Mittwoch, 15. April
Die Jagdgesellschaft

Am kommenden Morgen machten wir uns auf, um die Mitglieder der Jagdgesellschaft zu befragen. Wir beschlossen, morgens Sir Thomas Winston und Andrew Whitelane, nachmittags dann Dr. August Franklin und Timothy Manrow einen Besuch abzustatten. Da die gesamte Jagdgesellschaft zur Zeit der Entdeckung des Körpers vor Ort gewesen war, stellte sie neben der Leiche unsere wichtigste Informationsquelle dar. Als wir bei Sir Thomas Winston ankamen, wurden wir von seinem Butler in Empfang genommen. Der Morgen war herrlich, eigentlich zu warm für diese Jahreszeit, und die Sonne stand hoch am Himmel. Wir wurden zur Terrasse hinter dem Haus gebracht und dort vom Hausherrn begrüßt. Er war ein ruhiger, kultivierter Herr in den Fünfzigern, schlank, elegant gekleidet und in bester physischer Verfassung.

»Mr. Sherlock Holmes und Dr. Watson. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Darf ich Sie zu einem Kaffee an meinen Tisch bitten?«

Wir folgten seiner Aufforderung und setzten uns zu ihm an den Gartentisch. Holmes schien ausgelassener Stimmung zu sein.

»Sie wissen, warum wir hier sind?«

»Ich denke, dass das leicht zu erraten ist. John Drummond wird Sie beauftragt haben, ihn aus dieser misslichen Lage zu befreien. Haben Sie denn schon etwas herausfinden können?«

»Wir haben einige Hinweise, aber es ist noch zu früh, um von einer Wende zum Positiven sprechen zu können. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Aber bitte.«

»Sir Thomas, am Tag des Leichenfundes, ist Ihnen da im Anschluss an die Jagd vielleicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Verhielt sich einer der Teilnehmer oder Ihr Gastgeber in irgendeiner Weise merkwürdig oder war nervös?«

»Nein, Mr. Holmes. John war guter Dinge, nichts deutete auf irgendwelche Probleme hin. Der Fund der Leiche war für uns völlig überraschend.«

Sir Thomas wies eine Bedienstete an, Holmes und mir den Kaffee zu reichen. Ich fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, wer die Person war, die in Drummonds Garten gefunden wurde. Er verneinte, auch vermisse er niemanden aus seinem Bekanntenkreis. In der unmittelbaren Gegend um Billingshurst sei ihm kein Fall einer verschwundenen Person bekannt. Strutton hatte diesbezüglich Nachforschungen angestellt und war zu dem gleichen Ergebnis gelangt, worüber wir von Luton am heutigen Morgen informiert worden waren. Die Suche würde nun Schritt für Schritt ausgedehnt werden.

»Sir Thomas, könnten Sie sich vorstellen, wer John Drummond in eine solche Situation bringen wollte?«

»Also nein, sicherlich kein Mitglied unserer Jagdgesellschaft. Wir kennen uns schon seit Jahren und haben ein ausgezeichnetes Verhältnis.«

»Haben Sie eine Idee, wie die Hunde aus dem Zwinger entkommen konnten?«

»Ich habe darüber nachgedacht, konnte aber keine einleuchtende Erklärung dafür finden. Sehen Sie, ich war mit dabei, als wir die Tiere wegsperrten und bin mir eigentlich sicher, das Gatter selbst geschlossen zu haben. Offenkundig habe ich mich getäuscht.«

»Gab es möglicherweise einen Zwischenfall, der Sie abgelenkt hat?«

»Einen Zwischenfall? Nicht dass ich wüsste. Das Ganze erscheint mir völlig unverständlich. Wieso begannen die Tiere, als sie beim Rosenbeet auftauchten, zu graben? Ich verstehe es einfach nicht.«

»Es ist in der Tat ausgesprochen ungewöhnlich«, bemerkte Holmes, ohne seine Aussage zu erläutern. Auch Sir Thomas fiel dies auf, was der leicht irritierte Blick signalisierte, den er mir zuwarf. Ich entschied mich dafür, ihn nicht zu erwidern, denn mir war nicht klar, ob das Verhalten meines Gefährten nicht vielleicht doch irgendein Manöver war, um unseren adeligen Gesprächspartner aus der Reserve zu locken. Sir Thomas war findig genug, mein kurzes Zögern sofort zu erkennen und daraufhin das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

Nachdem wir unseren Kaffee getrunken und noch ein wenig geplaudert hatten, verabschiedeten wir uns von Sir Thomas. Wir bestiegen die Kutsche, die uns Drummond bereitgestellt hatte, und fuhren zu dem zweiten Zeugen, den wir an diesem Morgen aufsuchen wollten. Ich zweifelte an Sir Thomas’ Aussage bezüglich des Zwingers. Irgendetwas überzeugte mich nicht, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was es war. Er hatte das Gatter nach eigener Aussage geschlossen, aber kurze Zeit später waren die Hunde frei. Seine lapidare Bemerkung, er habe sich möglicherweise getäuscht, gefiel mir überhaupt nicht. Holmes hatte nicht nachgehakt. Warum? Eine Finte, um Sir Thomas in Sicherheit zu wiegen? Hatte er die Situation etwa bereits durchschaut?

Den zweiten Besuch an diesem Tag statteten wir Andrew Whitelane ab. Als wir auf seinem Besitz eintrafen, mussten wir einige Minuten warten, denn der Hausherr war noch auf der Jagd. Er schien wohl der passionierteste Jäger der fünf zu sein. Sein Haus lag etwa eine halbe Meile von dem der Drummonds entfernt, die beiden Anwesen trennte eine langgezogene, leicht hügelige Wiesenlandschaft. Etwa auf halbem Weg zwischen den Gütern lag ein kleines Waldstück, das so etwas wie eine natürliche Grenze bildete. Als der Hausherr schließlich eintraf, ließ er uns in die Bibliothek führen, wo er uns bat, Platz zu nehmen. Whitelane war Anwalt und im Gegensatz zu Sir Thomas Winston ein massig gebauter Herr mit dröhnender Stimme und einnehmendem, freundlichem Wesen.

»Was kann ich für Sie tun, meine Herren?«

Da Holmes offensichtlich nicht gewillt war, ein paar klärende Worte zu sagen, erläuterte ich unserem Gastgeber, in wessen Auftrag wir die Nachforschungen anstellten und worin unser Anliegen bestand. Whitelane gab sich verständnisvoll und versicherte, alles, was in seiner Macht liege, für Drummond tun zu wollen. Holmes schien sich mehr für die Bücher der Bibliothek zu interessieren als für deren Besitzer. So stellte ich die erste Frage.

»Haben Sie nach Ihrer Rückkehr von der Jagd am Samstag irgendetwas Ungewöhnliches feststellen können?«

»Wissen Sie, im Nachhinein ist es immer einfach, etwas in eine Situation hineinzudeuten, aber ja, eine Sache kam mir eigenartig vor. Als wir die Pferde bei den Stallungen ließen, wurden die Hunde in den Zwinger gesperrt. Ich selbst und Sir Thomas haben uns darum gekümmert. Und glauben Sie mir, die Tiere waren sicher verwahrt, das kann ich beeidigen. Sir Thomas hat den Riegel eingelegt und dann sind wir in Richtung Haupthaus davongegangen. Wie also kommt es, dass die Hunde nur kurze Zeit später auf dem Rasen hinter dem Haus waren?«

»Wo befanden sich die anderen Personen der Jagdgesellschaft?«

»Nun, John war mit dem Burschen weggegangen, um die Pferde in die Stallungen zu bringen. August Franklin und Timothy Manrow standen vielleicht fünfzehn Yards von uns entfernt und unterhielten sich.«

Jetzt meldete sich auch Holmes zu Wort.

»Mr. Whitelane, wie lange dauerte es, bis die Hunde im Garten auftauchten?«

»Nun, bestimmt zehn Minuten.«

»Beobachteten Sie die Tiere?«

»Also, sie fielen uns gleich auf. Wir schenkten ihnen aber erst einmal keine besondere Aufmerksamkeit, bis sie begannen, im Garten herumzuscharren.«

»Hat John Drummond nicht reagiert?«

»Jetzt, wo Sie es sagen, nein. Aber, warten Sie, er war zu diesem Zeitpunkt gerade ins Haus gegangen, denn er hat mir einen Cognac geholt. Ich hatte keine Lust auf Brandy. Sie wissen ja, dass wegen der noch nicht lange zurückliegenden Reblausplage in Frankreich Cognac noch immer ein recht rares Getränk ist. John war so freundlich, mir einen anzubieten, denn er hat einen ausgezeichneten in seiner Bibliothek.«

»Hat er auch einen genommen?«, wollte Holmes wissen.

»Nein, er blieb bei Brandy.«

»Und nachdem die Leiche ans Licht gefördert war, was geschah dann?«

»Nun, erst einmal waren wir alle ziemlich erschüttert und wussten nicht recht weiter. Offen gesprochen, meine Herren, für einen kurzen Moment denkt man daran, das Loch einfach wieder zuzuschütten und die ganze Sache zu vergessen. Das ist natürlich vollkommener Nonsens, aber man spürt, dass nach einem solchen Fund nichts mehr so sein wird wie noch kurz zuvor. Ich habe den Eindruck, dass seit diesem Moment ein dunkler Schatten auf unserer Jagdgesellschaft lastet. Wie nur kommt eine tote Frau in den Garten unseres Freundes? Es ist wirklich unvorstellbar, einfach nicht zu fassen.«

Holmes saß ruhig da, beinahe abwesend, bis er plötzlich aufstand und sich ohne weitere Erklärung von Whitelane verabschiedete. Ich warf dem Hausherrn eine entschuldigende Geste zu und eilte Holmes hinterher. Als wir schließlich wieder in unserer Kutsche saßen, war mein Freund ausgesprochen übellaunig.

»Watson, ich werde das dumpfe Gefühl nicht los, dass hier eine äußerst gerissene Teufelei im Gange ist. Es erinnert mich an diese Geschichte mit dem Baumeister aus Norwood. Wie hieß er gleich noch, ach ja, Jonas Oldacre. Auch in unserem Fall hier ist eine sorgfältig vorbereitete Falle zugeschnappt, und auf den ersten Blick erscheinen die Chancen, John Drummond zu retten nicht viel besser als bei John Hector McFarlane. Mein Lieber, ich glaube, Sie sollten diesen Fall des Baumeisters zu Papier bringen.«

Mir gefiel der Gedanke, dieses Abenteuer festzuhalten. Vielleicht würde ich mich nach unserer Rückkehr in die Baker Street damit beschäftigen. Im Moment war ich jedoch viel mehr an Holmes’ Bemerkung über die Teufelei interessiert.

»Wie darf ich das verstehen, dass eine Teufelei im Gange ist, Holmes?«

»Sie werden feststellen, dass wir vier unterschiedliche Darstellungen erhalten werden, die alle gleichermaßen unverfänglich sind. Niemand hat etwas bemerkt, keiner der Herren will etwas Verdächtiges gesehen haben. Und doch stimmt etwas nicht. Jemand hat diese Hunde ins Rosenbeet gelockt. Aber hören wir uns erst einmal an, was Manrow und Franklin zu berichten haben.«

Wir fuhren zurück nach Billingshurst, wo ein warmes Mahl im Crown’s Inn auf uns wartete. Die Wirtin hatte einen Eintopf vorbereitet, der im Gegensatz zu der gestrigen Mahlzeit eine wahre Wohltat darstellte. Am frühen Nachmittag machten wir bei Dr. Franklin unser Aufwartung. Er war der Arzt von Billingshurst und so lag es nahe, ihn in seiner Praxis zu besuchen. Wir meldeten uns bei einem seiner Mitarbeiter an und wurden in ein Nebenzimmer geleitet. Es dauerte eine Weile, bis August Franklin sich zu uns gesellte. Er war ein Mann Ende 50, groß und hager mit hängenden Schultern, der eine nicht recht zu ihm passen wollende Brille trug. Er begrüßte uns auf eine herzlich bekümmerte Art, als seien wir seine Patienten. Er machte auf mich ganz und gar den Eindruck eines Landarztes bester englischer Tradition.

»Ah, Mr. Holmes und der werte Kollege Watson. Was ist Ihr Problem, womit kann ich Ihnen helfen?«

Mein Gefährte schmunzelte leicht und reagierte mit einem Schulterzucken. Ich ergriff daraufhin das Wort, schilderte ihm die prekäre Situation Drummonds und bat ihn darum, die Ereignisse vom vergangenen Samstag nochmals aus seiner Sicht zu schildern. Franklin hielt zuerst eine kurze Lobrede auf unseren Klienten und begann dann seinen Bericht über die Vorkommnisse. Die Darstellung unterschied sich eigentlich nicht von der Whitelanes und Sir Thomas’, doch wies er darauf hin, dass ein solches Schloss wie am Zwinger mit Leichtigkeit und durch eine einzige Handbewegung geöffnet werden könne.

»Ja, da haben Sie ganz recht. Sie sind ein guter Beobachter, Dr. Franklin«, bemerkte Holmes und fuhr fort: »Angesichts Ihrer Fähigkeit der präzisen Observation möchte ich Sie etwas fragen. Ist Ihnen an der Reaktion der Hunde am besagten Morgen auf der Jagd etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Zu meiner Überraschung kam Franklins Antwort postwendend.

»Ja, Mr. Holmes, ich habe etwas Eigenartiges beobachtet. Die Hunde waren an diesem Morgen unruhiger, sie wirkten beinahe hyperaktiv. Wir machen bei unserer Jagd nach etwa zwei Stunden eine kleine Rast, die zu einem Plausch und einer Erfrischung genutzt wird. Die Tiere bekommen Wasser und ruhen ein paar Minuten. An diesem Samstag aber waren sie ungewöhnlich aktiv und rasteten keine Sekunde. Ich erklärte mir dieses Verhalten damit, dass wir am Morgen ein Wildschwein gejagt hatten und sie im Anschluss daran immer ein wenig bewegungsfreudiger sind. Warum das so ist, weiß ich nicht, aber es war schon mehrere Male der Fall. Also vermutete ich bei ihrem nervösen Gehabe nichts Außergewöhnliches, doch kam es mir noch einmal kurz in den Sinn, als ich die Hunde auf dem Rasen sah. Nachdem wir die Leiche gefunden hatten, muss ich zugeben, habe ich nicht mehr daran gedacht. Aber was kann das bedeuten? Ich sehe beim besten Willen keinen Zusammenhang mit dem Leichenfund. Meinen Sie, die Tiere hatten die Leiche in drei Fuß Tiefe gewittert? Das scheint mir unmöglich.«

»Sie haben uns wirklich sehr geholfen. Falls sich noch Fragen ergeben sollten oder wir Ihre besondere Beobachtungsgabe in Anspruch nehmen müssen, melden wir uns.«

Franklin fühlte sich geschmeichelt und lud uns ein, jederzeit vorbeizukommen, wenn wir es denn für notwendig erachten sollten. Seine Verabschiedung war knapp, aber als er auf dem Weg in den angrenzenden Behandlungsraum war, stockte er und kam nochmals zu uns zurück.

»Entschuldigen Sie, dass ich erst jetzt darauf zu sprechen komme, aber hätten Sie nicht Lust, am kommenden Sonntag an meinem Frühjahrsfest teilzunehmen? Beginn ist 7.30 Uhr.«

Holmes war offenkundig interessiert, auch wenn er für meinen Geschmack etwas zu direkt nach den zu erwartenden Gästen fragte. Franklin reagierte aber in keiner Weise unangenehm berührt auf seine forsche Art.

»Also, es kommen ein paar befreundete Kollegen aus den umliegenden Gemeinden, einige Freunde aus Billingshurst sowie die Mitglieder der Jagdgesellschaft samt Damen. John ist es ja derzeit leider nicht möglich teilzunehmen. Ich versuche jedoch, seine Frau Elisabeth dazu zu bewegen, den Abend mit uns zu verbringen. Es würde ihr guttun und vielleicht für ein wenig Ablenkung sorgen.«

»Ich denke, dass wir Ihre Einladung annehmen, oder, Watson, was meinen Sie? Gibt es bei Ihnen vielleicht terminliche Schwierigkeiten?«

»In keiner Weise, Holmes. Herr Kollege, wir werden Ihre Gäste sein.«

»Sehr gut, also dann bis Sonntag.«

Der Arzt verschwand umgehend im Nebenraum, ohne uns zur Tür zu begleiten oder jemanden zu rufen, der dies für ihn erledigte. Es dauerte einen Moment, bis einer seiner Mitarbeiter hereinkam und uns hinausführte. Ich war ein wenig irritiert wegen seiner hölzernen Art.

»Besonders gute Manieren hat dieser Mann nicht gerade, lässt uns einfach im Zimmer stehen«, meinte ich zu Holmes.

»August Franklin ist ein beschäftigter Mann, er arbeitet oft bis in die Nacht. Auf dem Tisch lag sein Terminkalender und rechts vom Schreibtisch konnte man den hohen Stapel Patientenakten sehen. Lassen Sie ihn doch ruhig ein wenig schroff sein. Immerhin konnte er meinen Verdacht bestätigen.«

»Ihren Verdacht?«

»Ja, Watson. Die Sinne der Hunde wurden zuvor mit einem Aufputschmittel, wahrscheinlich mit einem Amphetamin, sensibilisiert. Und darüber hinaus hat man Kreosot verwendet, der Geruch dieses Holzschutzmittels ist ja unverkennbar. Dass die Tiere darauf reagierten, war dann nur noch eine Kleinigkeit. Es bedurfte lediglich einer kurzen Dressur. Wir wissen jetzt, wie der Täter die Hunde dazu brachte, an der richtigen Stelle zu graben.«

»Also ein Amphetamin und Kreosot, Holmes?«

»Ja, da bin ich mir sicher. Eine geringe Menge Kreosot mit Erde vermischt, ist für uns kaum wahrzunehmen, aber ein dressierter Jagdhund kann die Substanz sicherlich aufspüren. Der Geruch ist im Übrigen unverkennbar, man muss nur nahe genug herangehen. Außerdem hat man absichtlich die Nähe der Rosenbüsche gewählt, um feinere menschliche Nasen vom Geruch des Kreosots abzulenken. Rein aus Vorsicht, nehme ich an.«

Als wir wieder in der Kutsche saßen, fuhren wir zum Anwesen von Timothy Manrow. Ich konnte zwar mittlerweile das Vorgehen des Täters erahnen, es war mir aber nach wie vor unklar, wann er die Hunde abgerichtet hatte und auf welche Weise er die Frau hatte verschwinden lassen, ohne dass es zu einer Suchmeldung gekommen war. Mir schien, dass Strutton in diesem Punkt recht behalten und über die Vermisstensuche zum Mörder gelangen würde. Holmes widersprach mir und gab zu bedenken, dass man einen Mord nicht in dieser Weise begehen würde, wenn man über die verschwundene Person die Spur des Mörders aufnehmen könnte.

»Watson, die Tat ist mit außerordentlich viel Geschick vorbereitet worden, der Mörder hat sein Vorgehen exakt geplant. Wir müssen davon ausgehen, dass das Opfer von niemandem vermisst wird. Ein Umzug auf den Kontinent, besser noch nach Südafrika oder Australien, vielleicht aber auch eine Geisteskrankheit: Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, eine Person verschwinden zu lassen. Unserem Inspektor mangelt es etwas an Phantasie. Ich könnte Sie, mein lieber Watson, verschwinden lassen, ohne dass auch nur eine Spur von Ihnen zurückbliebe.«

»Mit einer Tarnkappe vielleicht, Holmes.«

»Warum eigentlich nicht?« Mein Gefährte nickte grinsend. Auf den Täter zu sprechen kommend, räumte er jedoch ein, dass dieser selbst tatsächlich keine Spur hinterlassen hatte, bis auf sein Opfer.

»Und hier ist er nicht auf dem neuesten Stand der Forschung, sonst wäre ihm bewusst gewesen, wie viele Hinweise die Leiche birgt.«

Um den Mörder einkreisen zu können, wollte er aber erst die Befragung aller Personen abschließen. Manrows Hof befand sich nur gut eineinhalb Meilen von Billingshurst entfernt. Die Distanz zu Drummonds und Whitelanes Besitzungen betrug etwa eine halbe Meile. Sie lagen jedoch auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Sein Gut thronte auf einer kleinen Anhöhe, von wo aus man einen ausgezeichneten Blick in alle Richtungen hatte. Wir kamen die Auffahrt hinaufgefahren und trafen dort auf den Hausherrn, der gerade auf dem Weg zum Haus war. Manrow sah kränklich und blass aus, doch schien er von unserem Besuch angenehm überrascht. Sein Alter schätzte ich auf etwa 45 Jahre, womit er wohl der jüngste Vertreter der Jagdgesellschaft war.

»Dr. Watson und Mr. Sherlock Holmes, ich habe Sie bereits erwartet. Wie ich im Crown’s Inn erfahren habe, sind Sie mit der Angelegenheit meines Nachbarn befasst. Gehen wir hinein, bei einem Tee oder einem Brandy lässt es sich erheblich besser reden. Wirklich eine Katastrophe, eine Leiche im Garten. Und dann diese unglückselige Sache mit dem Siegelring. Ich kann nicht glauben, dass John etwas mit dem Mord zu tun hat.«

Ich meldete mich zu Wort.

»Das sieht Inspektor Strutton leider etwas anders. Und zudem soll in der kommenden Woche Richter Jenkins das Verfahren gegen Drummond eröffnen. Die Anklage wird wohl auf Mord lauten. Wie haben Sie diesen Samstagmorgen erlebt?«

Inzwischen waren wir ins Haus getreten und Manrow hatte uns in den Salon gewiesen, wo wir Platz nahmen. Er selbst bot uns den Brandy an.

»Ich lebe so gut wie alleine hier, lediglich eine Köchin und eine Haushälterin sorgen für das Notwendigste. Wissen Sie, ich bin Forscher, Biologe, Spezialgebiet Botanik. Das Haus habe ich von meinen seligen Eltern geerbt. Es ist natürlich ein wenig zu groß für eine einzelne Person, doch ich liebe diese Landschaft und meinen Garten, den ich praktisch zu einem Untersuchungsfeld umgestaltet habe. Derzeit arbeite ich daran, die Mendelschen Gesetze zu korrigieren.«

Holmes sah mich kurz an und unterbrach Manrow. Er schien sichtlich amüsiert von unserem Gastgeber.

»Mr. Manrow, würden Sie uns bitte die Ereignisse des vergangenen Samstags schildern. Und versuchen Sie dabei so genau wie möglich zu sein. Jede Ihnen vielleicht noch so unbedeutend erscheinende Kleinigkeit kann ein entscheidender Hinweis sein.«

Manrow nickte eifrig und begann seine Erzählung damit, wie er um fünf Uhr an jenem Morgen aufgestanden war. Sein Bericht war außerordentlich präzise, ergab aber in keiner Weise etwas Neues. Das Verhalten der Hunde war ihm nicht aufgefallen, stattdessen berichtete er ausführlich von der Jagd und deren Verlauf. Holmes hatte den Kopf nach vorne fallen lassen, saß mit geschlossenen Augen da und hatte dabei die Hände in den Nacken gelegt. Manrow beschrieb gerade die Ereignisse vor dem Zwinger, als mein Gefährte, der schon lange nicht mehr zuzuhören schien, dazwischenfragte.

»Wer hat die Hunde in den Zwinger gesperrt?«

Unser Gastgeber verstummte für einen Moment und war sichtlich irritiert, bis er schließlich die Frage beantwortete.

»Sir Thomas und Andrew, also Andrew Whitelane, waren dabei, die Hunde wegzusperren. Dann kam der Stallbursche hinzu.«

»Ist Ihnen am Verhalten der Hunde irgendetwas aufgefallen?«

Manrow sah uns verblüfft an.

»Sollte mir da etwas aufgefallen sein? Nein, das kann ich nicht behaupten, sie waren besonders gut aufgelegt, aber sonst kann ich dazu eigentlich nichts weiter sagen.«

Holmes ließ ihn seine Darstellung beenden und befragte den Biologen danach über seine Forschungsergebnisse. Ich hatte nicht erwartet, dass er sich für die Vererbungslehre interessierte, aber er unterhielt sich sehr angeregt mit unserem Gastgeber. Das Gespräch streifte nun auch ein von ihm bevorzugtes Thema: Gifte. Erst als es Zeit wurde, zu Abend zu essen, machten wir uns nach Billingshurst auf. Auf dem Rückweg fragte ich ihn, ob er nun seine Leidenschaft für die Botanik entdeckt habe.

»Watson, Sie wissen doch, nur in besonderen Fällen.«

Holmes lobte die Resultate der Forschungen unseres Gastgebers in Bezug auf die Vererbungslehre und deren Fehler.

»Holmes, nehmen Sie mich etwa auf den Arm?«

»Nein, Watson, es war wesentlich für mich zu erfahren, wie kompetent Manrow ist. Es erleichtert die Suche nach dem Täter ungemein.«

Hatte er von ihm Informationen erhalten, die die Ergebnisse bei seiner Autopsie der Leiche unterstützten und gar erweiterten? Als Biologe wusste Manrow sicherlich auch über Leicheninsekten Bescheid. Hoffentlich war Holmes der Lösung des Falles durch diese Unterredung näher gekommen, denn für Drummond wurde die Lage immer kritischer. Bereits in der nächsten Woche würde das Gerichtsverfahren gegen ihn eröffnet werden.

»Watson, wir werden unseren Besuch in Billingshurst erst einmal abbrechen, ich muss einige Untersuchungen in London vornehmen.«

Das Wetter verschlechterte sich zusehends und ein kalter Nieselregen setzte ein. Der Wind wurde stärker und nun folgte ein Wolkenbruch, der uns in dem nach vorne offenen Hansom bis auf die Haut durchnässte. Bei unserer Ankunft in Billingshurst war ich nicht nur durchgefroren und hungrig, sondern hatte auch keinerlei Interesse mehr an diesem Fall, bei dem sich einfach keine Fortschritte absehen ließen. Nach einem kurzen Mahl gingen wir zu Bett.

Als wir am folgenden Tag mit dem Frühzug in London angekommen waren, hatten sich bei mir alle Anzeichen einer Erkältung eingestellt, die mich für die nächsten Tage in der Baker Street festhalten und Holmes nun allein die Spur der Leiche verfolgen lassen sollten.