Am folgenden Morgen kam ich gegen neun Uhr zum Gerichtssaal von Horsham, wo mich Inspektor Strutton bereits an der Tür empfing.
»Sie hier, Doktor? Und was macht Mr. Holmes? Kann er nicht kommen oder hat er sich bereits einem anderen Fall zugewendet?«
Er sprach säuselnd, etwas zu leise, so als drohe er mir lächelnd. Sein Auftreten beeindruckte mich. Strutton erinnerte an die Schlange im Garten Eden, die versuchte, mir den Apfel der Erkenntnis schmackhaft zu machen. Ich antwortete mit fester Stimme, um meine Unsicherheit zu überspielen.
»Mr. Holmes lässt Ihnen ausrichten, dass Sie sich in größte Schwierigkeiten hineinmanövrieren. Ihre gesamte Argumentation geht von zwei grundlegenden Denkfehlern aus.«
»Und welche Denkfehler sollten das sein? Welchen Anhaltspunkt gibt es, der die eindeutige Beweislage umstoßen könnte?«
»Haben Sie überhaupt einmal darüber nachgedacht, dass ...«, begann ich, doch dann bezähmte ich meinen Ärger und wählte eine andere Strategie, um den Inspektor aus der Reserve zu locken.
»Wissen Sie, Strutton, ich kenne Sherlock Holmes schon seit einigen Jahren und rate Ihnen deshalb dringend, seine Hinweise ernst zu nehmen. Überprüfen Sie nochmals die Ergebnisse Ihrer Nachforschungen.«
Ich war mir sicher, dass meine Worte zumindest einen leisen Zweifel in ihm geschürt haben mussten, aber ich hatte mich gründlich getäuscht. Strutton sah mich herausfordernd an.
»Machen Sie sich nicht lächerlich, Doktor. Holmes hat nichts in der Hand, nicht einmal jetzt können Sie ein schlagkräftiges Argument für Drummonds Unschuld vorbringen. Der Größenwahn Ihres Freundes ist fast schon wieder zu bewundern. Was glaubt er denn leisten zu können? Die Fakten sind eindeutig und es wäre besser, wenn auch Sie das Feld räumten. Dieser Fall wird nicht nur Ihren Freund seine Reputation kosten. Sie werden die Ihre ebenso verlieren, und wenn ich selbst dafür sorgen muss. Die Zeitungen werden wie Hyänen über Sie herfallen.«
Ich schaute den Inspektor wohl einige Augenblicke mit halb geöffnetem Mund an, bis ich mich wieder gefasst hatte. Mit dem abschätzigsten Gesichtsausdruck, der mir nur möglich war, verabschiedete ich mich von meinem Gegenüber und ließ ihn im Eingangsbereich des Gerichtsgebäudes stehen. Strutton drohte uns. Mir war nicht unbedingt wohl in meiner Haut, und die Folgen des Presserummels hatte ich ja schon bei unserem Klienten beobachten dürfen. Irgendetwas in mir sträubte sich zwar, diesem ungelenken und arroganten Inspektor Glauben zu schenken; rein sachlich gesehen, konnte ich jedoch nicht umhin, ihm in einigen Punkten zuzustimmen. Holmes hätte mich wohl zurück nach Afghanistan gewünscht und mir jede Fähigkeit analytischen Denkens abgesprochen. Es war lediglich meiner unumstößlichen Hochachtung vor ihm zu verdanken, dass ich den Bankier immer noch für unschuldig hielt. Und sie gab mir in diesem Moment des Zweifels die Kraft, die mich in den Gerichtssaal trieb.
Die Zeitungen hatten nicht übertrieben, es sollte ein Schauprozess werden, um die glänzenden Leistungen der Ermittlungsbehörden zu demonstrieren. Der Richter, ein Edward Jenkins, hatte wohl ebenfalls schon eine klare Auffassung von den Ereignissen. Das hatte sich ja bereits in der zuvor durchgeführten Bestandsaufnahme des Coroners angedeutet. John Drummond saß auf der Anklagebank mit gesenktem Kopf, ohne dass er auch nur einmal aufschaute. Er hatte sich gegenüber dem gestrigen Tag wieder etwas gefangen, machte jedoch noch immer einen traumatisierten Eindruck. Es stellte sich heraus, dass die Staatsanwaltschaft keine weiteren belastenden Tatbestände vorlegte, was ich als Achtungserfolg für uns ansah, auch wenn es mir schwer fiel, überhaupt einen Lichtblick in der sich abzeichnenden Situation zu sehen. Das Klima einer bereits feststehenden und nur noch auszusprechenden Verurteilung war deutlich spürbar. Es schien vollkommen unmöglich, dass ein anderer Richterspruch erfolgen könnte als »Schuldig des Mordes an Miss Helen Stone«.
Ich versuchte, mich auf die Fakten zu konzentrieren, sie zu sammeln und zu notieren. Vielleicht konnte ich darin verborgene Ungereimtheiten entdecken, doch meine Bemühungen waren ergebnislos. Richter Jenkins setzte nach der ersten, zweieinhalbstündigen Anhörung den nächsten Verhandlungstag für den kommenden Freitag an. Nach einem kurzen Gespräch mit Drummonds Anwalt, einem Mr. Blend, verließ ich das Gerichtsgebäude. Ich hatte noch etwas Zeit, bis Holmes aus London zurückkehren würde, und fuhr zurück zur Herberge. Meine Stimmung schwankte zwischen absolutem Vertrauen zu Holmes und seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten und dem ungewissen Gefühl, dass er seinen Klienten im Stich ließ. Drummond war nach der morgendlichen Jagd mit seinen Nachbarn nach Hause gekommen. Die Hunde hatten die Leiche entdeckt, und von diesem Augenblick an war ein Inferno über ihn hereingebrochen, dessen Ende nicht in Sicht war. Seine Frau hatte er so gut wie verloren, sein physischer Zustand konnte kaum schlechter sein. Um sich zu erholen, würde er Monate benötigen. Es war kaum anzunehmen, dass ihn seine Bank noch weiter beschäftigen würde. Selbst wenn Holmes den Fall lösen sollte, hatte John Drummond sein bisheriges Leben bereits eingebüßt. Mir wurde schwer ums Herz. Was war mit Holmes? Warum hatte er die Anschuldigungen gegen Drummond nicht zurückgewiesen und ihm beigestanden?
Ungeduldig und ruhelos entschied ich mich dafür, einen Spaziergang in der wunderschönen Gegend um Billingshurst zu machen. Meine Stimmung verschlechterte sich jedoch derart, dass ich mich eigentlich nur noch zurück in die Baker Street sehnte. Als ich gegen vier Uhr das Gasthaus betrat, winkte mir Holmes bereits vom Tisch aus zu. Aus seinem Gesicht war nicht abzulesen, wie er sich fühlte, doch sah er übermüdet aus. Mehr als ein schwaches Grinsen konnte ich ihm erst einmal nicht entlocken. So saßen wir eine ganze Weile am Tisch und meine Ungeduld wuchs.
»John Drummond wird wohl sein Unglück alleine bewältigen müssen«, ließ er schließlich ohne Vorwarnung verlauten.
»Holmes, wie können Sie so etwas sagen? Geben Sie etwa auf?«
»Wenn Sie mich auf sein Unglück ansprechen, ja.«
»Drummond wird von Jenkins in Stücke gerissen. Wenigstens haben wir drei Tage mehr Zeit, da die Verhandlung erst am Freitag wieder aufgenommen wird. Sie müssen etwas unternehmen.«
»Watson, Sie hören nicht aufmerksam zu. Ich sagte, dass er sein Unglück alleine bewältigen müsse, nicht, dass ich ihn diesen Hyänen überlasse. Bei seiner Frau enden meine Möglichkeiten. Aber vielleicht wollen Sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal auf sie einwirken.«
»Natürlich werde ich es versuchen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie kein Einsehen haben wird.«
»Mrs. Drummond ist eine starke und selbstbewusste Frau, sie schien wohl schon längere Zeit einen Verdacht gegen ihren Mann zu hegen. Es kann nun einmal passieren, dass, wenn eine gefühlte Gewissheit bestätigt wird, es dann keine Rolle mehr spielt, ob sich die angeführten Fakten als falsch herausstellen. Der Bruch mit der Wahrheit ist schon sehr viel früher geschehen.«
Am späten Nachmittag besuchten wir ein weiteres Mal John Drummond im Untersuchungsgefängnis. Er berichtete von Strutton, der mehrfach versucht hatte, ihm ein Geständnis zu entlocken. Für den Inspektor bestand kein Zweifel an der Schuld unseres Mandanten. Die Klärung des Falls war seiner Meinung nach wasserdicht. Es gab zwar keine endgültigen Beweise, die Indizien sprachen jedoch eine deutliche Sprache gegen Drummond. Holmes wollte von ihm wissen, ob er jemals Kontakt zu einer Miss Stone aus Chichester gehabt habe.
»Ich spreche nicht von einer persönlichen Beziehung, sondern von beruflichem Kontakt oder einer zufälligen Begegnung im Bekanntenkreis.«
»Nein, Mr. Holmes, ich kenne niemanden mit diesem Namen.«
Holmes entnahm seiner Brieftasche eine Fotografie, auf der Miss Stone abgebildet war. Er reichte sie unserem Klienten.
»Kommt Ihnen diese Dame bekannt vor?«
»Nein, das Gesicht kenne ich nicht. Wenn ich die Person überhaupt jemals gesehen haben sollte, dann ist es mir zumindest nicht bewusst. Ist denn das so entscheidend?«
»Sagen wir, es macht die Sache ein wenig einfacher, wenn Sie sie nicht kennen.«
Als wir die Zelle von John Drummond verließen, begegneten wir Inspektor Strutton, der uns berichtete, dass er beim nächsten Prozesstermin einen Zeugen präsentieren würde, der unseren Klienten eindeutig identifizieren könne.
»Und damit endet dann die Beweisaufnahme für diesen Fall. John Drummond wird des Mordes an Miss Helen Stone verurteilt werden, Mr. Holmes. Das Motiv war natürlich Eifersucht, seine Geliebte drohte ihm damit, die Beziehung öffentlich zu machen, wenn er sich nicht für sie entscheiden würde. Drummond blieb keine andere Wahl, als sie aus dem Weg zu räumen, wollte er seine gesellschaftliche und soziale Position nicht verlieren.«
Er gab sich siegessicher und war überzeugt, dass schon in den kommenden Tagen das Urteil gesprochen werden würde. Holmes widersprach ihm und riet Strutton dazu, Miss Stone nicht für tot zu erklären, sondern nach ihr zu fahnden. Der Inspektor war mittlerweile so selbstvergessen, dass er meinem Gefährten nur ins Gesicht lachte und ihm viel Erfolg auf seinen Abwegen wünschte. Holmes hingegen runzelte die Stirn, legte den Kopf ein wenig schräg und schüttelte ihn dann langsam.
»Watson, dieser Mann ist von solch gewöhnlichem Geist, dass er neben dem Misserfolg auch noch meinen Spott ernten wird.«
Wir zogen uns für die Nacht in die Herberge zurück, wo wir ein weiteres unspektakuläres Abendmahl zu uns nahmen. Bald darauf verließen wir die Gaststube und gingen auf unser Zimmer. Auf dem Weg dorthin unterrichtete mich Holmes darüber, dass wir am morgigen Tag nach Brighton fahren würden.
»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Watson. Wir treffen uns dort mit Frank Tolbert, einem Beamten der Stadtverwaltung. Ich denke, wir werden von ihm einige Fragen in Bezug auf Miss Stone beantwortet bekommen.«
»Ist er der Liebhaber von Miss Stone?«
»Er scheint mir in der Tat der Mann zu sein, der zuletzt bei ihr war, dort Zigaretten geraucht und seine Asthmamedizin stehen gelassen hat.«
Mittlerweile waren wir in unserem Zimmer angelangt und Holmes bereitete, ohne mich zu fragen, zwei Brandys, was mir zeigte, dass er offenkundig noch von den Ereignissen des vergangenen Tages berichten wollte. Ich war erfreut darüber und begann sogleich nachzufragen.
»Wie haben Sie es angestellt, Tolbert zu finden?«
»Es war eigentlich recht einfach, vor allem die äußerst seltenen ägyptischen Zigaretten haben mir geholfen. Ansonsten wäre die Suche deutlich schwieriger und vor allem langwieriger geworden. Ich habe also heute in London Nachforschungen angestellt und konnte, wie ich im Übrigen erwartet hatte, feststellen, dass dieser Zigarettentyp nur von einer einzigen Firma, der Stradford Ltd., nach England importiert wird. Sie beliefert fünf Tabakläden, einer befindet sich in Liverpool, ein weiterer in Leeds, dazu drei in London. Zudem erhalten noch vier Privatpersonen halbjährlich eine Lieferung dieser speziellen Zigaretten. Wir haben möglicherweise Glück, denn eine der Personen ist in Brighton ansässig. Zwei weitere leben in Nordengland und ein Dritter in Sheffield. Sie kommen meiner Meinung nach jedoch kaum in Frage, zieht man die Tatsache in Betracht, dass Miss Stone und ihr Liebhaber eine regelmäßige Beziehung pflegten. Ich gehe davon aus, dass der heimliche Besucher nicht allzu weit von ihr entfernt wohnt. Ihr Blick verrät mir, dass Ihnen nicht ganz einleuchtet, woraus zu ersehen ist, dass die beiden sich regelmäßig trafen. Watson, ich darf Sie daran erinnern, dass unser Unbekannter einen Teil seiner Asthmamedizin in einem kleinen Kasten am Bett aufbewahrt hat. Er verwendete sie demnach regelmäßig in ihrem Apartment.«
»Wie sicher können wir sein, dass er unser Mann ist?«
»Ich kann es natürlich nicht mit absoluter Sicherheit sagen, bin aber ziemlich überzeugt davon. Falls er es nicht sein sollte, wird die Angelegenheit kompliziert. Sie würde uns einige Zeit kosten, Zeit, die wir eigentlich nicht haben. Man müsste in einem ersten Schritt die anderen Personen aufsuchen, die Zigaretten direkt erhalten haben. Falls dies keinen Erfolg bringen sollte, wären die Läden unter die Lupe zu nehmen. Morgen um die Mittagszeit wissen wir hoffentlich mehr.«
Ich war von meinen verschiedenen Unternehmungen recht müde geworden und verabschiedete mich ins Bett. Holmes hatte vor, sich die Probleme des Falls noch bei einer Pfeife durch den Kopf gehen zu lassen.