Wieder eingeschlafen. Mit dem Hörer. Satte Telefonrechnungen die letzten Monate. Die lange Vorwahl war immer Osten. Im Hygiene-Museum kann ich sie direkt erreichen. Die Geliebte. Klappt ohne Anmeldung für Westgespräche. Nullapparat. Keine Vermittlung, sie ist einfach dran. Stundenlang geht das. Dann kann ich sie in der Pförtnerloge sitzen sehen, eine Tischlampe das einzige Licht im riesigen Foyer. Ein aufgeschlagenes Buch. Manchmal liest sie mir einfach vor. Gedichte, die ihr aus der Seele sprechen.
Gestern waren wir verzweifelt. Dieses System und die Mauer sind einfach nicht für uns gemacht. Für wen überhaupt? Hinter ihr die Schlüssel im Schrank. An jedem eine Marke mit eingestanzter Nummer. Im Seitenflügel der Radiosender Dresden mit Wachmann vorm Eingang. Ja, den Ausblick kennst du noch, sagt sie. Du hast mit mir die Nachtschicht geteilt! Im Frauenruheraum. Oder die Runde mit mir gedreht. Aufschließen, Licht an, alles in Ordnung. Wieder raus und weiter. In den Räumen mit allerhand in Formalin haben wir genauer hingeschaut. Und wieder in die Pförtnerloge. Sie redet und redet, weil sie auch nicht weiß, wie das alles gehen soll. Ich noch weniger. Nächste Woche treffen wir uns wieder, in Prag. Bis bald, Liebste!
Vorher noch zur Jebensstraße. Gleich vorn warten die Jungs auf Freier. Hinten die Bahnhofsmission. Ich muss gegenüber in den zweiten Hinterhof. Vielleicht genehmigen die Herren aus Ostberlin diesmal den Transit durch Sachsen. Zum x-ten Mal beantragt, vielleicht rutsch ich diesmal durch. Warten auf den Aufruf. Einer der Genossen in den braunen Uniformen winkt mich an seinen Tisch. Ich trete ran. Ein improvisierter Schalter. Er sitzt, ich stehe. Setze gerade zu meiner Frage an, da kennt er sie schon. Sein Standard folgt: Nicht genehmigt. Warum, dazu kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben. Der Nächste, bitte!
Raus. Über die Hardenberg Richtung Amerika-Gedenk-Bibliothek. Zwischen den Fahrbahnen ein Geländer. Kurzer Satz drüber und rein ins Pressecafé. Erst mal verdauen. Die verbale Abfuhr. Auch sein Grinsen beim auswendig aufgesagten Spruch. Der letzte Hocker am Fenster ist noch frei. Kännchen Mokka und das schöne Gelb der Reifenreklame aus den Fünfzigern an der Brücke. Oben fährt eine S-Bahn ein. Jetzt kommt die Durchsage vom Bahnsteig, Bahnhof Zoo. Auf einmal höllischer Lärm drunter. Ach, die Arbeitsbrigade, die für mich keinen Stempel hatte, biegt ein. Feierabend für heute. Der Barkas hat rot. Aus dem dünnen Auspuffrohr eine blaue Rauchwolke. Da sitzen sie in ihren halb ausgezogenen Uniformen auf den Rückbänken. Vorn der Fahrer über dem Zweitakter. Von hier aus immer ein Vergnügen dieser Anblick. Wie aus der Zeit gefallen. In den Seitenfenstern vom Kleinbus die Einkäufe in Plastikbeuteln an den Mantelhaken. Zu Aldi schaffen sie also ihre Spesen. Klar, gleich um die Ecke. Grün. Sie knattern los Richtung Grenzübergang. Und sofort Vollbremsung. Alle Insassen gehen Richtung Frontscheibe und richten sich dann wieder auf. Der Junkie wäre ihnen fast vor den Kühlergrill gelaufen.
Ich muss also wieder außenrum nach Prag fahren. Vier Stunden länger, wegen der Willkür beim Antrag fürs Transitvisum. Das nervt. Gelinde gesagt! Aber was soll’s. In der Sophie-Charlotte Kleinigkeiten gepackt und los. Das Treppenhaus mit Sprüchen und Plakaten voll. »Bum Bum Boris« ist neu. Im Erdgeschoss am geklauten Heizmaterial vorbei. Wo fährst du hin?, fragt Fred. – In den Osten. – Grüß mal!
Auffahrt Messedamm und auf der Avus zum Übergang Drei Linden. Rennstrecke für die Eingeschlossenen. Die Westberliner Beamten in verglasten Zollhäuschen. Freundliches Durchwinken. »Sie fahren weiter durch Deutschland« steht auf einem Schild. Dabei wissen sie genau, dass die Ostler das anders sehen. Dann ein Stück Niemandsland und Schlange stehen. Sitzend. Vor mir das Lenkrad. Auf der Ostseite sammelt einer schon vorher die Pässe ein. Kurz durchblättern, wichtig tun und das Fahrzeug in Augenschein nehmen. Gleich wird er eine von den vielen Klappen öffnen. Die Pässe legt er auf ein überdachtes Förderband in Schnellhefterbreite. Damit sie noch vor dem ranrollenden Wagen in der Grenzbaracke ankommen. Erfinderisch sind sie. Aber die Abfertigung! Dreifache Zeit. Das dauert und dauert.
Ich soll vorfahren. Jetzt tut er so, als sei mein Pass gerade erst angekommen. Er schlägt ihn auf. Von der Seite mit dem Passbild macht er eine Kopie. Dann seelenruhig durchblättern. Mit der Daumenkuppe schiebt er die einzelnen Seiten um. Sie knicken leicht ein. Stempel aus fernen Ländern entdecken. Und dann der Blick, wenn er beim Geburtsort ankommt. Er schaut mir in die Augen. Verständnislos. Und reicht das Dokument mit ausgestrecktem Arm zurück. Fast bis zur Seitenscheibe. Das dauert wieder, bis die Schranke aufgeht. Endlich. Feststellbremse lösen. Das satte Geräusch der Feder, die sich entspannt. Ein kurzes Mundwinkelhoch beim Uniformierten. Gute Weiterfahrt! Und dann gepflegt aufs Gaspedal. Durch die alte Heimat.
Irgendwann ist die Hälfte geschafft. Hermsdorfer Kreuz, rechts raus. In der Herrentoilette Westmark wechseln. Für ’ne Stange Club. Routine oder Ritual – egal! Vertrauten Dialekt hören tut auch gut. Danach Kassette im Autoradio, Love Hurts. Langsame Runde in der Schuldisko. Mach’n Se mal leiser bei der Passkontrolle. Blicke nur auf seine Uniformknöpfe. Ich soll ihn anschauen. Lassen Se mal ein neues Passbild machen. Kurzer Fingerzeig. Seine Hand tut nur das Notwendigste. Fahr’n Se weiter! Endlich Rasthof Frankenwald. Bier mit Aussicht auf vier Spuren. Und weiter geht’s.
Kurz vor Bayreuth runter von der Autobahn. Dann das dritte Mal Grenzanlagen. Familie? Ich lächle kurz. Die Tschechen wissen genau, was kommt. Alles, was hier vor oder hinter mir ein Visum vorzeigt und gestempelt kriegt, trifft sich mit den engsten Freunden. Oder Verwandten.
In Prag ist das Gleisbett der Straßenbahn asphaltiert. Die Bahn das gleiche Modell wie in Dresden. Sonst ’ne Menge Kopfsteinpflaster. Ich fahr Richtung Troja. Gleich um die Ecke der Zoo. Vielleicht ist Emil wieder in der Küche von Frau Petrovka, unserer Vermieterin, und erzählt. Vom Olympiasieg, und mit welchen Schuhen er damals über die vierzig Kilometer gerannt ist. Das letzte Mal kam er auch rüber. Der hat alles gewonnen für unser Land, sagte sie, und dann haben die ihn kaltgestellt. Die Funktionäre. Nach den Protesten ’68 auf dem Wenzelsplatz. Sogar Bergwerk als Strafe. Und später Zeugwart, als Rentner. Seitdem hält er den Sportklub in Ordnung. Ganz hinten, am Ende der Straße, meint er. Und das als Weltrekordler. Er zwinkert. Was dazu verdienen. Muss sein. Kein langer Arbeitsweg. Auch gut. Erzählen macht ihm Spaß. Wenn er mit dem verschmitzten Gesicht nicht weiterkommt, dann eben mit Händen und Füßen. Emil geht ans Herz. Zátopek, den Namen kannte ich schon lange.
Endlich im Zimmer. Klar war sie kurz vor mir rein. Sitzt auf dem Bett. Die Haare kürzer, steht ihr gut. Ein Moment Sprachlosigkeit. Wie immer. Keiner von uns beiden hat Hunger. Morgen früh mal in die Stadt, vielleicht. Und später hatten wir vergessen, wo das Kopfende war.
Zusammen aufwachen auch schön. Wie immer. Und dann kommt wie aus dem Nichts der Vorschlag: Wir gehen heut Abend zum Kunsthochschulfasching in Dresden. Wie bitte? Ja, wir müssen über die Sächsische Schweiz, das geht. – Wir beide? – Ja. – Aber du weißt doch, dass ich nur ein Visum für hier habe. – Macht nichts. Hier ist die Wanderkarte. – Und die kenn ich doch! Von Vati aus der Schrankwand, im untersten Schieber. Da hatte er seine Sammlung. Auffalten und gut lesen musst du sie können, hat er gesagt. Jeder Weg hat eine eigene Farbe. Und hier ist die Legende, alle Zeichen erklärt.
Bei Tageslicht trau ich mich nicht an die Grenze. Ich auch nicht, sagt sie. Aber in die Nähe fahren geht doch. Wir nehmen den Vorortzug bis zur Endstation! – Und dann? Es hat geschneit, wir sind doch ein leichter Fang in unseren Klamotten. Bin wirklich nicht ausgerüstet für eine Wanderung. – Ich vielleicht?, fragt sie. Los komm. Weißt du, wer heute Abend da sein wird? Jetzt fängt sie an, Namen aufzuzählen. Wie Tischkarten bei einer Hochzeit. Auf alle würde ich mich freuen. Also los!
Am Bahnhof Dolní Žleb raus und umschauen. Den Bahnsteig haben wir schon mal für uns allein. Der Himmel verhangen. Hinter dem Gebäude ein Weg, der bergauf führt. Noch mal prüfen, was hinter uns ist. Wir sind die Einzigen, die Richtung Waldhang wollen. Ständig dieses Umschauen. Aber da folgt uns keiner. Wir müssen weiter, sagt sie. Es dämmert. Meine Füße fangen an zu frieren. – Das liegt an der Durchblutung, Bewegung hilft. Dabei lächelt sie kurz. Ausruhen können wir uns, wenn wir oben sind! Der Aufstieg dauert eine Stunde. Rein in den Wald und ins Zwielicht. Es wird immer unheimlicher. Kein Mensch, ab und zu ein aufgescheuchter Vogel. Unter dem Schnee manchmal ein fließendes Bächlein. Gefrorenes Laub reißt in dicken Stücken unter den Sohlen weg. Wir verlieren den Boden unter den Füßen. Sie fängt sich gerade noch, das war knapp. Glück gehabt. Fast wäre sie mir aus den Händen gerutscht. Unten der Flusslauf der Elbe wie im Spielzeugland.
Vor uns das große »POZOR« auf dem Grenzschild der Tschechen. Die Atmung wird schneller. Nur nichts überstürzen. Kurz in die Augen schauen. Sie ist so sehr bei der Sache. Noch mal innehalten, konzentrieren und weiter. Wie die Roten Bergsteiger gegen die Faschisten. Das war Schulstoff. Genau! Flugblätter bringen wir rüber und eine Schreibmaschine, haben wir uns eingeredet. Wir sind fast durch. Nach ein paar Metern der Grenzstein mit den drei Buchstaben. DDR. Weiter geht’s. Es wird heller, der Mond kommt raus. Der Waldsaum ist schon fast Erleichterung. Der Zirkelsteinstein! Müssen wir rechts vorbei. Da unten ist Licht, da müssen wir hin. Abwärts rutschen wir ständig aus und schieben beim Bremsen Kleingeröll vor uns her. Der Weg wird breiter, eine Lichtung und plötzlich freies Feld. Wieder alles offen. Wie zum Abschuss freigegeben.
Da knattert was in einiger Entfernung. Ist nichts, sagt sie. Das müssen Güterwagen sein. Wieder Ruhe. Wir hören nur noch, was dazugehört. Der Forstweg führt ins Dorf. Nicht mehr weit. Auf einmal zwei Autoscheinwerfer. Wir sind kurz wie versteinert und ducken uns ab. Hat uns jemand gesehen und verpfiffen? So schnell vorbei? Alles? Da steigt jemand aus und läuft los. Nichts Genaues zu erkennen im Gegenlicht. Jetzt knallt eine Tür, und das Licht geht aus. Was ist das? Auf dem Autodach ein Taxischild. Kein Traum. Gar nicht schlecht. Wir gehen einfach los, das müssten zweihundert Meter sein. Wenn nicht jetzt, wann dann? Endlich wieder grader Rücken.
Wir kommen näher, aber keiner ist zu sehen. Sind jetzt schon fast am Wagen, da hören wir Geklapper aus einer Garage. Was wir hier machen?, fragt der Mann, völlig schockiert. Verlaufen, sag ich. – Ach so, ja. Am Gelobtbach kommt man durcheinander. Kein Wunder, bei dem Wetter! – Wart ihr wirklich wandern? – Können Sie uns fahren? Wir müssen nach Dresden. – Kurze Pause. – Ich hab Feierabend. Wenn überhaupt: Königstein. Wir sitzen hinten. – Die Heizung dreh ich mal voll auf für euch. – Ich amüsier mich über seinen Dialekt. Der eigentlich auch meiner ist. Eigentlich. Unsere Hände gehen zusammen. Das Beste, was uns passieren konnte, ist diese Kutsche, in der wir sitzen und chauffiert werden. Sechzehn achtzig. Ihr habt nur noch Kronen? Ich glaub, mein Schwein pfeift! – Zehn West gehen auch? – Jetzt dreht er sich zu uns um. Kurz die Blicke gehalten und dann: Nu klar.
In der Deutschen Reichsbahn nach Dresden. Ich sauge alles rechts und links auf. Lange nicht mehr hier gewesen. Mit der Straßenbahn zum Fetscherplatz. Wir fühlen uns verdammt sicher. Hoch in die Wohnung. Susanne wusste, dass wir kommen. Aber so pünktlich! Riesenfreude. Also los, sagt sie, ran an die Schminkstifte! Und bei dir, Uwe, hilft nur die Vollmaske. Sie holt aus der Küche eine Papiertüte, zwei Augen ausgeschnitten. Ich schau mich um. Alles noch so, wie ich es in Erinnerung hatte. Aber erst mal auf den Weg machen. Im Dunkeln durch Dresden. Immer schön. Brühlsche Terrasse. Kunsthochschule. Alle wollen rein, Riesenschlange. An der Tür ein kurzes Gedrängel. Wir sind drin.
Die Gänge und die offenen Ateliers zugehängt mit bemaltem Packpapier. Unter der Decke angefangen, meterlang. Leinwände. Vorhänge. Skulpturen oder Entwürfe davon. Die Bühne im Foyer. Die offizielle. Flanieren ist angesagt. Auf der Treppe zum Aktsaal schneidet eine im schwarzen Anzug Eier und rohen Fisch an der Tischkreissäge auf. In den schwer einsehbaren Ecken Matratzen. Da wird rumgelümmelt. Und wer will, genießt da eben mehr. Nichts Neues, so war es immer hier. Die langen Flure voller Leute. Ständig kenne ich jemanden, der mir entgegenkommt. Vorbeilaufen und nicht grüßen. Ein komisches, fast unangenehmes Gefühl. Aber was soll ich machen? Einmal stehen wir rum, und Falk fragt, wer denn unter der Maske steckt? Venezianisch für Arme. Alle lachen. Jetzt werd ich zur Seite genommen. Wir gehen ins Obergeschoss und haben uns. Nicht komplett, ich bin zu aufgeregt. Wieder rein ins Getümmel. Das macht Spaß. Inkognito auf der Tanzfläche. Gute Musik, ich geb mein Bestes.
Katrin kommt auf mich zu. Bis ran an mein Ohr. Bist du das wirklich? Ich weiß doch, wie du tanzt. Kurzer Schreck und schnelle Antwort: Kann sein, aber halt die Klappe! Sie ist völlig perplex. Ich sag noch: Wir sind seit zwei Jahren kein Paar mehr. Mach bitte keinen Skandal. Dann dreh ich eine Runde durchs Haus. Ständig Gegenverkehr. Total überfüllt. In jedem Raum andere Musik. Diese Art Ausgelassenheit fehlt mir, seit ich in Westberlin bin. Da ist sie ja wieder, die Geliebte! Hab dich gesucht, sagt sie. Und sofort darauf: Wollen wir zu mir? – Klar, wohin sonst?
Wir machen uns auf den Weg. Schweigend. Kurz vor der Haustür meint sie: Das könnte immer so sein. Dass du hier bist. Im Treppenhaus müssen wir kichern. Ich zähle die Stufen lautlos. Endlich wieder in ihrem langen Flur, hinten links die Küche. Die Duschkabine steht immer noch. Nachdem wir uns hingelegt haben, wird mir klar, wie erschöpfend das Glück sein kann.
Ich werde wach. Da war was. Die Wohnungstür! Sie steht auf und schaut nach. Der Ex hat noch den Schlüssel. – Ist auf der Durchreise, hat er gesagt. Er weiß jetzt, dass du da bist. In aller Frühe wird er wieder weg sein. – Mir fallen die Augen zu. Eine Straßenbahn hält unten am Fetscherplatz. Das bekannte Klingeln, bevor sich die Türen wieder schließen. Bald ist wieder Stille.
Bilder der letzten Stunden rasen durch den Kopf. Ich kuschel mich ran. Wieder ein Geräusch. Jemand geht den Flur entlang. Die Dielung meldet sich, und die Wohnungstür fällt ins Schloss. Wir sind sofort hellwach. Der Ex ist noch mal raus. Vielleicht kommt er überhaupt nicht wieder, beruhigt sie. Endlich schlafen. Kurz vor träumen.
Es klopft. Das klingt dringlich. Sie geht raus und öffnet. Deutsche Volkspolizei. Oberwachtmeister Dietz usw. Hier soll sich der Bürger der BRD, Herr P., unerlaubt aufhalten! Durch den Türspalt seh ich Umrisse der Vopos. Und sie. Nackt. Dürfen wir mal nachschauen? Sie fängt im Zimmer gegenüber an. Licht an, lässt sich Zeit. Da ist niemand. Weiter die Türen im Uhrzeigersinn. Noch dreimal Licht an und aus. Ich zieh die Bettdecke straff und täusche ein gemachtes Bett vor. Ich darunter. Flach wie eine Flunder und die Luft angehalten. Jetzt sind sie hier. Auch keiner im Zimmer, hör ich, und weg sind die Typen.
Jetzt geht alles ganz schnell. Lautlos anziehen. Pass mit Visum geschnappt und raus hier. Sie horcht im Treppenhaus. Alles sauber. Licht bleibt aus und zum Hintereingang raus. An den Aschetonnen vorbei in die Nachbarvilla. Die Haustür offen. Im ersten Stock hat Taucher sein Atelier. Da können wir rein. – Nein, du bleibst hier sitzen, auf halber Treppe davor! Und wartest auf mich! Ich komm gleich wieder. Klar? – Ich nicke. Sitz hier schon eine gefühlte Ewigkeit. Mir ist kalt. Ich bin müde.
Da kommt sie. Wir müssen ein Auto besorgen und so schnell es geht zurück an die Grenze. Grüni hat doch den Trabi. Den holen wir uns. Wir laufen los. Die ganze Pillnitzer durch. Bei jedem Motorengeräusch bleiben wir stehen und schauen uns um. Keine Streifenwagen in Sicht. Alles Frühaufsteher, die zur Arbeit fahren. Im zweiten Block nach der Blochmann die Wohnung meiner Eltern. Auch noch dunkel. Gleich geschafft. Wir stehen vor der 4, das Auto im Parkhafen. Wachklingeln und hoch. Sie kommt mit einem Schlüsselbund zurück. Genial.
Benzinhahn auf, der Motor kommt auf Touren. Wohin eigentlich? Die Scheiben beschlagen, ich muss ständig wischen. Sie fährt. – Wir müssen bis kurz vor Zinnwald. Da läufst du über die grüne Grenze. – Wie soll das gehen? Dunkle Sachen an, Schnee liegt auf jeden Fall in dieser Höhe. Wir werden ja sehen. Die Transitstrecke nach Prag ist geräumt, aber die Kälte im Wageninneren nicht auszuhalten. Keine Handschuhe, die Finger werden steif. Weißt du, sagt die Geliebte, warum es so lange gedauert hat? Sie sind noch mal gekommen. Zu sechst. Und haben die Wohnung auf den Kopf gestellt. Der Ex hat unten vor der Haustür immer wieder behauptet, der P. ist da oben. So lange, bis sie Verstärkung geholt haben. – Sind die nicht ums Haus gelaufen und haben die Spuren gesehen? – Weiß ich nicht, ist mir auch egal jetzt. – In Kipsdorf an der Villa Marienruh vorbei. Der Heizkessel im Keller war mal mein Revier. Da ist es jetzt bestimmt ganz gemütlich.
Wir kommen in Zinnwald an. Jedes zweite Schild weist Richtung Grenzübergang. Wir nehmen den letzten großen Parkplatz davor. Motor aus und Zeit für uns. Auf der anderen Straßenseite beginnt ein freies Feld. Mitten drauf das Grenzschild der Tschechen. Vielleicht zweihundert Meter weiter ein Fachwerkhaus. Da brennt Licht. Ein Wohnhaus, sage ich, da muss ich hin, dann bin ich raus hier. Aber jetzt, wo ich weiß, wo ich hin muss, will ich einfach bleiben. – Das geht nicht, du musst! – Auf einmal ein Kommen und Gehen neben uns. Ist das der Schichtwechsel? Unsere Scheiben von innen beschlagen, aber keinen kümmert’s. Es wird ruhig. Niemand mehr unterwegs, oder noch nicht. Wir halten uns fest und wollen nicht loslassen.
Ich lauf jetzt einfach los. Über die Straße in den Graben und über das verschneite Feld. Ich dreh mich einfach nicht mehr um. Habe Bilder im Kopf wie: Auf der Flucht erschossen. Aber es knallt nicht.
Die Schuhe sind völlig durchnässt, der Hosensaum auch. Ich erreiche das Haus. Lauf hinten rum und orientiere mich. Da geht ein Fußweg durchs Dorf, der endet wahrscheinlich hier. Den nehm ich. Auf einmal geht die Haustür auf, und ein Mann tritt raus und schließt ab. Eine Aktentasche unter dem Arm. Dobrý, sagt er und ich auch. Ich reihe mich hinter ihm ein und folge ihm. Bis zur Haltestelle für den Bus nach Teplitz. Da stehen schon andere Frühschichtler rum und warten. Von hier aus sieht man das Treiben am richtigen Übergang. Die ersten LKW warten auf Abfertigung. Langsam wird es hell.
Endlich wieder Wärme von unten, das ist die Heizung im Bus. Ich schlafe ein. Völlig erschöpft von den letzten zwei Tagen und Nächten. Da weckt mich ein Schlag gegen die Füße. Teplitz!, wiederholt der Fahrer, mit einem Besen in der Hand. Wir sind da. Alle anderen schon ausgestiegen. Von hier aus ist Prag auch nicht mehr weit. Nur die Rückreise mit drei Grenzen steht mir wieder bevor.