Ich stochere in den Pedalen meines Sechsundzwanzigers. Hebe kurz vor der Steigung den Hintern aus dem Sattel. Um erneut Schwung zu holen. Kurz vor der Brühlschen Terrasse. Biege dann in die Prachtstraße ein, mit nur einer Hand am Lenker.
Ab hier geht es unmerklich bergab Richtung Bahnhof. Ich kann den Fahrtwind spüren. Der trocknet mir den Schweiß auf dem Gesicht. Lege den Gang für ebene Strecken ein. Rechts das Gleisbett der Straßenbahn. Auf der anderen Seite vorbeiknatternde Zweitakter und Abgase.
An der vorderen Radnabe hab ich einen Kilometerzähler angebaut. Der hat an der Seite ein Ritzel wie ’ne Spielzeugschiffsschraube. Das wird von einem Mitnehmer an den Speichen bewegt. Als er neu war, hab ich die Radumdrehungen mitgezählt. Bis wieder eine neue Ziffer in die Anzeige klackerte. Die Hundert-Meter-Taktung in Rot. Der Kilometerstand in Schwarz. Drei Ziffern. Nach eintausend Kilometern würde alles von vorn anfangen. Ob ich wohl dabei bin, wenn sich alles wieder auf null stellt? Oh! Fast hätte ich den Mann übersehen. Mit ausgestreckten Armen steht er mitten auf der Kreuzung. Regelt mit einem schwarz-weißen Stab den Verkehr. Die Felgenbremsen sind gut eingestellt – das weiß ich jetzt!
Schon von weitem kann ich Omi ausmachen. Sie wartet wie immer auf mich, hinter der Balkonbrüstung. Wobei, Balkonbrüstung sagt sie nicht. Nie. Stolz ist sie auf ihre moderne Loggia. Mit Blick auf die Turmuhr des Dresdner Rathauses. Ganz oben auf der Kuppel ein Mann mit ausgestrecktem Arm. Ganz aus Gold. Das Rad stell ich neben der Haustür ab. Ein Blick auf den Kilometerzähler gehört dazu.
Klingeln, Summer, Tür springt auf. Hinter den großen Glastüren der Fahrstuhl. In der vierten Etage steigt mir der vertraute Geruch von Sonntagsbraten und Bohnerwachs in die Nase. Noch genau drei Schritte, und die Nachbarin wird ihre Tür aufmachen. Um ihren Fußabtreter zu wenden. Das macht sie immer, wenn jemand den Flur betritt. So auch heute. Sie trägt eine Kittelschürze und nestelt beiläufig ein paar Flusen vom Boden. Ich seh doch, dass da nix ist. Bin schon an ihr vorbei. Kurzer Blick zurück. Hab genau gesehen, wie sie sich beim Verschwinden beeilt.
Ganz hinten im Flur steht dann Omi Gretel. Sie würde nie eine Schürze tragen. Außer zum Kochen. Heute hat sie eine weiße Bluse und den blauen Rock an. Und die Ohrringe, ein Geschenk von Erich zu Vatis Geburt. Erich – ihr Mann – hat sie ihr geschenkt. Ist klar oder?! Die langen grauen Haare hat sie unter einem Haarteil hochgesteckt. Das dauert ewig, und die vielen Nadeln. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Sie sagt, pass auf, mein Dutt. Ich pass ja auf und gebe ihr gleich noch einen Kuss. Auf die andere Seite. Sie riecht nach 4711. Spät dran heute, brummt sie, dreht sich um und eiert schon mal durch die kleine Diele in ihr Zimmer. Das »Eiern« kommt vom nicht operierten Hüftschaden. Vorher hat sie in einer Beletage-Wohnung gelebt. Sechs Zimmer, hohe Decken und Parkett. Aber ohne Balkon. Mit Ofenheizung. Toilette auf halber Treppe. Vor zwei Jahren hat sie ihre Wohnung gegen dieses Appartement in der Prachtplatte eingetauscht. Vor der Haustür die Kaufhalle. Auch Friseur, Plattenladen, Post und Restaurants.
Auf dem kleinen Klapptisch draußen liegt ein Fotoalbum. »Familie Schindler« lese ich. Stolz erzählt sie mir wieder, wie sie gleich nach dem Ersten Weltkrieg das Dresdner Fröbel-Seminar besucht hat. Danach konnte sie sich ihre Anstellungen aussuchen. Als Kindermädchen bei Industriellenfamilien. In Coburg und Wuppertal. Zum Abschied gab’s meistens Tränen, Blumen, ein Buch mit Bildern von ihr mit den Kindern. Und den Eltern vor dem Auto und der Villa.
Jetzt setzt Omi sich in ihren Lehnstuhl. Der ist ihr noch aus der alten Wohnung geblieben. An der Wand hängt ein Blumentopf in einer Halterung. Eine Fuchsia. In voller Blüte. Ich muss pinkeln. In der Diele am Spiegel vorbei. Der hat schon zwei Weltkriege überstanden. Keine Pickel, nur das mit der Frank-Zappa-Matte will nicht so richtig klappen. Zu dünn und flusig sind die Haare. Was bei den anderen wild aussieht, macht meine Frise nur noch trauriger. Omi nennt mich nur noch Lumpi, seit sie hinten über den Kragen gewachsen sind. Hat sie jemals Uwe gesagt? Vorher hieß ich einfach Na-mein-Junge.
In der Stube das Buffet. Oben zwei Schiebefenster. Dahinter Sammeltassen, Likörgläser, Stocknägel aus Bayern und der Uller aus der Sächsischen Schweiz. Unten drin die Tischläufer, Platzdeckchen, Untersetzer. Alles mit bunten Stoffbändern zu ordentlichen Päckchen geschnürt. Ganz anders als das Durcheinander bei mir zu Hause. Auf der linken Seite die Schubladen. Ich mach sie gern auf und zu. Ich darf das. Wie gesagt: ich! In den Besteckkästen ist nicht mehr viel drin. Nach dem Krieg mussten sie das Silber zu Geld machen. Aber gläserne Messerbänkchen konnte man damals nicht gegen Brot tauschen. So sind sie in der Familie geblieben. Erzählte sie mir mal. In der mittleren Schublade liegen Portemonnaies mit altem oder ausländischem Geld. Auch Ausweise und gesammelte Ansichtskarten von ihrem Sohn aus den letzten Jahrzehnten. Und unbeschriftete Schwarzweißfotos von Leuten, die ich nicht kenne. Hinter der Blechdose mit den Knöpfen ein blaues Samtetui. Schon oft hatte ich es in den Händen. Dachte immer, das ist für Ringe oder so was. Heute nehme ich es raus. Will endlich wissen, was drin ist. Also den Daumen auf den winzigen goldenen Drücker. Der Deckel springt auf. Fast wäre es mir aus der Hand gefallen. Aus weißem Satin schaut mich ein Auge an. Mit Pupille und einer grüngrauen Iris.
Wo bleibst du denn, Lumpi?, ruft sie mich. Und kommt ins Zimmer. Was ist das?, frage ich und strecke ihr meine leicht zitternde Hand mit dem Etui entgegen. Ach, das ist Opas Glasauge. Magst du einen Kinderkaffee? Sie geht Richtung Kochzeile. Glasauge? Opa? Den haben doch die Russen nach dem Krieg mitgenommen, hat es immer geheißen. Als ich Omi noch in der alten Wohnung besuchte, war meine Vorstellung davon so: Uniformierte, die »dawai, dawai« brüllten, zerrten Opa aus der Wohnung und stießen ihn die Treppe runter. Vor dem Haus muss dann der Pritschenwagen gestanden haben. Darauf ängstlich kauernde Menschen, die waren auch von den Russen abgeholt worden. Da hätten sie sich dann gegenübergesessen mit ihrer Furcht und Verzweiflung. Die Laderampe wäre hochgeklappt worden und der Wagen übers Kopfsteinpflaster Richtung Elbbrücke gerumpelt. Bis man ihn nicht mehr gesehen hätte. Aber nie hatte Opa in meiner Vorstellung ein Glasauge! Nein! Unmöglich! Haben die ihn ohne …? Jetzt seh ich Opa auf der Pritsche hocken. Mit einem schwarzen Loch im Gesicht. Da, wo sein Auge mal gewesen ist.
Komm, hilf mir mal! Omi stellt das Tablett mit Kaffee und Milch und einer großen Schüssel getrockneter Hagebutten auf den Tisch. Eigentlich pule ich die weißen Kerne gern raus, bin stets voller Vorfreude. Nehme sie als Juckpulver am nächsten Tag mit in die Schule. In die Pullis der Mädchen, am Nacken werden sie reingebröselt. Klar bitten sie dann quiekend um Hilfe. Mit etwas Glück berühren wir, die Jungs, den Verschluss eines BHs. Wie sonst kommt ein Fünfzehnjähriger da ran. Höchstens zu Hause. Aber Mutti hat wattierte, mit hautfarbenen Schalen. Nix für erotische Phantasien. Ist halt die Mutter.
Heute, bei Omi, interessieren mich die Hagebutten kein bisschen. Denke immer noch an Opa bei den Russen. Öffne das Kästchen wieder und nehm das Auge heraus. Eine Halbschale. Hab mir Glasaugen immer wie Murmeln vorgestellt. Schwer, rund und massiv. Das hier wiegt nichts. Ist flach und leicht gebogen. Wieso hatte Opa das? Aber Omi unterbricht mich wieder. Sag mal, Lumpi, du wolltest doch schon beim letzten Mal das Altpapier wegbringen? Das kannste gleich noch machen! Für drei Kilo gibt’s bei der Rohstoffannahme fünfzehn Pfennige. Inzwischen, sehe ich, haben sich auf dem Fußpedal der alten Singer-Nähmaschine schon Zeitungen für mindestens eine Mark angesammelt. Das Geld ist mir schnuppe. Ich will hierbleiben. Genau jetzt!
Auf einmal hat sie es eilig. Steht schon in der Tür. Hat ihre Straßenschuhe an. Und die beige Strickjacke. Ich geh schon mal vor, den Fahrstuhl holen. Bei der Runterfahrt ist sie ernst. Damit das ein für alle Mal erledigt ist!, diese Ansage kommt urplötzlich. Ich nicke. Wie es sich für den braven Enkel gehört. Ja, Omi? Opa war im Krieg in der Schreibstube an der Ostfront. Ein Querschläger hat ihn im Gesicht getroffen. Welche Seite? Lange her, sagt sie. Thema erledigt.
Wir laufen zur Straßenbahn. Fahren schweigend in der 11 Richtung Bühlau. Oma macht aus jeder Besorgung einen Ausflug. Sie geht nicht zum Bäcker an der Ecke. Nein. Sie fährt zu dem am Weißen Hirsch. Wenn sie Brot aufschneidet, sammelt sie die Krumen in einer Papiertüte. Schon als ganz kleines Kind ging ich oft mit ihr in einen der vielen Parks. Überall hatte sie ihre Lieblingsbank. Dort wurden die Brösel mit den Fingern der rechten Hand aus der Tüte genommen und auf den Handteller der linken gelegt. So stand sie lange da, ohne sich zu bewegen. Bis sich der erste Vogel traute. Dann blitzten ihre Augen. Es hatte wieder einmal geklappt. Aber mir fehlte die Geduld. Ich verschüttete alles oder konnte einfach nicht still stehen. Und die Omi Gretel immer so ruhig und gelassen.
Das ist sie auch jetzt. Als wäre es nicht Opas Auge, das da oben noch auf dem Esstisch in der Schatulle liegt. Als gehörte es bloß irgendeinem Menschen. Den sie nie gekannt hatte. Die Straßenbahn fährt über die Albertbrücke in die Neustadt. Sie sitzt mir gegenüber. Die Handtasche auf dem Schoß. Ich schaue abwechselnd raus und wieder zu ihr. Sie ist schön.
Fünfundachtzig ist sie geworden. 1984. Kerngesund bis zuletzt. Brauchte keine Hilfe. Zum Rosengarten an der Elbe ist sie gelaufen. Herrn Fiebig, den Homöopathen, der mir Schach beibrachte, hat sie in Weißig besucht. Oder ist zu ihrer Freundin Dorle in die Villa nach Radebeul-West gefahren.
Mein Vater drängt darauf, dass die Wohnung leergemacht wird. Die neuen Mieter sollen einziehen. Meine Schwester Biggi und ich können uns noch etwas aussuchen. Ich öffne das Buffet noch einmal. Nehme ein Paket mit dunkelblauem Band heraus. Meine Lieblingsfarbe. Omis Kölnisch Wasser riecht immer noch. Das Fotoalbum von den Schindlers packe ich auch ein. Als Andenken am Uroma. Sollte ich doch mal Kinder haben. Alles andere ist mir zu groß, zu sperrig. Wo soll das alles hin bei meinem unsteten Leben? Opas Auge nehme ich mit. Verabschiede mich von Omas Wohnung.
Mit der Straßenbahn bis Theaterplatz. Zu Fuß auf die Brücke, über die in meiner Phantasie der Pritschenwagen mit Opa nach Russland fuhr. Schaue über die Brüstung, aufgewühltes Wasser, der Kieselstrand am Ufer. Stelle die Tasche mit dem Päckchen und dem Fotoalbum ab. Greife nach dem Etui in meiner Hosentasche. Behutsam nehme ich das Glasauge heraus und stecke die leere Schachtel wieder zurück. Noch einmal schau ich mir es ganz genau an. Das Augenweiß, die Pupille, die Iris drumherum. Es liegt jetzt in meiner lockeren Faust. Dann hole ich aus und werfe. Es dreht sich immer schneller und fliegt in einer perfekten Parabel durch die Luft. Dann versinkt es im Fluss. Der weiter Richtung Nordsee fließt.