Den gesamten Morgen verbrachte ich im Bett. Erst gegen Mittag hatte ich genug Energie, um aufzustehen und mich an den Kamin zu setzen. Als Holmes schließlich wieder in die Baker Street kam, war ein Telegramm für ihn eingetroffen. Er las das Schreiben, legte es zur Seite und brummte ärgerlich etwas in sich hinein, sagte mir aber nicht, worum es sich handelte. Nach einer gemeinsamen Mahlzeit zog er sich an seinen Experimentiertisch mit den chemischen Instrumenten zurück. Ich hatte mir die Tageszeitung genommen und saß erneut dick eingewickelt am Kamin.
Nach einer Weile ging ich zu Holmes hinüber, der einige Untersuchungen durchführte. Dabei hatte er in eine Petrischale zwei Insektenlarven gelegt und in einer anderen bearbeitete er mit Lupe und Skalpell etwas, das mir ein totes Kerbtier zu sein schien. In einer dritten Schale befand sich eine mir nicht erschließbare Substanz. Dann brachte Holmes vom Regal mehrere Bücher zum Thema Entomologie sowie ein geologisches Standardwerk über die Bodenbeschaffenheit in Südengland zum Arbeitstisch. Nachdem ich Holmes einige Zeit zugesehen und sich nichts sonderlich Interessantes ereignet hatte, wollte ich mich in mein Zimmer verabschieden. Just in diesem Moment fing er an, über den Stand seiner Ermittlungen zu sprechen: »Selbst in einem Fall wie diesem, der sich durch eine geringe Anzahl von Hinweisen auszeichnet, gibt es unter bestimmten Voraussetzungen eine sichere Methode, sowohl den Ort des Verbrechens als auch den Todeszeitpunkt eines nicht identifizierten Opfers herauszufinden. Zum einen sind der Verwesungszustand und zum anderen diese Larven sowie das tote Kerbtier, die ich aus der Toten extrahiert habe, sehr aufschlussreich. Der Eintritt des Todes sollte bis auf einen oder zwei Tage genau bestimmt werden können. Ebenso wie der Zeitpunkt, an dem die Leiche in Billingshurst vergraben wurde.«
Holmes sah mich an und wartete auf eine Reaktion meinerseits.
»Wie wollen Sie anhand einer halb verwesten Leiche und ein paar Insektenlarven den Todeszeitpunkt so exakt bestimmen? Sie wissen doch noch nicht einmal, wo die Person ermordet wurde. Abgesehen davon ist diese Art der Untersuchung geschmacklos und moralisch betrachtet einfach inakzeptabel. An Parasiten zu arbeiten, die man Toten entnommen hat, geht mir persönlich ein wenig zu weit.«
Ich antwortete ganz nach seiner Erwartung. Auf diese Weise gab ich ihm die Gelegenheit, seine gesammelten forensischen Kenntnisse vor mir auszubreiten. So konnte ich mich trotz seiner in Momenten unerträglich überheblichen Art an seinem außerordentlichen Wissen erfreuen. Zudem blieb mir so eine weitere Diskussion erspart. Holmes wies meine Bemerkung über die Parasiten als unkorrekt zurück und beschränkte sich darauf, seine Sicht der Beziehung zwischen Mord und Moral zu erläutern.
»Sie wissen, dass ich Moral schon immer unter einem eher privaten als staatstheoretischen Gesichtspunkt betrachtet habe. Und Ihre Bemerkung bezüglich der Geschmacklosigkeit kann ich nur als höchst sekundär zurückweisen.«
Ich grinste vor mich hin, auch wenn ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Holmes fuhr mit seinen Ausführungen unverdrossen fort.
»Die Polizei behandelt staatstheoretische oder moralische Fragen nicht immer in meinem Sinne. Da ich kein Beamter dieses Apparates bin, erlaube ich mir deshalb, in bestimmten Fällen meine Schlüsse und Folgerungen für mich zu behalten. Moral ist immer eine relative Größe, abhängig von unterschiedlichen Faktoren wie dem Staatssystem, der Religionsauffassung oder der kulturellen Eigenheit in einer Gesellschaft. Ich setze daher ab und an persönliche Motivationen über staatliche Richtlinien. Ich versuche, in jedem Fall die Wahrheit herauszufinden, doch ob sie dann letztendlich ans Licht kommen muss? In unserem Falle geht es darum, John Drummond vor dem Strick zu bewahren und dazu ist mir jedes Mittel recht. Ganz zu schweigen davon, dass uns Inspektor Strutton beinahe so viele Probleme bereitet wie der Täter. Natürlich ist es auch eine Frage des professionellen Ehrgeizes, der einen antreibt. Sie als Arzt sollten ein etwas anderes Verhältnis zu verwesenden Körpern haben.«
»Holmes, das habe ich auch. Letztlich geht es Ihnen doch aber vor allem um die persönliche Genugtuung, den Fall zu lösen. Das können Sie unmöglich einfach abstreiten.«
»Nicht ganz, Watson, nicht ganz. Übrigens war die kleine schauspielerische Einlage eben recht beachtlich für Ihre Verhältnisse.«
Ich war einfach zu erschöpft, um nun eine Diskussion mit ihm zu führen und legte mich hin. Als ich nach ein paar Stunden erholsamen Schlafes erwachte und in den gemeinsamen Wohnraum trat, war Holmes nicht da, doch hörte ich merkwürdige Summgeräusche, die aus der Richtung des Arbeitstisches herüberklangen. Als ich hinübergehen wollte, fand ich auf dem Beistelltisch am Kamin einen an mich gerichteten Zettel, worauf mich Holmes anwies, die unter einem Brotnetz gefangenen Fliegen nicht anzurühren oder gar zu befreien. Reichlich irritiert bat ich Mrs. Hudson, mir Tee zu bringen und begab mich zu Holmes’ Arbeitsplatz. Unter dem Brotnetz waren zwei Fliegen verschiedener Arten zu sehen, die wohl, während ich geschlafen hatte, aus den Larven geschlüpft waren. Eine schien eine Graue Fleischfliege, eine Sarcophaga carnaria, zu sein, die andere war wohl eine gemeine Schmeißfliege. Weiterhin sah ich verschiedene Typen Erde und Sand in unterschiedlichen Petrischalen auf dem Tisch. Kurze Zeit später brachte Mrs. Hudson mir den Tee, konnte sich aber kaum beruhigen, als sie die Fliegen unter ihrem Brotnetz sah.
»Dr. Watson, sehen Sie sich das an. Mr. Holmes hat mein Brotnetz aus der Küche entwendet, und nicht genug damit, er hat auch noch diese widerlichen Fliegen dort hinein befördert.«
Sie war schon dabei, sich ihr Netz wieder zu sichern, als ich ihr gerade noch zuvorkam und mich schützend davor aufbaute.
»Mrs. Hudson, Sie werden das Netz sicherlich nicht mehr verwenden wollen.«
Sie sah mich mit einer Miene an, die nichts Gutes verhieß.
»Dr. Watson, wir haben schon ganz andere Gegenstände wieder verwendet.«
Als ich ihr jedoch davon berichtete, dass die Larven aus dem Kopf einer Leiche stammten und Holmes ihr bestimmt ein neues Netz kaufen würde, entfernte sie sich unter ärgerlichem Gemurmel und Kopfschütteln, doch schien sie sichtlich erleichtert zu sein, das Zimmer verlassen zu können. Ich ging erneut zum Schreibtisch und mein Blick fiel auf einen Zettel mit Aufzeichnungen, worauf, wie ich vermutete, die Schlupfzeiten der jeweiligen Insekten vermerkt waren. Holmes blieb den ganzen Nachmittag fort. Erst als ich mich schon zur Abendmahlzeit an den Tisch gesetzt hatte und Mrs. Hudson mir das Essen brachte, kam er zur Tür herein.
»Oh, Mrs. Hudson, ich musste mir kurzerhand Ihr Brotnetz ausleihen. Ich war so frei und habe Ihnen ein neues in die Küche gelegt. Hoffentlich entspricht es Ihren Ansprüchen.«
Man sah, dass Holmes gerade noch rechtzeitig einen Sturm der Entrüstung unserer Wirtin hatte abwenden können. Dennoch war ihr Ärger nur teilweise verflogen.
»Sie waren ja nicht da, ich habe nichts für Sie vorbereitet und werde jetzt nicht mehr damit beginnen.«
Damit drehte sie ab und verließ unsere Räumlichkeiten. Holmes wusste mein Erstaunen richtig zu deuten.
»Watson, Sie wissen, dass ich mit den häuslichen Gegebenheiten nur unzulänglich vertraut bin. Es war jedoch klar, dass das entwendete Brotnetz für Mrs. Hudson ebenso schwer wiegen würde wie für Sie der Verlust Ihres Ordens der Northumberland Füsiliere oder für mich der Verlust meiner Geige. Demzufolge musste auf der heutigen Expedition unbedingt der Kauf des besten Brotnetzes der Londoner City auf dem Plan stehen. Soweit kannte ich das Risiko, das meine Tat nach sich ziehen würde.«
Wir teilten uns meine Abendmahlzeit und Holmes begann, von seinen Unternehmungen zu berichten.
»Zunächst wartete ich ab, bis die Fliegen geschlüpft waren. Es hätte durchaus noch einige Zeit dauern können, aber es geschah innerhalb von 90 Minuten und beinahe zeitgleich. Ansonsten wäre mir nichts anderes übrig geblieben, als auf Ihre Mithilfe zu bauen.«
Ich unterbrach ihn, denn es interessierte mich, ob ich eine der Fliegen richtig identifiziert hatte.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich in einem Fall um eine Sarcophaga carnaria handelt?«
»Ja, Watson, eine Graue Fleischfliege. Und das andere Exemplar ist eine Schmeißfliege, genauer gesagt eine Calliphora vomitoria.«
Offensichtlich hatte er aus den Beobachtungen keine weiterführenden Erkenntnisse gewinnen können, denn er nahm seinen von mir zuvor unterbrochenen Bericht wieder auf.
»Anschließend untersuchte ich eine Erdprobe, die ich am Leichenfundort in Billingshurst genommen hatte, und konnte dabei einige bemerkenswerte Beobachtungen machen. Zudem musste ich mir in einem weiteren Punkt Gewissheit verschaffen, und so blieb mir nichts anderes übrig, als einen Abstecher in die Pinchin Lane Nr. 3 zu machen und dort meinen alten Freund Mr. Sherman zu besuchen.«
»Den Tierpräparator?«, warf ich ein.
Holmes bejahte.
»Dann haben Sie Toby abgeholt«, mutmaßte ich.
»Es gibt keinen Hund in ganz London mit einer besseren Nase. Ich musste mir Klarheit verschaffen und kein chemisches Experiment ist so sicher wie die Nase dieses Hundes. Ich ließ Toby an einem in Kreosot getränkten Tuch schnuppern, und tatsächlich fand er dann die aus dem Garten von Drummond stammende Erdprobe innerhalb von ein paar Minuten. Das Experiment führte ich in einem der Rosengärten im Hyde Park durch. Unser Spürhund hatte selbst bei einer Entfernung von 50 Yards keine Schwierigkeiten, die präparierte Erde zu finden. Meine Vermutung stellte sich als richtig heraus, jemand hatte Kreosot verwendet und damit das Erdreich behandelt, in dem die Tote vergraben war. Es steht für mich nun eindeutig fest, dass die Leiche von den Hunden aufgespürt werden sollte.«
Mein berühmter Freund starrte eine ganze Weile in den Kamin, bis er sich schließlich aufsetzte und mir den Blick zuwandte: »Jemand verfolgt einen diabolischen Plan und John Drummond ist sein Opfer.«
»Sie haben also in Billingshurst mit Kreosot präparierte Erde gefunden?«
»Exakt, Watson.«
»Wunderbar, Holmes. Doch hilft uns das weiter?«, warf ich ein.
»Es ist ein wichtiger Hinweis, denn er zeigt uns, dass die Tat in allen Einzelheiten und von langer Hand geplant wurde. Es war kein Zufall bei der Entdeckung der Toten im Spiel. Ich werde Toby noch einmal benötigen, um mit ihm einen Spaziergang in Billingshurst zu unternehmen. Vielleicht führt er uns ja auf die rechte Spur. Nachdem also unser Spürhund meine Vermutung bestätigt hatte, galt es herauszufinden, ob eine der Personen möglicherweise ein Verhältnis hatte oder Probleme gesellschaftlicher Art, über die man in der gehobenen Gesellschaft hinter vorgehaltener Hand sprach. Dazu suchte ich Langdale Pike auf, doch keine der verdächtigen Personen samt Ehefrauen steht in dem Ruf, skandalträchtige Beziehungen zu pflegen. Nicht einmal ein Gerücht ist derzeit in Umlauf. Lediglich Andrew Whitelane soll einmal eine Liaison mit Evelyn Ashcroft, der Tochter von Admiral Ashcroft gehabt haben. Aber sie scheint inzwischen beendet zu sein. Dennoch weist in unserem Fall alles auf eine Affäre hin, und das gänzliche Fehlen eines Indizes zeigt einmal mehr, wie geschickt der Täter vorgegangen ist.«
Holmes ging zum Kamin, nahm seine Meerschaumpfeife vom Sims, stopfte sie und kam noch einmal auf den Klatschreporter zu sprechen.
»Ich habe Pike gebeten, die Augen und Ohren offen zu halten und noch eine weitere Spur zu verfolgen. Mal sehen, ob wir nicht doch dahinter kommen, wer da in fremden Gärten gewildert hat. Pike ist allerdings ein recht träger Geselle, es kann also ein bisschen dauern bei ihm. Aber früher oder später kommt er hinter jedes skandalträchtige Geheimnis.«
Nachdem er die Pfeife angezündet hatte, griff er im Vorbeigehen am Arbeitstisch eine Petrischale und kam wieder zu mir. Er deutete auf ihren Inhalt und fragte mich nach meiner Meinung.
»Das sieht aus wie eine geringe Menge verklebten Sandes, Holmes. Woher haben Sie den denn? Doch nicht etwa aus der Kopfwunde der Toten?«
»Bravo, Watson. Und was folgern Sie daraus?«
»Nun, der Sand weist darauf hin, wo die Tote ermordet wurde. Da sich Billingshurst sowohl in der Nähe des Adur als auch des Arun befindet, schließe ich daraus, dass sich der Mord auf einer der dortigen Sandbänke ereignet hat. Wahrscheinlich eher am Adur, denn die Anwesen unserer Verdächtigen liegen deutlich näher an diesem Fluss.«
»Gut, Watson, aber das ist noch nicht alles. Was können Sie noch herauslesen?«
Ich versuchte, seine Methoden anzuwenden, aber mir kam nichts Neues in den Sinn, weshalb ich mich für eine Gegenfrage entschied.
»Woher stammt denn nun der Sand?«
Holmes schien die Antwort zu kennen und blickte mich unverwandt an.
»Wie ich schon sagte, aus der Kopfwunde. Denken Sie einen Schritt weiter. Was fällt Ihnen noch auf?«
Ich rekapitulierte erneut die Fakten, aber es gelang mir nicht, weiterführende Schlüsse aus ihnen zu ziehen. Also wiederholte ich meine schon einmal geäußerte Folgerung.
»Die Unbekannte wurde in der Nähe des Flusses getötet.«
»Auf den ersten Blick könnte Ihre Folgerung richtig sein, aber Sie übersehen eine wesentliche Möglichkeit. Lassen Sie uns erst einmal das Tagesgeschäft vergessen und bei einem Sherry ein wenig Ruhe finden.«
Dann rief er aus Leibeskräften nach unserer Wirtin.