Gluthitze. Katrin und ihre Freundin Petra am Strand. Schauen gegen die Sonne in meine Richtung. Ich steh bis zu den Hüften im Wasser. Kiesgrube Dresden Laubegast, Sommer 1984. Bald ist die Schauspielprüfung. Ich nutze jede Gelegenheit, die Rolle zu verstehen. Ich versuch’s noch mal: »Ein halbes Jahr sind wir auf der Kippe, wohin willst du noch …? Ein Anfang gleicht dem andern wie Dreck Dreck gleicht, und was du suchst, ist nirgendwo oder hier.« »Die Kipper«, das Stück ist mir nahe. Passt, ein Einzelgänger im Braunkohletagebau. Katrin und Petra applaudieren und lachen sich kaputt. Ich mach einfach weiter. Die an der Schauspielschule wollen zwei Rollen sehen. Die eine hab ich schon mal. Als Klassiker gefällt mir Sosias aus »Amphitryon«, ein gehetzter Diener. Am Strand angekommen, ziehe ich eine Furche. Den Graben von Theben. Ein Knirps leiht mir seine Sandförmchen, spiele mit denen den Schlachtverlauf nach. So grausam wie möglich. Den Kindern gefällt das.
In Schöneweide habe ich das erste Vorsprechen an der Ernst-Busch-Schule hinter mir. Die müssen das nicht zu schlecht gefunden haben, die Berliner. Werde in den Norden geschickt, zu ihrer Außenstelle. An die Ostsee, nach Rostock. Jetzt stehe ich da auf der Probebühne, das Gleiche noch mal. Ziehe den Gürtel aus meinem Hosenbund, lege ihn als Fluss auf den Bühnenboden, nehme die Spielfiguren aus meiner Tasche. Zinnsoldaten und Gummiindianer. Dann genauso wie am Strand, nur anders. Vor mir die Prüfungskommission. Direktor Minetti, der Sohn vom berühmten Bernhard, nickt mir zu. Danke.
Fünfhundert Kilometer mit dem Zug zurück. Dresden-Kleinzschachwitz. Katrin und Petra am Küchentisch. Überlege kurz, ob ich’s spannend mache. Kann nicht. Sie sehen es mir an. Bestanden. Wir feiern bis zum Morgen.
Noch eine einzige Formalität, Wehrkreiskommando. Unterhalb der Tanzwirtschaft »Lindengarten«. Habe die Zulassungspapiere zum Studium dabei. Oben rechts fehlt noch ein Stempel. Mit siebzehn schon mal hier gewesen, zur ersten Musterung. Bücken, Husten, Vorhaut zurück. Ich hab denen gesagt, das mit dem Dienst an der Waffe, das ist nichts für mich. Opa und Vati hatten das auch nicht gemacht. Das fand ich gut. Man bat mich sofort in ein Extrazimmer. Ein ranghoher Militär wies mich zurecht: Dein Vater arbeitet doch für den Sozialismus im kapitalistischen Ausland, was denkst du dir dabei? Dann schwadronierte er weiter: Es kann schon sein, dass wir euch einziehen, wenn es euch überhaupt nicht passt, wenn du frisch eine Freundin hast oder gerade Vater geworden bist! Das dürfen wir!
Und genau diesen Genossen Oberst gibt es hier immer noch. Na danke. Reiche ihm meine Zulassung rüber, das freie Feld kennt er doch gut. Müsste jetzt nur noch den Stempel in die Hand nehmen. Und sage ihm auch noch, wenn ich im Herbst zu den Spatensoldaten komme, kann es in achtzehn Monaten losgehen. Mit dem Studieren. Höchste Zeit, bin jetzt 23, und die Schule nimmt keinen, der älter als 25 ist.
Der Genosse glotzt genauso verständnislos wie damals. Lapidar meint er, wann Sie Ihren Ehrendienst bei der Nationalen Volksarmee ableisten, das entscheiden doch nicht Sie. Sondern wir. Arschloch.
Damit ist klar, in dem Land werde ich kein Schauspieler mehr. Ohne Armee kein Studium, ohne Diplom kein Engagement. Simulieren liegt mir nicht. Aussichtslos, will nur noch weg. Fahre mit der Straßenbahn zurück zum Postplatz. Hinter dem Schauspielhaus das Bezirksamt. Auf dem Flur schreibe ich meinen Ausreiseantrag. Klopfe. Herein. Die Dame sagt freundlich, solche Anträge kann man überhaupt nicht stellen. Natürlich kann man, und ich lasse ihn auch gleich hier.
Ab jetzt wird mir besondere Aufmerksamkeit zuteil. Ständig muss ich antanzen. Meine Arbeitsrechtsverhältnisse nachweisen. Echt lästig. Noch leite ich die Großküche Conradstraße in der Neustadt. Mein Tag dreht sich um Erbsensuppe, Gummischürzen, Eisbeine, Kochkessel, Kippbratpfannen, Kartoffelschälmaschinen und Speisepläne. Mein Schreibtisch steht in einem Glaskasten. Sehe ständig durch die Fenster die Köchinnen im Wasserdampf. Verwalte die Zutaten, kalkuliere, telefoniere mich durch und organisiere den Einkauf. Kurz vor Mittag kommt eine Küchenhilfe mit einem kleinen Teller in mein Büro, ich soll vorkosten. Nippe am Tellerrand, es schmeckt scheußlich. Egal.
Wieder auf dem Amt. Zeigen Sie mal Ihren SVK-Ausweis. Arbeiten Sie noch in der Conradstraße? Ja, Mann, klar. Da gehen Sie jetzt raus und übernehmen oben auf der Südhöhe die kleine Kantine. Neubaugebiet Kohlenstraße. Raus aus dem Küchendunst? Sehr gern.
Mein neuer Arbeitsplatz ist eine zukünftige Dreizimmerwohnung. Im Erdgeschoss eines Plattenbaus, der gerade fertig montiert wird. Ich mag die Bauarbeiter, und die mögen meine belegten Brote. Die Spiegeleier, das Bauernfrühstück, den Gurkensalat, die Bockwürste, besonders die Soljanka. Mache die selbst aus Jagdwurst und Fleischresten, Letscho, Gewürzgurken, Zwiebeln, Paprikapulver edelsüß. Wenn der Lieferant die bestellten Zitronen dabeihat, gibt es eine Scheibe dazu, und Schmand mögen sie auch. Die wollen wissen, was ich eigentlich gelernt habe. Kaufmann! Dann lachen sie und sagen, ich auch. Immer, wenn eine Platte steht, zieht der Tross weiter zur nächsten Baustelle nebenan. Und während drüben die ersten glücklichen Familien durch den Schlamm waten und einziehen, verköstige ich schon wieder. In der nächsten Dreizimmererdgeschosswohnung. Auch hier schlagen die Schweißer und Kranfahrer mit ihren Helmen kräftig gegen die Wohnungstür, schon kurz vor acht: Smutje, mach das Brett auf, Hunger!
Der Teetrinker mit Anzug aus der Bauleitung bringt Sterne aus Pergamentpapier mit. Für die Fenster. Seine Frau hat übers ganze Jahr das Futter aus Briefumschlägen rausgetrennt. Für Weihnachtsschmuck.
Das mit dem Ausreiseantrag, das dauert mir inzwischen zu lange. Im Deutschlandfunk haben sie gesagt, dass die Nichte von Willi Stoph aus der Prager Botschaft direkt in den Westen gefahren ist. Das mache ich jetzt auch. Freitagnachmittag. Noch drei Tage bis Heiligabend. Nehme die Kaffeemaschine vom Netz, schalte den Bockwurstkessel aus, putze noch einmal durch. Die Kühltruhen bleiben an. Belege mir ein Brötchen, schließe ab. Dann zum Bahnhof. Wann fährt der Nachtzug nach Prag? Ist zu schaffen.
Zu Hause wird die kleine Reisetasche gepackt. Hemden, Unterhosen, Zahnbürste, Handtuch. Wie für ein paar Tage Urlaub. Zum Zeigen an der Grenze. Ausweis, ein paar Kronen von der letzten Reise in die Tschechei. Dazu Shakespeares »Sturm«, will im Westen mit dem Ferdinand vorsprechen. Ziehe die Wohnungstür zu. Keinen Zettel auf den Küchentisch. Die Nachbarin scheint schon zu schlafen. Kein Auge am Spion.
Auf dem Weg zum Bahnhof Schwibbögen hinter den Fenstern, Herrnhuter Sterne, Pyramiden. Kaum jemand unterwegs. Oberer Bahnsteig, der Zug ist pünktlich. Durch die rußigen Fenster kann ich draußen kaum was erkennen. Ab und zu Lichter. Ich kenn die Strecke, wir fahren an der Elbe durch die Sächsische Schweiz. Dann Grenze, Kontrolle, Ausweis. Wo wollen Sie hin? Nach Prag, Weihnachtsurlaub.
Im Morgengrauen kommen wir an. Scheißkalt hier. Nehme die Straßenbahn, auf die alte Seite. War schon ein paarmal hier, kenne die Gegend um die Burg ganz gut. Oben vom Petřín-Hügel ist die Villa mit der Deutschen Botschaft von hinten zu sehen. Mondäner Garten, hohe Zäune, keine Bewegung. Da muss ich rein. Laufe bergab, biege in die Gasse, wo der Eingang ist, sehe direkt vor der Botschaft zwei tschechische Polizisten mit den Hacken am Holzportal. Was ist das denn? Zu riskant. Ich gehe an ihnen vorbei. Ein paar Häuser weiter bergab das Sternenbanner über dem Eingang der amerikanischen Botschaft. Davor ein halbverschlafener Polizist in seinem Diensthäuschen und das Tor sperrangelweit offen. Schlendere durch den Eingang, als ob ich da zu Hause wäre. So fällt es am wenigsten auf.
Empfangstresen. Eine Dame kommt auf mich zu, ich zeig ihr meinen Ausweis. Gespieltes Lächeln, please, take a seat. Sitze jetzt schon ewig. Dann kommt einer und gibt mir einen fotokopierten Schrieb auf Deutsch: »Asyl und Beschützung unmöglich.« Da steht, die USA können nichts für mich tun. Außer, mich an die DDR-Grenze zurückzufahren, im Diplomatenfahrzeug. Aha. So einen Wisch bekommt wohl jeder in meiner Situation. Nein, ich bleibe auf amerikanischem Boden! Schweigen. Warum nicht next-door gegangen?, fragt mich der Amerikaner. Erzähle ihm von den Milizen, und er geht. Wieder nur warten, endlos. Denke an meine Eltern in Maputo, Mosambik. Pazifik.
Stunden später kommt er wieder. Mit dem deutschen Konsul. Sie bringen mich jetzt dahin, wo ich hingehöre, sagen sie. Mit dem Amerikaner links und dem Deutschen rechts geht es die Gasse hinauf. Rechts ein Gasthaus »Zum goldenen Arm«. Ich muss schmunzeln. Der Konsul sagt, sobald die Tür aufgeht, einfach durchgehen. Genau so wird’s gemacht. Erst Luke, dann Tür, dann drin. Na dann, herzlich Willkommen in der Bundesrepublik Deutschland. Und ich sage, meine Tasche ist noch bei den Amis.
Innen alles barock. Ein Botschaftsmitarbeiter erledigt die Formalitäten. Was wollen Sie im Westen? Studieren, sag ich. Er kann nichts versprechen. Sie tun, was sie können, aber ich soll mich nicht wundern. Da sind noch eine ganze Menge Landsleute. Wie bitte? Als er mich nach oben bringt, höre ich Sächsisch und Thüringisch. Ein paar Dutzend, schon seit Wochen da, meint er. Die Flure im ersten Stock sind vollgestellt mit Feldbetten. Mann, ist das eng.
Hallo, ich bin die Michaela, arbeite hier. Ich schaue und dann noch mal. Sie steht gut im Schuh. Dann weiter unters Dach. Wenige Schlafplätze, eine Matratze frei. Der ist gestern zurückgefahren. Na, dann. Mach mich lang, das erste Mal seit über dreißig Stunden. Im Halbschlaf ringsum lautes Atmen, dann Stöhnen. Wache auf, schaue über die Schulter rüber. Geht’s noch? Der Typ nebenan holt sich einen runter und sieht mich dabei direkt an. Dann ist er fertig und sagt, du, ich bin der Matthias. Fast hätte er mir noch seine benutzte Hand gegeben.
In der Küche unten gibt es belegte Brötchen und Joghurt. Und Filterkaffee. Dann in den Garten, eine rauchen. Der Typ auch draußen, sagt: Ich bin einer der Köche von Honecker in Wandlitz, Ausbildung im Palast der Republik. – Na toll. Höre ihm eine Zigarettenlänge zu, dann wieder rein. In die Bibliothek. Finde ein Gästebuch mit Einträgen glücklicher Ostfamilien, die es geschafft haben.
Endlich Kontakt zu Wolfgang Vogel, per Telefax. Michaela sagt, er diktiert die Preise für die verlorenen Töchter und Söhne der DDR. Egal ob Ärzte, Künstler oder Kleinkriminelle. Ich telegrafiere. Brauche die Zusage für eine sichere Ausreise. Sonst gibt es für mich keinen Weg zurück. In die DDR.
Jede Menge Kinder da. Warten, bis es dunkel wird, dann dürfen sie in den Garten. Ich komme im ersten Stock vorbei. Sehe ihre Väter. Die liegen den Tag über rum, auf Bundeswehrfeldbetten, als wären das Hängematten. Ein paar sind im Hungerstreik. Die Frauen tragen neue West-BHs aus der Caritas-Kleidersammlung. Die Pakete reißen sie immer auf wie die Blöden. Den Rest vom Tag sitzen sie rum, Lockenwickler im Haar und blättern in Illustrierten. Eine füttert die Münder der Männer mit Trauben. Nach dem Abendbrot stehen die Töchter dann bei den Jungs vom Bundesgrenzschutz im Hof. Westfluppen, Jim-Beam-Cola und Disko aus dem Kassettenrekorder. Gehe durchs Haus und sehe, dass die Hungerstreiker Proviant unter dem Bett horten und nachts Honig schlecken. So ist das also.
Nach dem Frühstück zu den Frauen vom Roten Kreuz. Beim Abwasch helfen, das kann ich gut. Sie reden über die Weihnachtsfeier. Kleine Geschenke haben sie schon, aber noch keinen Weihnachtsmann. Ob ich vielleicht …? Die Arme bis zum Ellbogen im Spülwasser, ein riesiger Tellerstapel neben mir. Mach ich! Die Deutschen haben kein Kostüm, aber die Amis nebenan helfen aus. Und irgendwann ist es da. Meine Tasche auch. Danke. Also: Santa Claus statt Ferdinand aus dem »Sturm«. Mein erster Auftritt vor großem Publikum, in Stiefeln, zwei Nummern zu groß. Schreiende Kinder, genervte Eltern, aufgerissene Pakete. Stress.
Zwischen den Jahren arbeitet die Kanzlei Vogel nicht. Die Warterei zerrt an den Nerven, zermürbt mich. Ich sage mir, Junge, du musst echt Geduld haben. Raus kannste nicht und ohne Zusage bringt auch nichts. Die anderen haben das Warten satt und reisen nacheinander ins Ungewisse. Straffreiheit haben sie ihnen zugesagt. Traue aber der ganzen Sache nicht. Hier raus? Erst wenn eine Ausreisezusage da ist, schriftlich. Silvester herrlich. Die meisten sind weg, die Kinder alle.
Ich bleibe. Am 15. Januar sind wir nur noch zu dritt. Da stellt sich ein Herr Salewski vor, Psychologe aus München. Erklärt jedem einzeln, wie schwierig die Situation für uns ist. Auch diplomatisch. Ob mir das überhaupt bewusst wäre? Der Typ noch jung, aber war schon bei der »Landshut«-Entführung im Tower von Mogadischu dabei. Stundenlang mit den Terroristen verhandelt. Und dass wir uns Westdeutschland nicht so einfach vorstellen sollten. Dann die Zusicherung. Dass die Regierung der Bundesrepublik alles tun wird, um meine Ausreise zu ermöglichen. Die Arbeit meiner Eltern in Afrika hätte keinen Einfluss darauf. Genauso hatte ich mir das vorgestellt. Also kann mich Dresden für ein kurzes Weilchen wiederhaben.
Am Hauptbahnhof erwarten mich zwei Herren. Verfrachten mich in einen Lada. Scheiße. Die haben mich verarscht, die Vernehmung ist im Knast. Aber sie sind zuvorkommend, fahren mich in gepflegtem Tempo durch die Stadt. Herkulesallee, Großer Garten.
Wir halten vor einer Jugendstilvilla. Innen fast leer, nur ein paar Stühle und Tische, Tonbandgeräte und Mikrophone drauf. Ich soll von meinem Aufenthalt in Prag berichten. Ok. Die wissen eh alles. Der Stasioffizier redet in einem gütlichen Ton auf mich ein: Ich entlasse Sie jetzt, reden Sie mit niemandem über diese Geschichte und verhalten Sie sich den Gesetzen der DDR entsprechend. Dann stehe ich draußen in der Januarsonne. Mit meiner Reisetasche.
Bei Katrin sind sie gewesen. Auch bei Biggi und Knut und all den anderen. Die Herren vom Geheimdienst. Wollten wissen, seit wann trägt er sich denn schon mit dem Gedanken? Was stört ihn denn so an der DDR? Erzählen Sie doch mal! Und wirklich nichts gewusst von seinen Plänen? – Wie denn? Ich hatte niemandem was erzählt. Keiner musste lügen. Ein paar Tage später weist mir die Abteilung Inneres eine Stelle zu. Als Finanzbuchhalter bei der Abwasserversorgung. Von meinem Schreibtisch aus den Blick auf das Standesamt, in dem meine Eltern geheiratet haben. In der Mittagspause gern im Mini Drink gegenüber vom Japanischen Palais. Kännchen Mokka, manchmal einen Toast Hawaii. Draußen läuft Katrin vorbei, sie sieht mich nicht.