So, da isse. Die Karte im Briefkasten. Laufzettel abholen, Stadtwerke, Sparkasse, Genossenschaft, Krankenkasse. Ob ich schuldenfrei bin? Bin ich. Hatte schon von der Prozedur gehört. Aber den Wisch nun selbst in der Hand, das ist schon was anderes. Na, dann dreh ich mal eine Runde. Aber nichts überstürzen.
Plötzlich alles so ultimativ. Der Mann bei den Gaswerken mustert mich: Verlassen wollen Sie uns? Er knallt den Stempel so auf den Zettel, dass die Tinte spritzt. Steige wieder aufs Rad, zum Wohnungsamt. Geschlossen. Also die Hintertreppe nach oben, als ob ich hierhergehöre. Die Zimmertür offen, die Frau hat es eilig, schaut mich kaum an, Stempel, Unterschrift und raus. Dann zu meinem letzten Vorgesetzten, Volkseigene Abwasserwirtschaft. Die verwalten die Kanalisation und alles, was durch die Gosse läuft. Gegenüber vom Standesamt, das Gebäude in erbärmlichem Zustand. Endlich nicht mehr ins ranzige Büro zu der Frau, die nie gelüftet hat. Abteilungsleiter hätte ich werden können. Danke, kein Interesse.
Schneller Mokka im Szeged. Mit den Leuten, die immer hier sitzen. Endlich den Laufzettel abgearbeitet. Nur noch zum Rathaus, Identitätsbescheinigung abholen. Als Zielort bei Abteilung Inneres »Berlin-West« angegeben. Behlert ist letztes Jahr rüber, hat meine Unterlagen bei der Kunsthochschule schon eingereicht. Er hat für mich unterschrieben, sonst schreibt er Gedichte. Seine Wohnung kann ich erst mal haben. Er hat ’ne neue Freundin in Steglitz, wohnt da. Stell mir das Rüberlaufen vor. Den Übergang an der Oberbaumbrücke kenne ich von der Ost-Seite aus. Da gehen nur Rentner oder Ausreisende durch. Und Tagestouristen aus dem Westen. Morgen Abend ich.
Lehne mein Rad unter einen der Löwen vorm Rathaus. Hoch zum Genossen Schurz. Gebe ihm den von Stempeln malträtierten Zettel, er gibt mir einen Schrieb. Darauf »Visum zur einmaligen Ausreise«, über Grenzübergangsstelle Gerstungen. Was? Ich fall ins Essen. Nie gehört, wo ist das denn? Mensch, will doch über die Friedrichstraße raus! Nee, geht nicht, Sie nehmen den Interzonenzug nach Frankfurt am Main. Wollen Sie jetzt raus oder nicht? Er gibt mir die Hand. Wünscht mir eine gute Reise. Der einzige Genosse mit ehrlichem Händedruck und offenem Blick, den ich je getroffen habe.
Unten wartet sie. Bettina, meine Schöne. Will es nicht wahrhaben, hat wohl gedacht, der Typ geht am Ende doch nicht. Auf keinen Fall. Sie fragt … ja …? Wortloses Nicken. Aus dem Nichts kommt eine Backpfeife. So schnell kann ich gar nicht gucken. Ihr ausgestreckter Arm steht noch immer in der Luft. Dann dreht sie sich um und läuft einfach los. Stehe noch völlig perplex da. Soll ich jetzt oder nicht und überhaupt? Ich in der anderen Richtung ums Gebäude herum, auf der Rückseite treffen wir uns wieder. Sie breitet ihre Arme aus, ich zucke kurz. Weiß nicht, was kommt. Dann umarmt sie mich. Sagt nichts mehr und geht.
Ich nehme mein Rad, tschüss Löwe. Nach Hause. Packe ein paar Klamotten in die Reisetasche, »Kabale und Liebe« noch dazu. Die meisten Sachen längst verschenkt. Bringe die Küche in Ordnung. An Schlaf nicht zu denken. Früh die Wohnungstür zum letzten Mal hinter mir zuziehen, Schlüssel in den Briefkasten.
Fahre zum Delikat, dem Fresstempel. In den Drahtkorb kommt Kaviar, Lachs, Sekt, schweineteuer. Wohin sonst mit dem übrigen Geld?
Den besten Freund noch einmal besuchen. Knut liegt noch in der Kiste, als ich reinkomme. Wie gern wäre er Maler. Alle sind im Westen, und jetzt gehe ich auch noch. Alle verlassen diese Stadt, da kriegt man doch den Blues. Wir frühstücken, rauchen, hören The Clash wie so oft. Reden wie immer, als ob wir uns morgen oder übermorgen wiedersehen würden.
Und dann ist es Abend. Drei viertel elf fährt mein Zug nach Frankfurt am Main. Knut bringt mich, Bahnhof Dresden Neustadt. Wir haben noch Zeit, also kurz in die Mitropa rein, Bier holen. Dann zur Rampe. Bei den Russen, da, wo sie sonst Panzer verladen. Wenn keiner da ist, kann man hier gut sitzen. Wir sind ganz schön erschöpft. Heul bloß nicht rum, wenn der Zug abfährt, sage ich. Dann müssen wir los. Nicht heulen! Große Umarmung, er haut mir kräftig ins Kreuz. Tu nichts, was ich nicht auch und so.
Suche mein Abteil, Fensterplatz, gegen die Fahrtrichtung. Knut draußen, verzieht keine Miene, standhaft. Danke. Schrilles Pfeifen, der Schaffner knallt die Wagentür zu, und der Zug ruckt an. Blick auf den Boden. Will nicht durch verdreckte Scheiben auf Dresden schauen und mich jede Sekunde für immer verabschieden. Aus dem Augenwinkel vier Beinpaare, alte Damen unterhalten sich leise darüber, was sie ihren Enkeln aus dem Westen mitbringen sollen. Von Biggi habe ich mich nicht verabschiedet, keinen Bock auf den letzten Metern auf den Genossen Gemahl. Bin müde, sehe wieder die Knie und die Röcke.
Die Abteiltür wird aufgezogen, so schnell Kontrolle? Schaue rüber, da steht sie, eine Hand am Griff, eine am Türrahmen. Was? Bettina? Wie kommt denn die hierher? Ich hatte wirklich geglaubt, dass die Backpfeife vom Rathaus unser Abschied war? Da steht sie immer noch. Träum ich jetzt, oder was ist los? Drücke mich zwischen den Knien der Omas zur Tür durch, wir gehen zwei Abteile weiter, leer, ziehen die Gardinen zu, küssen uns. Wie sie mich anschaut. Komm mal raus hier! Mann, wickelt die mich ein. Wir brauchen ’ne Ecke, die wirklich ungestört ist, und sie geht schon mal vor. Richtung Reichsbahnklo. Tür auf, der Deckel steht offen, unten an der Klappe hängt noch Scheiße. Ich knall ihn zu. Sie setzt sich aufs Waschbecken. Kurz vor Leipzig sind wir fertig, im Spiegel mein Gesicht. Dann steigt sie aus. Sagt nichts, dreht sich nicht um. Am liebsten würde ich immer noch mit ihr gehen.
Zurück im Abteil fallen mir die Augen zu. Kurz die Lider hochgeklappt, was ist das denn? Gegenüber eine junge Frau. Die muss in Leipzig eingestiegen sein. Fährt bestimmt nur bis Erfurt, wohl kaum über die Grenze. Sie schaut mich an und meint: Mann, siehst du geschafft aus, ich hab meine Tanten im Osten besucht, mir geht’s nicht besser.
Dämmere weg, wache auf. Eisenach. Unter dem Zug klopft es ständig. Wir stehen ewig. Eine Oma raunt, jetzt suchen sie wieder jemanden. Schritte auf dem Gang, ein Grenzer reißt die Abteiltür auf. Hinter ihm einer mit Bauchladenbüro, ein aufgeklappter Schreibtisch mit Stempelkissen. Hab gar nicht gemerkt, dass wir wieder fahren. Jetzt sammelt er nacheinander die Pässe ein. Erst die blauen von den Omas, mit Hammer, Sichel und Ehrenkreuz. Dann den grünen von der Kleinen gegenüber. Ich reiche ihm mein Faltblatt mit Passbild und Visum. Anschauen soll ich ihn. Ja, is ja gut. Er braucht noch einen Moment, dann drückt er den Stempel auf die Rückseite meiner Identitätsbescheinigung. Preuss können wir abhaken in der DDR. Der ist raus.
Kaum sind sie weg, reißt wieder jemand die Tür auf. Eine Frauenstimme. Haben Sie was anzumelden? Nö. Denken die, ich sitz auf fünfzig Gläsern Spreewaldgurken? Dann fährt eine andere aus der Zollabteilung mit einem zu groß geratenen Zahnarztspiegel auf Rollen unter den Sitzen lang. Hier ist nichts. Dann ziehen sie ab ins nächste Abteil. Wir halten wieder, ich lese Ger-stung-en. Die Uniformierten steigen aus. Mensch, wie lange stehen wir hier noch im Niemandsland, verdammt nochmal? Wollen die hier umspuren? Wie nach Russland? Oder verarschen die mich doch noch? Die Kleine gegenüber von der Stasi? Hab ich zu viel erzählt? Es rumpelt. Ach so. Die haben die Lok gewechselt.
Wir fahren wieder an, Schritttempo. Der Grenzstreifen taghell, Wachtürme, Panzersperren in geharktem Sand. Hinter dem Zaun tiefschwarz. Wir sind durch.
Die alten Frauen sind urplötzlich munter, ausgelassen, machen Scherze. Eine holt einen Eierlikör ohne Etikett raus, die Flasche kreist. Wo fährst ’n eigentlich hin?, fragt die gegenüber. – Gießen, Notaufnahmelager, zu den Amis, Franzosen, Engländern, alles furchtbar. Soll mich beim Diakonischen Werk melden. Aber ich will doch nur nach Westberlin! Sie lächelt, meint: Ich steige in Fulda aus, studiere da. Du siehst aus, als könntest du ’ne Mütze voll Schlaf gebrauchen. In meiner WG ist noch ein Zimmer frei. – Was? – WG, Wohngemeinschaft! – Kenn ich nicht. Aber ich muss doch … – Gar nichts musst du. Kannst einfach mit mir aussteigen und dich ausruhen. Gießen musst du gar nicht oder später, aber jetzt schläfst du erst mal.
Es dämmert, wir steigen aus, die Wohnung nicht weit vom Bahnhof. Sie zeigt auf eine offene Tür. Der ist gerade nicht da, das Bett kannste haben. Es ist sechs Uhr früh, 1. September 1985, mein erster Tag im Westen bricht an. Ich verschlafe ihn völlig, wache gegen Mitternacht auf. Sie aus der Küche: Achtzehn Stunden hast du durchgepennt, ich hab mir echt Sorgen gemacht. Bin immer wieder in dein Zimmer, atmet der noch? – Wir lachen. Sie gießt Rotwein ein. Sitzen und reden bis zum nächsten Morgen. – So, jetzt streichst du mal das Wort »müssen« aus deinem Vokabular, meint sie irgendwann, denn hier musst du gar nichts. Frühstücken vielleicht.
Und dann kommt ihr Freund, wir am Tisch. Wie ist denn das mit der DDR?, fängt er an. Und wieso und wohin und was machen die da und überhaupt. Gegen Mittag ein Vorschlag: Wollen wir zum Monte Kali? Noch nie gehört. Nach ’ner Stunde Fahrt sitzen wir auf einer Wiese, unter uns ein Dorf, vor uns ein unwirklicher Berg. Dahinter die Zonengrenze, meint er. Er dreht sich eine Zigarette, krümelt was rein, die beiden ziehen. Ob ich auch mal will? – Nee. – Los, zieh doch mal, da is’ was drin. – Wie, was drin? – Gras, grinst er. – Keine Ahnung, aber ich ziehe, und wir sitzen dann so eine Weile nebeneinander. Ich schaue auf den Berg, so müssen die Alpen aussehen. Er sagt, das ist alles Salz.
Ich frage, bist du sicher? Ich finde den Berg klasse, aber nun zieht es mich weiter. Musste nicht, meint sie. Aber wenn du willst, dann fahr. Bloß nicht mehr heute.
Mit dem Zug nach Gießen. Zum Notaufnahmelager. Brauche Stempel von allen Alliierten. Lange Gebäude. Vor den Eingängen Schlangen von Leuten. Lesen das Goldene Blatt. Im Vorbeigehen höre ich: Apfelshampoo, Bier, Italien, Spanien, Automarken und welche Sorten Fruchtjoghurt es hier gibt. Was ein Scheiß.
Die Zeit ist kostbar, ich durch die Seitentür. Direkt vors Büro der Amerikaner. Ein Ostler kommt raus mit schlechter Laune. Ich rein, schließe die Tür hinter mir. Was sind das wohl für Leute, die den ganzen Tag Flüchtlinge registrieren?, denke ich. Der Ami schaut erst freundlich, dann irritiert: Ihr Vater war in Brasilien, im Libanon, in Kolumbien und ist jetzt in Maputo? Was ist denn das? Dann muss er doch ein famous East German sein und relevant for us, suspicious. Er zieht ein dickes Buch aus dem Regal hinter sich. Ich sage, brauchen Sie gar nicht aufzuschlagen, Papa ist nicht in der Partei. – No, not in the Communist Party? Stasi? – No, nüscht. Er findet nichts unter P, knallt den Stempel auf meine Papiere. Good Luck. Muss noch zu den Briten und Franzosen. Bei den Deutschen gibt es die Arbeitslosmeldung und hundert Mark Willkommensgeld von der Kirche.
Endlich draußen, ein Bus fährt vor. Dürre, gebeugte Gestalten kommen raus, halten sich an Jutebeuteln fest. Gespenstisch. Einer kommt mir bekannt vor. Aber der ist doch viel älter als der, den ich meine. Er kommt zögerlich auf mich zu: Kennste mich noch? Thomas, hab in der Winzerstube am Neustädter hinterm Tresen gestanden. – Also doch. Sieht der schlecht aus, ihm fehlen ein paar Zähne. Skorbut oder ausgeschlagen. Kommt direkt aus dem Knast in Karl-Marx-Stadt, sagt er. Heute Morgen noch Dunkelarrest, Schläge von den Wärtern. An der Grenze eine Tasche mit Südfrüchten. Er hat noch nichts davon angerührt. Wusste nicht, wie lange es dauert, bis er wieder was bekommt. Ich lege die Hand auf seine Schulter, jetzt hast du es geschafft. Er lächelt schief: Die wollten ständig wissen, worüber ihr in der Winzerstube redet. Das hab ich nicht mehr ausgehalten. – Dann reiht er sich wieder ein. Beim Roten Kreuz gibt es Kaffee und belegte Brötchen für die freigekaufte Busladung.
Gehe zur Haltestelle vor dem Lager. Am Pförtner vorbei, schönen Feierabend. Kann endlich weiter nach Frankfurt am Main. Ein Flugticket in der Tasche. Transit durch die DDR ist erst mal nicht mehr, haben sie mir gesagt. Vor mir quietschen Reifen, ein Cabrio. Zwei Männer, der Beifahrer springt aufgeregt raus. Moment mal, den kenn ich doch? Don Carlos! Was macht der denn hier? Den kenn ich doch aus Dresden. Immer die Hauptrollen am Schauspielhaus. Er hat es eilig, erzählt kurz. Vor sechs Stunden in Salzburg losgefahren. Gastspiel. Die Kollegen schön brav zurück in die DDR. Die Abendvorstellung dort spielt er heute nicht.
Internationaler Flughafen Frankfurt. Echt groß. Zum ersten Mal als Bundesbürger durch die Kontrolle. Die Maschine hebt ab, dreht. Ich sehe den letzten Rest Sonnenlicht am Horizont. Irgendwann fragt die Stewardess, was darf ich Ihnen anbieten? Unter mir die DDR, vor mir Berlin-West.