In dem angenehmen sogenannten Halbschatten, unter der wunderbaren Kühlung aus dem Fluß herauf, entwickelten wir aufeinmal wieder solche Gespräche wie früher, und es war jetzt naturgemäß und ganz seiner Entwicklung entsprechend nicht mehr die große Oper gewesen, die ihn beschäftigte, sondern die sogenannte Kammermusik. Er hatte sich auch geistig aus den großen Opernhäusern zurückgezogen. Er redete nicht mehr über Schaljapin und Gobbi, über Di Stefano und die Simionato, sondern über Thibaud und Casals und ihre Kunst. Über das Juilliard- und über das Amadeus-Quartett und das von ihm geliebte Trio di Trieste. Wie es Arturo Benedetti Michelangeli macht im Gegensatz zu Pollini, Rubinstein im Gegensatz zu Arrau und Horowitz etcetera. Er war jetzt, wie gesagt wird, vom Tod gezeichnet. Ich habe ihn über zehn Jahre gekannt und in dieser Zeit war er immer schon todkrank gewesen und vom Tod gezeichnet. Auf dem Wilhelminenberg hatten wir, wie gesagt, wortlos unsere Freundschaft für immer besiegelt, auf jener Bank, auf welcher er nur grotesk, grotesk gesagt hatte. Es war jetzt schon schwierig, sich vorzustellen, daß er dreizehn und vierzehn Jahre vorher einer Geliebten, die Amerikanerin und Sopranistin gewesen war und die in fast allen großen Opernhäusern der Welt die Königin der Nacht und die Zerbinetta gesungen hat, genau um diese ganze Welt nachgereist ist, um sie schließlich doch aufgeben zu müssen, um dann nurmehr noch von ihr zu träumen. Es war unvorstellbar, daß er in dieser doch gar nicht so lange zurückliegenden Zeit die berühmtesten Autorennplätze Europas aufgesucht hat und selbst Autorennen gefahren ist, daß er einer der besten Segler gewesen ist. Es war jetzt schon unvorstellbar, daß er jahrzehntelang keine Nacht vor drei oder vier Uhr früh ins Bett gekommen ist, weil er sich den Großteil aller Nächte in den berühmtesten Bars Europas aufgehalten hat. Daß er schließlich einmal Eintänzer gewesen ist gegen alle Regeln der Wittgensteinschen Grundsätze. Daß er jener gewesen sein solle, der in den besten Hotels des alten und auch noch des neuen Europa tatsächlich als ein Herr aus- und eingegangen ist. Und es war jetzt auch schon unvorstellbar, daß er jener gewesen ist, der jahrzehntelang der Wiener Oper die höchsten Höhepunkte wie die tiefsten Tiefpunkte gebrüllt und gepfiffen hat. Alles, das er erlebt hat, war in dieser traurigen Zeit seiner letzten Jahre bereits unvorstellbar gewesen. Er saß mit mir in Nathal an der Hofmauer und rechnete sich in der untergehenden Sonne aus, wie oft er in Paris, wie oft er in London und in Rom gewesen war, wieviele Tausende Flaschen Champagner er getrunken, wieviele Frauen er verführt und wieviele Bücher er wohl gelesen habe. Denn diese wie man sieht, oberflächliche Existenz, hatte durchaus kein oberflächlicher Mensch geführt, im Gegenteil. Es gab kaum einen Punkt, in welchem es ihm auch nur die geringsten Schwierigkeiten gemacht hatte, mitund weiterzudenken, ganz im Gegenteil, war er es oft gewesen, der mich in Verlegenheit gebracht hatte gerade auf jenen Gebieten, die eigentlich die meinigen sind und von welchen ich überzeugt gewesen war, daß ich in ihnen zuhause bin; er belehrte mich oft eines besseren. Sehr oft habe ich gedacht, er ist der Philosoph, nicht ich, er ist der Mathematiker, nicht ich, er ist der Kenner, nicht ich. Ganz abgesehen davon, daß es auf dem musikalischen Gebiet kaum etwas gab, das ihm nicht sofort gegenwärtig und auch gleich ein Ansatz und Anlaß wenigstens zu einer interessanten Musikdebatte gewesen wäre. Und er war zu allem dazu auch noch ein ganz und gar außerordentlicher Koordinator, was diese Geistes- oder überhaupt Kunstdisziplin betrifft. Andererseits war er alles andere als ein Vielredner, geschweige denn ein Schwätzer in einer Welt, die ja nur aus Vielrednern und Schwätzern zu bestehen scheint. Eines Tages machte ich ihm wahrscheinlich unter dem Eindruck eines seiner immer ganz und gar außerordentlichen Lebensberichte den Vorschlag, er solle daran gehen, alles das, mir mit soviel philosophischem Unterbau sozusagen Berichtete aufzuschreiben, es nicht im Laufe der Zeit verkommen lassen. Aber es brauchte Jahre, bis ich ihn soweit gebracht hatte, an ein solches Aufschreiben seiner Erfahrungen und Erlebnisse, die für jeden interessant sind, zu gehen. Da müsse er sich schon, sagte er, nachdem er sich einen Stapel Papier gekauft hatte, aus seiner Umgebung entfernen, also aus den Fängen seiner stupiden kunst- und geistfeindlichen Verwandtschaft und naturgemäß auch aus allen diesen Wittgensteinschen gegen den Geist und gegen die Kunst gebauten Behausungen und sich irgendwo, wo man ihn nicht aufzustöbern imstande sei, ein Zimmer nehmen zu diesem Zweck. Und so mietete er sich in einem kleinen Gasthof außerhalb von Traunkirchen ein. Aber schon nach dem ersten Versuch hatte er aufgegeben. Später hat er dann plötzlich, eineinhalb Jahre vor seinem Tod, tatsächlich eine Sekretärin engagiert, um ihr sozusagen seine kuriose Existenz zu diktieren. Aber, auch weil er ja durch seine Umstände finanziell so außerordentlich kurz gehalten war in seinen letzten Lebensjahren, dieser Versuch scheiterte natürlich mehr oder weniger kläglich. Dieser Sekretärin hatte er, wie ich von ihr selbst und von Paul weiß, ein Vermögen versprochen, wenn sie sich von ihm seine kuriose Existenz diktieren läßt, einen immensen Reichtum, denn der Paul war sich sicher gewesen, daß seine bornierten Memoiren, so er, ein ungeheuerer Welterfolg sein würden. Immerhin hat er zehn oder fünfzehn Seiten zustande gebracht. Im Grunde hat er wahrscheinlich gar nicht unrecht gehabt, wenn er an einen ungeheuren Erfolg, so seine eigenen Worte, glaubte, denn ein solches Buch hätte tatsächlich ein solcher ungeheurer Erfolg sein können, denn es wäre ohne Zweifel wirklich ein sogenanntes einmaliges gewesen, aber er war nicht der Mensch, sich wenigstens ein Jahr lang vollkommen zu isolieren auf ein solches Ziel hin. Aber es ist schade, daß es nicht mehr solcher Fragmente von ihm gibt. Die Wittgensteinschen haben immer nur in Millionen gedacht, wenn es sich um ihre Geschäfte handelte, es war ganz natürlich, daß auch ihr schwarzes Schaf Paul an Millionen dachte im Hinblick auf sein gedrucktes Diktat. Ich werde etwa dreihundert Seiten schreiben, sagte er und es ist nicht schwierig, einen Verleger zu finden. Er dachte, ich würde sein Manuskript schon an den richtigen bringen. Es sollte ein durch und durch philosophischer Lebensbericht sein, keine Schwafelei, wie er sich ausdrückte. Ich sah ihn tatsächlich sehr oft mit Papieren unter dem Arm, auf die er schon etwas geschrieben hatte und es wäre ja auch möglich, daß er tatsächlich mehr geschrieben hat, als noch vorhanden ist, daß er sogar in einem seiner zahlreichen Anfälle möglicherweise sogar größere Teile eines Manuskripts in einem absolut selbstkritischen Zustand als Geisteszustand vernichtet hat, das wäre, so wie ich ihn kenne, sogar das Natürlichste. Oder daß das von ihm Aufgeschriebene auf andere Weise sozusagen auf kunst- und philosophiefeindliche Weise verloren gegangen und auf die Seite gebracht worden ist, wie gesagt wird. Denn es ist schwer, sich vorzustellen, daß er mindestens zwei Jahre lang immer nur mit denselben zehn oder elf Seiten beschäftigt gewesen und in Wien und am Traunseeufer umhergelaufen ist. Aber wer sollte das klären? In Freundeskreisen sagte er, wenn er wieder einmal in Form gewesen war, er sei der viel bessere Schriftsteller als ich, den er zwar bewundere, der aber doch an ihn nicht herankomme, ich sei zwar sein literarisches wie auch sein philosophierendes Vorbild, er selbst sei aber längst über mich und meine Gedanken hinausgekommen, habe sich schon lange Zeit selbständig gemacht und mich hinter sich gelassen. Wenn er sein Buch veröffentliche, werde die literarische
Welt, so er, nicht aus dem Staunen herauskommen. Schließlich verfaßte er gegen das Lebensende, also in äußerster schriftstellerischer Bedrängnis, weil ihm das zweifellos leichter gefallen ist, als Prosa schreiben, sozusagen mit der linken Hand, mehrere gereimte Gedichte, deren Verrücktheit und Witz tatsächlich zum Lachen gewesen waren. Er selbst las, meistens, wenn er kurz vor einer neuerlichen Einlieferung in eines seiner Irrenhäuser gewesen war, das längste dieser skurrilen Gedichte vor, gleich wem. Es gibt ein sogenanntes Tonband von diesem Gedicht, das ihn selbst sowie Goethes Faust zum Mittelpunkt hat, wer es ihn vortragen hört, ist zuhöchst amüsiert und zutiefst erschüttert. Ich könnte jetzt Paulsche Anekdoten zum Besten geben, es gibt nicht nur Hunderte, sondern Tausende, die ihn zum Mittelpunkt haben und die in der sogenannten gehobenen Wiener Gesellschaft, die die seine gewesen war und die, wie bekannt, von Anekdoten und von nichts sonst lebt seit Jahrhunderten, berühmt sind, aber das ist nicht meine Absicht. Er war ein Unruhevoller, ein fortwährend Nervöser, ununterbrochen Unbeherrschter. Er war ein Grübler und ein ununterbrochen Philosophierender und ein ununterbrochener Bezichtiger. Da er ein unglaublich geschulter Beobachter und in dieser seiner Beobachtung, die er mit der Zeit zu einer Beobachtungskunst entwickelt hat, der Rücksichtsloseste gewesen ist, hatte er fortwährend allen Grund zur Bezichtigung. Es gab nichts, das er nicht bezichtigte. Die Leute, die ihm unter die Augen kamen, waren niemals länger als nur die allerkürzeste Zeit ungeschoren, schon hatten sie einen Verdacht auf sich gezogen und sich eines Verbrechens oder wenigstens eines Vergehens schuldig gemacht und sie wurden von ihm gegeißelt mit jenen Wörtern, die auch die meinigen sind, wenn ich mich auflehne oder wehre, wenn ich gegen die Unverschämtheit der Welt vorzugehen habe, will ich nicht den Kürzeren ziehen, von ihr vernichtet werden. Im Sommer hatten wir unseren Stammplatz auf der Terrasse des Sacher und existierten die meiste Zeit aus nichts anderem als aus unseren Bezichtigungen. Gleich was vor uns auftauchte, es wurde bezichtigt. Stundenlang saßen wir auf der Sacherterrasse und bezichtigten. Wir saßen bei einer Schale Kaffee und bezichtigten die ganze Welt und bezichtigten sie in Grund und Boden. Wir setzten uns auf die Sacherterrasse und setzten unseren eingespielten Bezichtigungsmechanismus in Bewegung hinter dem Arsch der Oper, wie der Paul sich ausdrückte, denn sitzt man vor dem Sacher auf der Terrasse und schaut geradeaus, schaut man genau auf die Hinterseite der Oper. Er hatte eine Freude an solchen Definitionen wie dem Arsch der Oper, wohl wissend, daß er damit nichts anderes als das Hinterteil seines wie nichts auf der Welt geliebten Hauses am Ring bezeichnete, aus welchem er so viele Jahrzehnte mehr oder weniger alles, das er zum Existieren brauchte, bezog. Stundenlang saßen wir auf der Sacherterrasse und beobachteten die Leute, die da hin und her gingen. Tatsächlich gibt es für mich auch heute noch kaum ein größeres (Wiener) Vergnügen, als auf der sommerlichen Sacherterrasse zu sitzen und die Leute zu beobachten, die daran vorbeigehen. Wie ich ja überhaupt kein größeres Vergnügen kenne, als Leute zu beobachten und sie vor dem Sacher sitzend zu beobachten, ist eine besondere Delikatesse, die der Paul sehr oft mit mir teilte. Der Herr Baron und ich, wir hatten uns einen für unsere Beobachtungszwecke besonders günstigen Winkel auf der Sacherterrasse ausgesucht, wir sahen alles, was wir sehen wollten, umgekehrt sah uns niemand. Es erstaunte mich, wenn ich mit ihm durch die sogenannte Innere Stadt ging, wie viele Leute er kannte und mit wie vielen von diesen Bekannten er tatsächlich verwandt gewesen war. Über seine Familie redete er selten und wenn, nur darüber, daß er im Grunde mit ihr nichts zu tun haben will, wie umgekehrt seine Familie nichts mit ihm. Ab und zu erwähnte er seine jüdische Großmutter, die sich in selbstmörderischer Absicht aus dem Fenster ihres Hauses auf dem Neuen Markt in die Tiefe gestürzt hat und seine Tante Irmina, die in der Nazizeit eine sogenannte Reichsbauernführerin gewesen war und die ich auch von mehreren Besuchen in ihrem Bauernhaus auf dem Hügel über dem Traunsee kannte. Wenn er meine Brüder sagte, so sagte er damit nur immer meine Peiniger, nur von einer in Salzburg lebenden Schwester redete er liebevoll. Er hatte sich von seiner Familie immer bedroht und alleingelassen gefühlt, hatte sie immer nur als die kunst- und geistfeindliche bezeichnet, die in ihrem Millionenvermögen erstickt ist. Aber schließlich ist sie es, die den Ludwig und den Paul hervorgebracht hat. Und die den Ludwig und den Paul auch wieder abgestoßen hat zu dem für sie günstigsten Zeitpunkt. An der Hofmauer in Nathal sitzend mit meinem Freund, dachte ich, was für ein Weg das ist, den der Paul über siebzig Jahre gegangen ist. Daß er so begütert und behütet, wie nur ein Mensch sein kann, die ersten Jahre in einem sozusagen unerschöpflichen Österreich aufgewachsen ist, selbstverständlich das berühmte Theresianum besucht hat, sich dann aber, selbstbewußt, einen eigenen familienentgegengesetzten Weg geebnet und genau das hinter sich gelassen hat, das oberflächlich betrachtet, die Wittgensteinschen Werte gewesen waren, nämlich reich und begütert und behütet zu sein, um letztenendes eine sogenannte Geistesexistenz zu führen zur Selbsterrettung. Er hatte sich, wie gesagt werden kann, schon früh aus dem Staub gemacht wie sein Onkel Ludwig schon Jahrzehnte vorher, alles das, das ihn wie diesen, letztenendes ermöglicht hat, hinter sich gelassen und hat sich, wie vorher schon sein Onkel Ludwig, für seine Familie zum Unverschämten gemacht. Während der Ludwig sich zum unverschämten Philosophen gemacht hat, hat sich der Paul zum unverschämten Verrückten gemacht und es ist ja nicht gesagt, daß der Philosoph nur dann als ein solcher zu bezeichnen ist, wenn er, wie der Ludwig, seine Philosophie aufschreibt und veröffentlicht, er ist auch der Philosoph, wenn er nichts von dem, das er philosophiert hat, veröffentlicht, also auch, wenn er nichts aufschreibt und nichts veröffentlicht. Die Veröffentlichung macht ja nur deutlich und macht das Aufsehen von dem deutlich Gemachten, das ohne Veröffentlichung nicht deutlich werden kann und kein Aufsehen macht. Ludwig war der Veröffentlicher (seiner Philosophie), Paul war der Nichtveröffentlicher (seiner Philosophie) und wie Ludwig letztenendes doch der geborene Veröffentlicher (seiner Philosophie) gewesen ist, war der Paul der geborene Nichtveröffentlicher (seiner Philosophie). Aber beide waren sie, jeder auf seine Weise, die großen, immer aufregenden und eigenwilligen und umstürzlerischen Denker gewesen, auf die ihre und nicht nur ihre Zeit stolz sein kann. Natürlich ist es schade, daß uns der Paul nicht wie der Ludwig tatsächlich aufgeschriebene und gedruckte und also veröffentlichte Beweise für seine Philosophie geliefert hat, während wir solche Beweise von seinem Onkel Ludwig in der Hand und im Kopf haben. Aber es ist unsinnig, einen Vergleich anzustellen zwischen dem Ludwig und dem Paul. Ich habe mit dem Paul niemals über den Ludwig gesprochen, geschweige denn über dessen Philosophie. Nur manchmal und für mich ziemlich unvermittelt, hatte der Paul gesagt Du kennst doch meinen Onkel Ludwig. Mehr nicht. Nicht ein einziges Mal haben wir über den Tractatus gesprochen. Aber ein einziges Mal hat der Paul gesagt, sein Onkel Ludwig sei der Verrückteste der Familie gewesen. Der Multimillionär als Dorfschullehrer ist doch wohl eine Perversität, glaubst du nicht? hat der Paul gesagt. Ich weiß bis heute nichts über die tatsächliche Beziehung des Paul zu seinem Onkel Ludwig. Ich habe ihn auch niemals danach gefragt. Ich weiß nicht einmal, ob sich die beiden jemals g
esehen haben. Ich weiß nur, daß der Paul seinen Onkel Ludwig immer dann in Schutz genommen hat, wenn die Familie Wittgenstein über ihn hergefallen ist, wenn sie selbst sich über den Philosophen Ludwig Wittgenstein lustig gemacht hat, der ihr, soviel ich weiß, zeitlebens peinlich gewesen ist. Der Ludwig Wittgenstein war ihr immer genauso wie der Paul Wittgenstein ein Narr gewesen, den das Ausland, das schon immer für das Verschrobene ein Ohr gehabt hat, groß gemacht hat. Kopfschüttelnd amüsierten sie sich darüber, daß die Welt auf ihren Familiennarren hereingefallen ist, daß der Unbrauchbare plötzlich in England berühmt und zu einer Geistesgröße geworden ist. In ihrem Hochmut lehnten die Wittgenstein ihren Philosophen ganz einfach ab und zollten ihm nicht einmal den geringsten Respekt, sondern straften ihn bis zum heutigen Tag mit Verachtung. Wie in Paul, sehen sie bis heute auch in Ludwig nichts anderes als einen Verräter. Wie den Paul haben sie auch den Ludwig ausgeschieden. Wie sie sich, solange er existiert hat, ihres Paul geschämt haben, schämten sie sich bis heute auch ihres Ludwig, das ist die Wahrheit und selbst die inzwischen beträchtliche Berühmtheit des Ludwig hat ihre Gewohnheitsverachtung des Philosophen nicht einschüchtern können in einem Land, in welchem der Ludwig Wittgenstein letztenendes auch heute noch beinahe nichts gilt und in welchem man ihn auch heute noch beinahe nicht kennt. Die Wiener haben, das ist die Wahrheit, heute noch nicht einmal den Sigmund Freud anerkannt, ja nicht einmal richtig zur Kenntnis genommen, das ist die Tatsache, weil sie dazu viel zu perfid sind. Mit Wittgenstein ist es nicht anders. Mein Onkel Ludwig, das war für den Paul immer die respektvollste Bemerkung, die auszubauen er sich aber niemals getraute und die er, der ebenso Gezeichnete, lieber auf sich beruhen ließ. Sein Verhältnis zu dem in England groß gewordenen Onkel ist mir in Wahrheit nie klar geworden. Meine Beziehung zu Paul, die in dem Blumenstockgassenzimmer unserer Freundin Irina ihren Anfang genommen hat, war naturgemäß schwierig, nicht eine Freundschaft, ohne tagtägliche Wiedererringung und Erneuerung und sie hat sich im Laufe der Zeit als die anstrengendste erwiesen; sie war an ihre Höhe- und Tiefpunkte und an ihre Freundschaftsbeweise angeklammert. Welche Rolle beispielsweise der Paul bei der sogenannten Verleihung des Grillparzerpreises an mich gespielt hat, fällt mir ein. Wie er als einziger neben meinem Lebensmenschen den ganzen durchtriebenen Unsinn dieser Preisverleihung durchschaut und diese Groteske als das bezeichnet hat, das sie gewesen ist: eine echt österreichische Perfidie. Ich erinnere mich, daß ich mir für diese Preisverleihung in der Akademie der Wissenschaften einen neuen Anzug gekauft habe, weil ich glaubte, nur in einem neuen Anzug in der Akademie der Wissenschaften auftreten zu können und ich bin mit meinem Lebensmenschen in ein Kleiderhaus auf dem Kohlmarkt gegangen und habe mir einen passenden Anzug ausgesucht, probiert und gleich anbehalten. Der neue Anzug war grauschwarz und ich dachte, in diesem neuen grauschwarzen Anzug werde ich meine Rolle in der Akademie der Wissenschaften besser spielen können, als in meinem alten. Ich betrachtete noch am Morgen der Preisverleihung diese Preisverleihung als ein Ereignis. Es war der hundertste Todestag Grillparzers gewesen und gerade an diesem hundertsten Todestag Grillparzers mit dem Grillparzerpreis ausgezeichnet zu werden, empfand ich als außerordentlich. Jetzt zeichnen mich die Österreicher, meine Landsleute, die mich bis zu diesem Zeitpunkt immer nur mit Füßen getreten haben, sogar mit dem Grillparzerpreis aus, dachte ich und ich glaubte tatsächlich, ich hätte einen Höhepunkt erreicht. Möglicherweise zitterten mir sogar die Hände in der Frühe und es kann auch sein, daß ich einen heißen Kopf hatte. Daß mir die Österreicher, die mich bis dahin immer nur ignoriert oder verhöhnt hatten, plötzlich ihren höchsten Preis geben, betrachtete ich als eine endgültige Wiedergutmachung. Nicht ohne Stolz war ich in meinem neuen Anzug aus dem Kleidergeschäft heraus und auf den Kohlmarkt getreten, um in die Akademie der Wissenschaften hinüberzugehen, nie in meinem Leben bin ich mit einem solchen Hochgefühl über den Kohlmarkt gegangen und über den Graben und am Gutenbergdenkmal vorbei. Ich hatte ein Hochgefühl, aber ich kann nicht sagen, daß ich mich in meinem neuen Anzug wohlgefühlt hätte. Es ist immer ein Fehler, ein Kleidungsstück sozusagen unter Aufsicht und in Gesellschaft zu kaufen und ich hatte diesen Fehler wieder gemacht, der neue Anzug war mir zu eng. Ich sehe aber wahrscheinlich recht gut aus in dem neuen Anzug, dachte ich, als ich mit meinem Lebensmenschen und mit dem Paul vor der Akademie der Wissenschaften angekommen war. Preisverleihungen sind, wenn ich von dem Geld, das sie bringen, absehe, das Unerträglichste auf der Welt, diese Erfahrung hatte ich in Deutschland schon gemacht, sie erhöhen nicht, wie ich bevor ich meinen ersten Preis bekommen habe, glaubte, sondern sie erniedrigen, und zwar auf die beschämendste Weise. Nur weil ich immer an das Geld, das sie einbringen, dachte, habe ich sie ausgehalten, nur aus diesem Grund bin ich in die verschiedensten alten Rathäuser und in alle diese geschmacklosen Festsäle hineingegangen. Bis vierzig. Habe ich mich der Erniedrigung dieser Preisverleihungen unterzogen. Bis vierzig. Habe ich mir in diesen Rathäusern und Festsälen auf den Kopf machen lassen, denn eine Preisverleihung ist nichts anderes, als daß einem auf den Kopf gemacht wird. Einen Preis entgegennehmen, heißt nichts anderes, als sich auf den Kopf machen zu lassen, weil man dafür bezahlt wird. Ich habe Preisverleihungen immer als die größte Erniedrigung, die sich denken läßt, empfunden, nicht als Erhöhung. Denn ein Preis wird einem immer nur von inkompetenten Leuten verliehen, die einem auf den Kopf machen wollen und die einem ausgiebig auf den Kopf machen, wenn man ihren Preis entgegennimmt. Und sie machen einem mit vollem Recht auf den Kopf, weil man so gemein und so niedrig ist, ihren Preis entgegenzunehmen. Nur in der äußersten Not und in Lebens- und Existenzbedrohung und nur bis vierzig hat man ein Recht, einen mit einem Geldbetrag verbundenen oder überhaupt einen Preis oder eine Auszeichnung entgegenzunehmen. Ich habe meine Preise ohne die äußerste Not und ohne Lebens- und Existenzbedrohung entgegengenommen und habe mich damit gemein und niederträchtig und im wahrsten Sinne des Wortes abstoßend gemacht. Auf dem Weg zum Grillparzerpreis aber dachte ich, es sei damit anders. Dieser Preis ist mit keinerlei Geld verbunden. Die Akademie der Wissenschaften sei etwas und ihr Preis sei etwas, dachte ich auf dem Weg in die Akademie der Wissenschaften. Und ich dachte, als wir drei, mein Lebensmensch, der Paul und ich an der Akademie der Wissenschaften angekommen waren, dieser Preis sei, weil er Grillparzerpreis heißt und von der Akademie der Wissenschaften verliehen wird, eine Ausnahme. Und tatsächlich dachte ich auf dem Weg in die Akademie der Wissenschaften hinüber, daß ich wahrscheinlich schon vor der Akademie der Wissenschaften empfangen werde, wie es sich gehörte, wie ich dachte, mit dem notwendigen Respekt. Aber es hatte mich überhaupt niemand empfangen. Nachdem ich mit den Meinigen eine gute Viertelstunde in der Eingangshalle der Akademie der Wissenschaften gewartet hatte und von keinem Menschen überhaupt erkannt, geschweige denn empfangen worden bin, obwohl ich mich mit den Meinigen andauernd umgesehen hatte, war ich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden, während die zu dieser Feier herbei- und hereingeströmten Leute schon in dem überfüllten Festsaal Platz genommen hatten, und ich dachte, jetzt gehe ich ganz einfach mit den Meinigen in den Festsaal hinein wie die andern, di
e schon hineingegangen sind. Und ich hatte die Idee gehabt, mich genau da in der Mitte des Festsaals niederzusetzen, wo noch ein paar Plätze frei waren und ich ging mit den Meinigen hinein und wir setzten uns. Als wir uns hingesetzt hatten, war der Festsaal schon voll gewesen und selbst die Ministerin hatte schon ihren Platz in der ersten Reihe unter dem Podium eingenommen gehabt. Das philharmonische Orchester zupfte schon nervös an den Instrumenten und der Präsident der Akademie der Wissenschaften, der Hunger hieß, lief aufgeregt auf dem Podium hin und her und keiner außer mir und den Meinigen wußte, warum mit dem Festakt noch nicht begonnen wird. Mehrere Akademiemitglieder rannten auf dem Podium hin und her und hielten nach dem Mittelpunkt des Festaktes Ausschau. Auch die Ministerin drehte ihren Kopf nach allen Seiten des Saales. Plötzlich hatte mich ein Herr vom Podium aus in der Mitte des Saales sitzen gesehen und der Herr flüsterte dem Präsidenten Hunger etwas ins Ohr und verließ das Podium und ging auf mich zu. Das war nicht einfach gewesen, sich einen Weg durch die vollbesetzte Reihe zu mir in die Mitte des Saales zu machen. Alle in dieser Reihe Sitzenden mußten aufstehen, das taten sie nur widerwillig und, wie ich beobachtete, mit bösartigen Blicken gegen mich. Ich dachte, daß ich doch eine perfide Idee gehabt habe, mich in die Mitte des Saales zu setzen, denn der auf mich zukommende Herr, Mitglied der Akademie naturgemäß, hatte die größte Mühe, mich zu erreichen. Offensichtlich hat dich, so dachte ich augenblicklich, außer diesem Herren kein Mensch hier erkannt. Jetzt, da der Herr bei mir angelangt war, hatten sie aber alle ihre Blicke auf mich gerichtet, aber wie, strafend, durchbohrend. Eine Akademie, die mir ihren Preis gibt und mich überhaupt nicht kennt und die mich, weil ich mich ihr nicht zu erkennen gegeben habe, gleich mit strafenden und durchbohrenden Blicken überfällt, hätte noch etwas viel Perfideres verdient, dachte ich. Schließlich hat mich der Herr sozusagen darauf aufmerksam gemacht, daß mein Platz nicht hier, wo ich saß, sondern neben der Ministerin in der ersten Reihe sei und ich solle gefälligst in diese erste Reihe gehen und mich neben die Ministerin setzen. Ich gehorchte dem Herren nicht, weil er die Aufforderung an mich in einem tatsächlich widerwärtigen, arroganten Ton vorgebracht hatte, letztenendes auch in so abstoßend siegessicherer Weise, daß ich mich, um mein Selbstgefühl zu behalten, weigern mußte, mit ihm aus der Reihe hinaus und auf das Podium zu gehen. Herr Hunger selbst solle kommen, sagte ich. Nicht irgend jemand habe mich aufzufordern, auf das Podium zu kommen, sondern der Präsident der Akademie der Wissenschaften selbst. Ich hatte im Grunde die größte Lust gehabt, aufzustehen und mit den Meinigen die Akademie der Wissenschaften ohne Preis zu verlassen. Ich blieb aber sitzen. Ich selbst hatte mich in den Käfig gesperrt. Ich selbst hatte mir die Akademie der Wissenschaften zum Käfig gemacht. Es gab keinen Ausweg. Schließlich war der Präsident der Akademie zu mir gekommen und ich bin mit dem Präsidenten der Akademie bis vor das Podium gegangen und habe mich neben die Ministerin gesetzt. In dem Augenblick, in welchem ich mich neben die Ministerin gesetzt habe, hat sich mein Freund Paul nicht beherrschen können und ist in ein den ganzen Saal erschütterndes Lachen ausgebrochen, das solange gedauert hat, bis die philharmonischen Kammerspieler zu spielen angefangen haben. Es wurden ein paar Reden auf Grillparzer gehalten und ein paar Worte über mich gesagt, alles in allem ist aber doch eine Stunde und also wie immer bei solchen Gelegenheiten, viel zu viel geredet worden und naturgemäß Unsinn. Während dieser Reden hat die Ministerin geschlafen und, wie ich deutlich hören konnte, geschnarcht und ist erst aufgewacht, wie die philharmonischen Kammerspieler wieder angefangen haben, zu spielen. Als der Festakt zu Ende gewesen war, scharten sich auf dem Podium so viele als möglich um die Ministerin und den Präsidenten Hunger. Von mir hatte kein Mensch mehr Notiz genommen. Da ich mit den Meinigen nicht schon gleich den Festsaal verlassen hatte, hörte ich gerade noch, wie die Ministerin plötzlich ausgerufen hat: Wo ist denn der Dichterling? Darauf hatte ich endgültig genug und ich verließ die Akademie der Wissenschaften, so schnell ich konnte. Kein Geld und sich auf den Kopf machen zu lassen, das war zweifellos im Augenblick unerträglich. Ich lief, die Meinigen mehr oder weniger mitreißend, hinaus auf die Straße und ich höre noch, wie der Paul währenddessen zu mir sagt: Du hast dich mißbrauchen lassen! Die haben dir auf den Kopf gemacht! Tatsächlich, dachte ich, sie haben dir auf den Kopf gemacht. Sie haben dir auch heute wieder auf den Kopf gemacht, wie sie dir immer auf den Kopf gemacht haben. Aber du hast dir auf den Kopf machen lassen, dachte ich, noch dazu in der Akademie der Wissenschaften in Wien. Bevor ich mit den Meinigen das Sacher aufgesucht habe, um diese ganze perverse Preisprozedur bei einem Tafelspitz zu verdauen, bin ich noch in das Kleidergeschäft auf dem Kohlmarkt gegangen, in welchem ich mir vor dem Festakt den neuen Anzug gekauft hatte. Der Anzug sei mir zu eng und ich wolle einen neuen, sagte ich in dem Geschäft und ich sagte es mit einem so unverschämten Nachdruck, daß mich die Angestellten sofort widerspruchslos einen neuen Anzug aussuchen ließen. Ich probierte zwei, drei von mir eigenhändig von den Regalen heruntergenommene Anzüge und entschied mich für den bequemsten. Ich behielt den Anzug, machte eine kleine Aufzahlung und dachte, als ich schon wieder auf der Straße gewesen war, daß bald ein Anderer den Anzug, den ich zu der sogenannten Grillparzerpreisverleihung in der Akademie der Wissenschaften angehabt habe, anhaben und damit durch Wien laufen wird, das belustigte mich. Ein anderer, nicht weniger deutlicher Beweis für die Charakterstärke des Paul: die sogenannte Verleihung des Staatspreises für Literatur (lange vor dem Grillparzerpreis) an mich, die, wie die Zeitungen damals schrieben, mit einem Skandal geendet hat. Der im Audienzsaal des Ministeriums eine sogenannte Laudatio auf mich haltende Minister hat in dieser Laudatio nichts als Unsinn über mich gesagt, weil er nur das von einem Blatt heruntergelesen hat, was ihm einer seiner für die Literatur zuständigen Beamten aufgeschrieben gehabt hat, zum Beispiel daß ich einen Roman geschrieben hätte über die Südsee, was ich natürlich niemals getan habe. Obwohl ich immer Österreicher gewesen bin, behauptete der Minister, daß ich Holländer sei. Obwohl ich davon keine Ahnung hatte, behauptete der Minister, daß ich auf Abenteuerromane spezialisiert sei. Mehrere Male behauptete er in seiner Ansprache, ich sei Ausländer und in Österreich zu Gast. Mich regten die von dem Minister von dem Blatt heruntergelesenen Unsinnigkeiten aber gar nicht auf, denn ich wußte genau, der dumme Mensch aus der Steiermark, der, bevor er Minister geworden war, dort in Graz Sekretär der Landwirtschaftskammer und vor allem für Tierzucht zuständig gewesen war, kann nichts dafür. Dem Minister war ja die Dummheit wie ausnahmslos allen anderen Ministern ins Gesicht geschrieben, das war abstoßend, aber nicht aufregend und ich hatte diese Ministerlaudatio ohne weiteres über mich ergehen lassen. Nachdem ich aber dann, sozusagen als Dank für den Preis, ein paar Sätze, die ich erst kurz vor der Preisverleihung in höchster Eile und mit dem größten Widerwillen auf ein Blatt Papier geschrieben hatte, eine kleine philosophische Abschweifung sozusagen vorgetragen hatte, in welcher ich nichts anderes zu sagen gehabt habe, als daß der Mensch armselig und ihm der Tod sicher sei, alles in allem hatte mein Vortrag nicht länger als drei Minuten gedauert, war der Minister, der überhaupt nicht verstanden hatte, was ich gesagt hatte, empört von seinem
Sitz aufgesprungen und hatte mir die geballte Faust ans Gesicht geschleudert. Wutschnaubend hat er mich vor allen Anwesenden auch noch einen Hund genannt und hat den Saal verlassen nicht ohne hinter sich die Glastür mit einer solchen Gewalt zuzuschlagen, daß sie in tausende Scherben zersplittert ist. Alle im Audienzsaal waren aufgesprungen und hatten dem hinausgestürzten Minister verblüfft nachgeschaut. Einen Augenblick herrschte, wie gesagt wird, vollkommene Ruhe. Darauf geschah das Merkwürdige: die ganze Gesellschaft, die ich doch nur als Opportunistenmeute bezeichnen kann, ist dem Minister nachgerannt, nicht ohne vorher noch gegen mich vorzugehen nicht nur mit Schimpfwörtern, sondern auch mit geballten Fäusten, ich erinnere mich genau an die geballten Fäuste, die der Präsident des Kunstsenats, Herr Henz, mir entgegengeschleudert hat, wie an alle anderen gegen mich vorgebrachten Ehrenbezeigungen in diesem Augenblick. Die ganze Gesellschaft, ein paar hundert Kunstpfründner, vornehmlich aber Schriftsteller, also Kollegen, wie gesagt wird, und deren Gefolge, sind dem Minister nachgerannt und ich weigere mich, alle diese Namen aufzuzählen, die dem Minister durch die von ihm zerschlagene Glastür nachgerannt sind, weil ich keine Lust habe, wegen einer solchen Lächerlichkeit vor Gericht zu kommen, aber es waren die bekanntesten und berühmtesten und angesehensten, die aus dem Audienzsaal hinaus und die Treppe hinuntergestürzt sind, dem Minister nach und die mich mit meinem Lebensmenschen im Audienzsaal stehengelassen haben. Wie einen Aussätzigen. Keiner war bei mir und meinem Lebensmenschen geblieben, alle waren sie, an dem für sie aufgestellten Buffet vorbei, hinausgestürzt und dem Minister nach und hinunter bis auf Paul. Er war der einzige, der bei mir und meiner Lebensgefährtin, meinem Lebensmenschen, stehengeblieben war, entsetzt und amüsiert gleichzeitig von dem Zwischenfall. Später, als es ihnen nicht mehr gefährlich werden konnte, hatten sich noch ein paar andere, nachdem sie zuerst schon verschwunden gewesen waren, zu mir zurückgetraut, sich in den Audienzsaal zurückgeschlichen, ein kleines Häuflein, das schließlich beratschlagte, wohin es gehen solle, um den ganzen lächerlichen Vorfall mit einem Essen hinunterzuwürgen. Noch Jahre danach haben der Paul und ich die Namen jener aufgezählt, die damals in ihrer skrupellosen Staatsund Ministerunterwürfigkeit diesem stumpfsinnigen Minister aus der Steiermark nachgerannt sind, und von jedem wußten wir, warum. Am darauffolgenden Tag ist in den österreichischen Zeitungen von dem Nestbeschmutzer Bernhard die Rede gewesen, der den Minister brüskiert hat, während es doch genau umgekehrt gewesen war, der Minister Piffl-Perčevič hat den Schriftsteller Bernhard brüskiert. Aber im Ausland, wo man auf die österreichischen Ministerien und auf ihre subventionistischen Verwicklungen nicht angewiesen ist, kommentierte man das Ereignis doch so, wie es sich gehörte. Einen Preis annehmen ist schon eine Perversität, sagte mein Freund Paul damals zu mir, einen Staatspreis annehmen aber ist die größte. Weil uns die Besuche bei unserer musikalischen Freundin Irina in der Blumenstockgasse zur liebsten Gewohnheit geworden waren, bedeutete es eine Katastrophe, als unsere Freundin eines Tages aufs Land zog, noch dazu in ein weitabgelegenes niederösterreichisches Nest, in welches wir nur nach zweistündiger Autofahrt gelangen konnten, weil es nicht einmal einen eigenen Eisenbahnanschluß hatte. Es war unvorstellbar, was der Großstadtmensch Irina auf dem Land suchte. Die Frau, die jahraus, jahrein jeden Abend in ein Konzert oder in die Oper oder in ein Theaterstück gegangen ist, hatte sich von einem Tag auf den andern in einem ebenerdigen Bauernhaus eingemietet, das zur Hälfte als Schweinestall benützt wurde, wie der Paul und ich zu unserem Entsetzen feststellen mußten, und in das es nicht nur hineinregnete, sondern das auch noch, weil es nicht unterkellert war, bis zum Dach hinauf feucht gewesen war. Da saßen sie aufeinmal, die Irina und ihr Musikwissenschaftler, der jahrelang für Wiener Zeitungen und Zeitschriften geschrieben hat, an einen amerikanischen Gußeisenofen gelehnt und selbstgebackenes sogenanntes Bauernbrot essend in alten abgewetzten und abgerissenen Kleidern und lobten, während ich mir wegen des penetranten Schweinestallgestanks die Nase zuhalten mußte, das Land und verfluchten die Stadt. Der Musikwissenschaftler schrieb keine Aufsätze mehr über Webern und Berg, über Hauer und Stockhausen, sondern hackte Holz vor den Fenstern oder schöpfte die Jauche aus dem verstopften Abort. Die Irina redete nicht mehr über Die Sechste oder Die Siebte, sondern nurmehr noch über das Selchfleisch, das sie eigenhändig in den Rauchfang gehängt habe, nicht mehr über Klemperer und die Schwarzkopf, sondern über den Traktor des Nachbarn, der sie schon um fünf Uhr früh mit dem Gezwitscher der Vögel aufweckte. Zuerst hatten wir geglaubt, die Irina und ihr musikwissenschaftlicher Mann werden sehr bald wieder von der landwirtschaftlichen Faszination zurück auf die Musik kommen, aber wir hatten uns getäuscht. Von Musik war bald überhaupt keine Rede mehr, als hätte es sie nie gegeben. Wir fuhren zu ihr und bekamen ihr selbstgebackenes Brot und ihre selbstgekochte Suppe vorgesetzt und auch noch den selbstgezogenen Rettich und die selbstgezogenen Paradeiser und fühlten uns betrogen und an ihrer Nase herumgeführt. In wenigen Monaten hatte die Irina sich von der raffinierten Großstädterin und von der leidenschaftlichsten Wienerin zur bäuerlich-biederen, Selchfleisch in den Rauchfang hängenden und Gemüse ziehenden niederösterreichischen Provinzlerin gemacht, was von uns aus gesehen einer radikalen Selbstdegradierung gleichgekommen ist und uns abstoßen mußte. So sind wir sehr bald nicht mehr zu ihr hinausgefahren und haben sie tatsächlich aus den Augen verloren. Wir waren gezwungen gewesen, uns einen neuen Schauplatz für unsere Gespräche und Debatten zu suchen, aber wir fanden keinen, es gab keine Blumenstockgasse mehr. Ohne Irina auf uns selbst angewiesen, waren wir aufeinmal von allen guten musikalischen Geistern verlassen, wenn wir jetzt im Sacher oder im Bräunerhof oder im Ambassador saßen, wo es auch einen idealen Winkel für unseresgleichen gab, von welchem aus wir tatsächlich alles sehen konnten, ohne selbst gesehen zu werden und wo die Gespräche nicht gleich abgetötet wurden, wenn sie in Gang gekommen waren. Da wir für Spaziergänge nichts übrig hatten, trafen wir uns und strebten augenblicklich auf das Sacher oder auf eines der andern unseren Zwecken geeignet erscheinenden Kaffeehäuser zu. Saßen wir im Sacher in unserem Winkel, hatten wir gleich ein Opfer für unsere Spekulationen. Von einem hier, wie sich denken läßt, nicht ohne totale Verkrampfung seine Torte oder seinen um das beliebte Krenobers gedrehten Prager Schinken essenden, Kaffee trinkenden, von den Strapazen einer vorausgegangenen Stadtbesichtigung ziemlich erschöpften und deshalb die Torte viel zu hastig essenden, den Kaffee viel zu gierig in sich hineinschüttenden Inländer oder Ausländer, wie immer, ging es beispielsweise aus, um die allgemein in den letzten Jahrzehnten um sich greifende stupide Gefräßigkeit anzuprangern. Von einer wie zur Strafe in ihrem geschmacklosen Pelz steckenden schlagobersraffenden Deutschen etwa konnten wir umweglos unsere Abneigung gegen alle Deutschen in Wien ableiten, von einem in einem grellgelben Pullover vor dem Fenster sitzenden Holländer, der, sich unbeobachtet glaubend, mit dem rechten Zeigefinger fortwährend große Schmalzkrümel aus der Nase herausholte, war es für uns nicht weit zur totalen Verfluchung alles Niederländischen, das uns aufeinmal als zeitlebens verhaßt vorkam. Die uns Unbekannten mußten herhalten, solange wir keine Bekannten vor unsere Augen bekommen haben, aber trat ein solcher u