Dunkelelfen nun … Verbündete sind.«
»Du weißt sicher, was das bedeutet.«
»Nun … nicht so ganz«, gab ich zu und kam mir dabei wie ein unwissendes Kind vor.
»Sie werden mit ihrem Heer durch unser Land reisen. Sie werden vor unseren Toren kampieren, sich von uns mit Proviant eindecken lassen und mit Decken für die Nacht. Sie werden Selvaras mit Blut beflecken, sobald sie für ihren Feldzug bereit sind.«
»Sie können uns nicht finden, Vater, niemand außer uns weiß, wo die Stadt liegt.«
»Einer von ihnen weiß es.« Alathon drehte bedächtig den Kopf in meine Richtung. Ich konnte den Vorwurf in seinen
Augen sehen und fühlte mich gleich darauf furchtbar schuldig.
»Vergebt mir, Vater …«
»Darüber reden wir ein anderes Mal. Zuerst werden wir unsere Gäste begrüßen.«
Ich hatte während unseres Gesprächs gar nicht mitbekommen, dass die Tore sich geöffnet hatten und ein Trupp Waldelfen eingetreten war. Die Verwandten aus Lorthiras waren zahlreicher als beim letzten Mal, und unter ihnen bemerkte ich neben dem Prinzen und seinem Gefolge auch einige neue Gesichter.
»Willkommen in Selvaras.« Mein Vater erhob sich von seinem Thron, schritt die Stufen hinab und schloss den jungen Prinzen in seine Arme. Sie wechselten ein paar Worte über die Reise, doch ich war gedanklich längst nicht mehr anwesend.
Auch während des anschließenden Willkommensessens versuchte ich noch immer die Informationen in eine Ordnung zu bringen, die es mir erlauben würde zu verstehen, was real und was erträumt war. Vor allem anderen versuchte ich, Nathraen zu verstehen, der in meiner Wahrnehmung ein ganz anderer war, als er von den meisten wahrgenommen wurde.
War er wirklich der ruchlose Schlächter, den alle fürchteten und der nur Blut und Tod hinterließ? Oder war er der Mann, der heimlich jedes Möbelstück sammelte, das sein Vater je hergestellt hatte, bevor er und der Rest seiner Familie ihn aus unerfindlichen Gründen verlassen hatten? Wer war er? Und was war in den drei Tagen im Unterreich wirklich geschehen
?
»… und das, liebe Prinzessin, ist er, euer zukünftiger Ehegatte.«
Ich verschluckte mich beinahe an meinem Wein, als ich das Wort Ehegatte
aufschnappte. Erschrocken sah ich in die Runde und musste feststellen, dass alle Augenpaare auf mich gerichtet waren. Alle, außer jenes der jungen blonden Waldelfe, die verlegen auf ihren Teller starrte und die Hände im Schoß faltete.
»Habe ich … das gerade richtig verstanden?« Ich richtete diese Frage vor allem an meinen Vater, der ein zufriedenes Gesicht machte.
»Das Volk braucht eine Aufmunterung, mein Sohn, und da du sicher nicht dein Wort brechen möchtest, habe ich dabei geholfen, in der Zeit deiner Abwesenheit nach einer passenden Braut zu suchen.«
»Du hast … was?«
»Bruderherz, du wirst Vaters Abmachung im Zelt beim Götterhain doch nicht etwa vergessen haben? Das Königskind, das mit dem Schlächter in seinem Zelt verschwindet, muss bald darauf heiraten«, erinnerte mich Niriel. »Und ich bin es nicht, wie du weißt.«
»Ja … sicher, wie könnte ich mich nicht daran erinnern.«
Ich nahm einen kräftigen Schluck aus meinem Kelch und betete zu all den Göttern, dass sie mich auf der Stelle töten mögen – ob durch Blitzschlag, Erdbeben oder Gift war mir egal, Hauptsache tot.
»Das ist Serena, mein Sohn. Sie ist die Schwester von Prinz Lorenar und gerade alt genug, um zu heiraten.«
»Meine Verehrung«, presste ich unter größter Anspannung hervor, als ich das zerbrechliche junge Ding auf ihrem
Stuhl vor Scham versinken sah. Sie war noch ein Kind, kaum achtzig Jahre alt und so scheu, dass sie mich nicht mal ansehen konnte. Sie hatte ein hübsches Gesicht, helles Haar und Augen in der Farbe der Blätter, doch ihre Ärmchen waren so dünn wie Nathraens Daumen. Sie würde einmal eine wundervolle Königin sein, doch sicher nicht meine.
»Entschuldigt mich.« Ich stand abrupt vom Tisch auf und verließ den Saal.
So sehr mir das Leben der Dunkelelfen im Unterreich gefallen hatte – so neu und aufregend es sich angefühlt hatte, mit Nathraen zusammen zu sein, so sehr wünschte ich mir mein Leben vor meiner Begegnung mit ihm zurück. Selvaras war meine Heimat, dort lebte meine Familie, mein Volk, alle, die ich liebte. Nathraen hatte alles zerstört. Nur seinetwegen waren wir zum Götterhain gereist, und es war zu dieser Abmachung gekommen.
Ich sollte heiraten … noch vor der nächsten Sonnenwende. Das durfte nicht wahr sein! Zu allem Übel war da auch immer noch der Gedanke an Nathraen, der mich beschäftigte.
Verschwinde aus meinem Kopf!
Ich trat die Tür zu meinem Schlafgemach auf und warf mich, ohne an meinen Zustand zu denken, auf das Bett. Sogleich begann mein Rücken zu brennen und zu stechen. Ich riss mir das Hemd vom Leib und stellte mir einen Spiegel zurecht, damit ich einen Blick auf die Wunden erhaschen konnte. Ich musste mich schmerzhaft verdrehen, um überhaupt etwas sehen zu können. Doch als ich den richtigen Winkel im Spiegel traf, wurde mir übel. Die Striemen auf meinem Rücken waren mörderisch. Groß, tief und mit Eiter und Blut verkrustet. Meine Erinnerung daran, dass Nathraen die Wunden mit einer Salbe behandelt hatte, war demnach nicht
echt. Es war nie passiert. Ich musste mir alles nach meiner Folterung eingebildet haben. Eine andere Erklärung gab es nicht.
Mein Atem stockte, ich röchelte nur noch, als ich auf dem Bett zusammenbrach. Mein ganzer Körper schmerzte. Wie tausend Nadelstiche bohrte sich die Wahrheit in mein Innerstes, machte jede Hoffnung zunichte und hinterließ tiefe Wunden in meiner Seele.
Es war ein Traum, Telrys, nichts weiter …