Die wollten diese Behörde schließen. War ja klar. Ich hab mal einen Antrag gestellt, bevor die wirklich dichtmachen. Schon nicht mehr dran gedacht, da keucht die Postfrau die Stufen hoch. Nicht mehr lange, dann geh ich in Frührente!, hör ich auf halber Treppe. Vor mir zieht sie ein amtliches Kuvert aus der Umhängetasche, Stempel von der Birthler-Behörde. Ein Kuli wird mir unter die Nase gehalten. Hier! Einfach unterschreiben. Alles Gute. Die Wohnungstür wieder zu.
Noch im Flur lese ich. Die hätten da was gefunden. In der anderen Bezirksdirektion. Unter meiner letzten Meldeadresse in Dresden. Einsicht nehmen könnte ich übernächsten Dienstag. Otto-Braun-Straße, Berlin-Mitte. Aber keine Vorstellung von dem, was da drin stehen soll.
Freitag davor klingelt das Telefon. Den Termin wollen sie verschieben. Warum denn? Kein Publikumsverkehr an diesem Tag. Ob ich auch Mittwoch oder die Woche drauf kann? Nein, das wird nix, da bin ich auf Gastspiel. Aber dann sind Sie der Einzige. – Na und? – Macht nichts. – Na gut, bis Dienstag.
Ich steh auf unserem Balkon am Märkischen Ufer. Es ist das einzige Wohnhaus in einer Sackgasse. Von hier aus die Spree zum Greifen nah. Reinspringen könnte man nicht, aber Angeln würde gehen. Beim Auswerfen müsste ich aber alles geben. Unten am Uferweg die Anlegestelle Inselstraße. Ein paar Meter weiter ein Stück Eisenzaun zum Öffnen. Darüber ein Schild: Historischer Hafen. Über einen Steg mit Geländer geht’s aufs erste Schiff. Dahinter vertäut die anderen. Der Theaterkahn, manchmal Applaus bis hoch in die Wohnung. Ein Schleppdampfer als Museum. Tagsüber immer ein Experte da, der Auskunft gibt. Eine Zille, in der sie früher die Kohle durch die Gegend schipperten, und edel aufpolierte Ausflugskähne. Alle mit Namen. Die »Adonis«. So ein schöner Name für einen angerosteten Frachtkahn. Der wäre vielleicht gern die »Heinrich Zille« geworden. Das schönste Schiff von allen hier. Letztes Jahr meinen Vierzigsten bei Inge im Deckshaus gefeiert. Ein ausrangierter Heckradschlepper liebevoll restauriert. Unten in der Messe hatten wir genügend Platz. Die ganze Familie da. Champagner, Wein und kalte Platten. Leichtes, fast unmerkliches Schaukeln die ganze Zeit. Früh um vier fragt mich einer, ob wir schon wieder im Hafen sind. Ich zeige ihm durchs Bullauge die Poller am Kai und die Stahltrossen, mit denen das Schiff vertäut ist.
Zur Haustür raus. Rundum nur Büros. Auf der anderen Spreeseite basteln sie an der neuen Botschaft der Holländer. Dahinter zwei Türme. Der dicke in der Klosterstraße und der lange am Alex. Oben drin in der silbernen Kugel sitzen sie und drehen sich. Auch im neuen Jahrtausend. Bei Kaffee, Kuchen und Panoramablick. Zuerst am Ufer der Fischerinsel unter üppigen Trauerweiden lang. Dann hoch auf die Brücke über den Mühlendamm. Ach, weiße Flotte mit vollem Oberdeck in der Schleuse. Der Dampfer hebt sich langsam. Will ihn noch rausfahren sehen.
Ich nehme mir Zeit. Denke an die Aufregung letztes Jahr. Am Ende der Theaterspielzeit kam der neue Intendant. Zum Antrittsbesuch. Vertragsgespräche. Na dann mal schauen. Der Pförtner wie immer: Tach.
Schräg über den Hof runter in die Kantine. Alle versammelt, die Luft zum Schneiden. Am Stammtisch diskutiert die Technik. Wie immer. Die anderen starrten rauchend und schweigend vor sich hin. Einer kippte sich Cognac in den Kaffee und nahm einen Schluck. Der darf nicht entlassen werden. Über fünfzehn Jahre im Dienst, Hauptrollen en gros. Ein anderer machte den Disponenten und rief den Nächsten nach oben. Fünf Mitarbeiter pro Stunde. Der neue Intendant wollte über seine Zukunft an unserem Haus sprechen. Einer nach dem anderen kam zurück. Fast jeder fassungslos. Jetzt war der vor mir dran, ich musste hoch. Doppelte Schwingtür ins Foyer. Oberlichter, Galerie, Marmorsäulen, riesige Spiegel, Samtsofas auf Parkett. Dann kam aus der Blindtür im Holzsockel der Kollege raus. So hatte ich ihn noch nie gesehen, auch in seiner tragischsten Rolle nicht. Er schüttelte nur den Kopf. Ich rein, da saß er. An einem viel zu kleinen Schreibtisch. Der stand doch neulich noch in der Requisite. Glaubt er, daran wirklich größer zu wirken? Ich musste abaschen. Bei mir raucht nur Tabori, meinte der Neue. Also ich zur Balkontür, raus in die Sonne. Er hinter mir her. – Ich hab Sie in Salzburg als Legendre gesehen. Auf der Brüstung im ersten Rang herumturnen. Hat mir gefallen. – Später kam raus, er hat 21 in die Wüste geschickt. Von 27. Einfach so. Theatergesetz. Widerspruch sinnlos.
Jetzt fährt das Schiff Richtung Innenstadt weiter. Dann die Leute wie immer: Obwohl da genug Platz unter der Brücke ist, ziehen alle die Köpfe ein. Bin gespannt, was da gleich in der Behörde auf mich zukommt. Es gab doch viel wichtigere Leute als mich. Wer soll denn was über mich erzählt haben? Vielleicht doch Vati? Kann nicht sein. Auf keinen Fall.
Haus des Lehrers. Die Kuppel der Kongresshalle davor erinnert mich an Brasília. Gegenüber das Haus des Reisens. An der Dachkante klebt immer noch die erste West-Reklame in Ostberlin SHARP. Oder war es die Coca-Cola in der Leipziger? An der U-Bahn Spittelmarkt? Noch zweimal über die Straße, gleich da.
Pförtnerloge vom Feinsten. Die Luke in der Scheibe wird geöffnet: Wo wollnse hin? Ich beuge mich vor. Spreche durch das ovale Sieb: Zimmer 910. Der Pförtner schaut in seiner Liste. – Sind Sie überhaupt angemeldet? – Ja. – Heute? – Ja! – Moment, ich rufe durch.
Nach ein paar Minuten geht der Fahrstuhl auf. Eine Mitarbeiterin kommt auf mich zu: Guten Tag, Herr Preuss. Kommse bitte? Mit Namen. Erstaunlich. Ist ja wie bei den Genossen hier. Kommse kommse, gehnse gehnse, haben die immer gesagt. Nur ohne das »Bitte«. Im Fahrstuhl drückt sie die 9 und fängt sofort an: Wenn Sie gleich Ihre Akte einsehen werden. Bestimmte Zeilen sind geschwärzt. Einige Seiten sind gelb abgedeckt. Die haben nichts mit Ihnen zu tun. Wenn Sie trotzdem schauen, müssen wir das hier beenden. Bei Fragen wenden Sie sich einfach an mich. Ich habe hier schon Leute zusammenbrechen sehen. Da haben aus der eigenen Familie … rechnen Sie einfach mit dem Schlimmsten. Sie haben übrigens Glück, dass ich Ihnen nicht mehr absagen konnte.
Im Flur außer uns beiden keine Menschenseele. Der Boden gewienert. Neonröhren spiegeln sich auf Linoleum. Könnte glatt sein. Nach ein paar Schritten führt sie mich rechts rein. Tischordnung wie im Klassenzimmer: drei Reihen, zwei Gänge, für den Lehrer eine Art Podest, dahinter die Tafel. Wo ich sitzen will? Na, letzte Reihe Fenster. Wie früher in der Schule. Wie damals auch hier die Tischplatte aus Sprelacart, nur ohne die Schnitzereien.
Die Frau kommt auf mich zu, vor sich den Wagen. Ein Stapel Schnellhefter aus Pappe. Auf dem oberen ein Aktenzeichen und in Anführungszeichen: Läufer. Dann setzt sie sich ans Pult, schaut abwechselnd zu mir und aus dem Fenster. Ich fang mal an. Inhaltsverzeichnis. Abschlussbericht der Überwachung. Unterschrieben von einem Oberst. Ich überfliege. Hier! Lagefilm. Abteilung 26. Pillnitzer Str. 23. 8:00 Uhr Ruhe im Objekt. 8:31 Uhr Hantieren in der Küche zu vernehmen. 09:06 Uhr Herr P. duscht. 9:32 Uhr männliche Person singt und pfeift vor sich hin. Dann ein Blatt mit gelber Seite. Die Frau ist jetzt schon ziemlich unruhig da vorne. Was hat sie denn? Rutscht immer so auf ihrem Stuhl hin und her. Hummeln im Arsch? Was decken die denn hier ab? Mit Büroklammern kenne ich mich aus, weiß genau, wie man die am Seitenrand verschiebt ohne Einriss. Aber sie hat recht. Mit mir hat das nichts zu tun. Es geht um die Verwandten von den Kusches. Nachbareingang, Erdgeschoss rechts, in der 25. Ostern kamen die Verwandten jedes Mal mit neuem Auto. Kann mich gut erinnern. Alle die Köpfe aus dem Fenster, ach, die wieder. Hübsche Tochter dabei. Unser Spitzel war derselbe. Der Genosse mit dem Hausbuch. Vati hat manchmal die Augen verdreht, wenn er an ihm vorbeiging.
Die Fakten scheinen im Großen und Ganzen zu stimmen. Auf unserem Ausflug nach Meißen waren sie dabei. Hinter mir hergelaufen sind sie auch tagelang. Das haben sie gut gemacht. In meinem Zimmer meine Stimme gehört. Aber wie die das aufschreiben, ist ja furchtbar. Mit Schreibmaschine oder handschriftlich. Viel Blaupapier und Thermopause. Stempel. Unterschriften. Dienstgrade. Abteilungen. Totaler Bürokratiescheiß. Liebe machen mit Katrin und wie oft. Wer zu Besuch kommt. Aus welchem Auto wer aussteigt. Unterhaltungen über Schlangenzucht und Theaterbesuche. Der Rest vom Tag muss langweilig gewesen sein für den Abschreiber. Immer das Gehörte in die Tasten tippen. Zurückspulen. Noch mal hören. Sogar die Ruhe im Objekt halten sie für wichtig.
Schönes Tagebuch. Fast fünfhundert Seiten, ist mir heute zu viel. Die da vorne weiß langsam nicht mehr, wie sie sitzen soll. Frage, kann ich das eigentlich mitnehmen? – Nein. Was möchten Sie denn kopiert haben? – Alles. – Sie ist erleichtert, legt die Akte auf den Wagen. Kleinen Moment noch, füllen Sie das aus. Danke. Ich bring Sie wieder runter.
Im Fahrstuhl riecht es nach Fleisch auf Holzkohle. Unten links die Tür zum Innenhof offen. Sie deutet Richtung Grill. Vielleicht möchten Sie noch? – Gerne. Gibt’s was zu feiern? – Na, Mitarbeiterfest. – Aha. Deshalb also ihre Unruhe. Girlanden, Sonnenschirme, Lachen. Bier vom Fass in der einen, Bratwurst in der anderen Hand. Nicht nur einer sieht aus, als wäre er immer noch Gehaltsempfänger der Stasi. Hier brauchen sie euch. Ihr kennt euch bestens aus mit den Vorgängen. Ein anderer fragt, sind Sie neu bei uns? – Nein. – Wir kommen ins Gespräch. Ich verweise auf Abteilung 26. Verwanzte Wohnung. – Geschlechtsverkehr dokumentiert? Sind Sie sicher? – Ja, mit genauer Uhrzeit. Also Anfang und Ende. – Um mich herum wird’s lustig. Wie auf einem Betriebsvergnügen in der DDR. Fühlt sich gut an für einen Moment. Dann wird mir klar, wo ich bin. Muss weiter. Raus. Draußen verdammt hell. Sonnenbrille raus.
Neben der Behörde ein Schaufenster mit Jägerbedarf. In so einem Laden war ich noch nie. Drinnen alles Loden und Filz, steif, grün und braun. Gehe durch einen Wald aus Stiefeln, Hosen, Mänteln, Hüten, Handschuhen. Ein Torso mit Schutzweste. Unter Glas in Schubfächern Waffen und Munition. An der Wand dahinter die großen Kaliber. Sieht aus wie der Fundus von einem Heimatfilm. Hier hab ich echt nichts zu suchen. Ich lauf mal los.
Dass ich damals nicht gemerkt habe, wie sie hinter mir hergelaufen sind. Nah genug waren sie dran, die Spezialisten. Häufiges Stehenbleiben und starkes Interesse an der näheren Umgebung haben sie festgestellt und protokolliert. Bis ins Musikhaus Melodie immer schön hinter mir her. Einmal nach der Straßenbahn gerannt. Das haben sie dann so berichtet: 21:00 Uhr. In Höhe der Schwimmhalle Steinstraße rannte er zur Haltestelle Terrassenufer und bestieg die ankommende Linie 7. Dabei geriet Preuss, Uwe außer Kontrolle. Das Rennen zur Straßenbahnhaltestelle muss nicht ausschließlich der Straßenbahn gegolten haben. Unterschrieben vom Abteilungsleiter Oberst Glöckner.
Kurz vor der Brücke rechts Brachland. Zweimal im Jahr ist hier Rummel, sonst Parkplatz. Ecke Holzmarkt, der Pfauenbrunnen. Dahinter vietnamesische Zigarettenhändler. Ich bleibe stehen. Schmuggelware, sehr beliebt und preiswert. Rein in die Kaufhalle, wir brauchen noch Windeln. Bald in zwei Größen. Freue mich schon. Von der Jannowitzbrücke aus kann ich die Schleuse von hinten sehen. Die Tore öffnen sich gerade. Ein Schiff fährt ein.
Hab in den Papieren gelesen, dass die Typen noch mal in unsere Wohnung mussten. Einen Defekt mussten sie beheben. Kann ich mir genau vorstellen. Auf einmal hat das Tonband nichts mehr aufgezeichnet. Stille auf der Spule. Die hätten doch froh sein müssen. Aber nein, da wurde gleich jemand beauftragt. Könnse das mal prüfen? Den Nachschlüssel hatte der Genosse mit dem Hausbuch. Wann ist denn der P. nicht da? Kein Problem, sagte der Nachbar, hier ist das Protokoll der letzten vier Wochen. Dann sind sie rein in mein Zimmer. Einer steht Schmiere. Endlich, jetzt wussten sie alles. Es ist die defekte Membran der Sauerstoffpumpe. Das Geräusch, das sie nie orten konnten. Im Aquarium Black Mollies, Neons und Miniwelse. Die Steckdose dahinter, schwer ranzukommen. Der eine nahm den Phasenprüfer, mit Gefühl die Schräubchen gelockert, die Innereien freigelegt. Lötstelle am Widerstand gebrochen. Neben dem gelb-grünen Schutzleiter. Der P. hat den Schukostecker zu fest reingedrückt und so das Mikrophon zerstört. Gern geschehen, Genossen.
Gleich zu Hause. Nur noch am Märkischen Museum vorbei. Ritter Roland mit erhobenem Schwert. Ein Stück weiter das Zille-Denkmal mit dem Jungen, der ihm beim Lesen über die Schulter schaut. Bin gerne im Köllnischen Park. Kleiner Spielplatz, Bärengehege mit Tilo, Maxi und Schnute. Die Chinesen aus der Botschaft machen Tai Chi auf der Wiese, in Formation. Wie damals an der Kunsthochschule mit Fang Yu. Schlüssel raus, gehe rein durchs Hinterhaus, die Treppe hoch. Auf dem Sofa meine Tochter und ihre schwangere Mama. Beide nackt, schlafend. Stehe da, schaue nur. Was für ein Moment.
Eine Sache hab ich vergeblich gesucht in den Akten. Mal Ingo besuchen stand auf dem Plan. Kurzer Ausflug bis Karl-Marx-Stadt. Muss 81 gewesen sein. Die Reichsbahn bringt mich. Keine Zeit für Anstehen am Schalter. Also ohne Fahrschein. Das Katz-und-Maus-Spiel mit dem Schaffner war längst auf anderen Strecken einstudiert. Kurz schauen, wo er einsteigt. Wenn hinten, vor dem letzten Wagen, gepfiffen und Signal gegeben wird, dann nehm ich eins von den Abteilen hinter der Lok. Oder umgekehrt. Das dauert, bis der durch ist. Hin und wieder ist er auf einmal in Sichtweite. Dann gibt’s nur noch hoffen. Ein Waggon noch, dann der nächste Bahnhof. Die Tür auf der Gleisseite entriegeln. Über den Schotter den Schaffner überlaufen und hinter ihm wieder rein. Unauffällig. Hat fast immer geklappt. Manchmal auch im Zug an den Abteilen vorbei, und wenn er vor dir steht, kurz so tun, als wärst du gerade vom Klo gekommen, die Hände schütteln noch Restwasser vom Händewaschen ab. Da macht er Platz. Zugfahren mit Spaß.
In Freiberg stehen wir damals ungewöhnlich lange. Das ist die Hälfte der Strecke. Uniform und Stiefel kommen durch. Transportpolizei. Glotzen in alle Abteile. Auch in die mit zugezogenem Vorhang. Suchen die was? Klar. Langhaarige mit üblichem Beiwerk. Der Zug ruckt wieder an. Der Bahnsteig fährt vorbei. Einen kleinen Fisch haben sie rausgeholt. Der ist höchstens sechzehn, Nickelbrille, Tornister und Gitarre dabei. Ich freue mich auf Ingo. In São Paulo haben wir im gleichen Klassenraum gelernt und Blödsinn gemacht. Die Kiste für die Schildkröte so zusammengenagelt, dass einer der Nägel in meinem Oberschenkel stecken geblieben ist. Lange nicht gesehen. Das wird bestimmt schön.
Beim Aussteigen in Karl-Marx-Stadt stehen Zivile mit Dienstausweis vor mir. Einer macht den Vorgesetzten: Kommse mit. Wohin denn? Sie laufen jetzt einfach nur geradeaus. Vor dem Bahnhof der Lada. Einsteigen! Einer greift mir in den Nacken, der andere drückt mich runter. Glauben die, ich kann noch nicht mal selbständig in ein Auto einsteigen?
Volkspolizeikreisamt. Endstation. Auf einem endlosen Flur bin ich nicht der Einzige. Personalien werden aufgenommen. Was wollen Sie heute in der Stadt? – Meinen Freund besuchen. – Name? – Seiler. Gibt’s hier nicht. Was wollen Sie wirklich? Die öffentliche Ordnung stören? – Ich sagte doch bereits … – Hier reden Sie nur, wenn Sie gefragt werden! Ist das klar? Raus! Der Nächste!
Nach ewigem Warten haben sie es plötzlich eilig. Es wird rumgeschrien. Raus auf den Hof, der Laster ist da. Alle um mich rum steigen auf. Ich mit. Einen Fuß auf den rausgeklappten Tritt in der heruntergelassenen Heckklappe. Festhalten am eingesteckten Geländer und mit Schwung auf die Ladefläche. Zwei Sitzbänke längs. Ich bin einer der Letzten. Zum Schluss zwei Uniformierte mit Schäferhunden. Die sichern und lassen die Plane runter. Auf einmal wird’s dunkel. Keiner sagt mehr was.
Wir fahren durch die Stadt. Der Straßenbelag und die Straßenbahnschienen sorgen für Bewegung. Es rumpelt mächtig. In den Kurven vergisst der Fahrer seine Ladung. Die Plane flattert im Fahrtwind. Die beiden unteren Ösen werden jetzt verschlossen, die darüberliegenden auch. Wenn ich mit dem Rücken den Stoff hinter mir leicht auf Spannung halte, öffnet sich ein kleiner Schlitz mit Ausblick. Hinter den Köpfen der Soldaten. Unteroffiziersanwärter. Absolut verpönt im Freundeskreis. Draußen wird es ruhiger. Müsste die Stadtgrenze sein. Wohin geht die Reise? Im Knast war ich noch nie.
Hinten fängt einer an zu singen. Die Schnauze soll er halten, schreit der ältere von den Bewaffneten. Er muss seinen Hund zurückhalten. Gut, dass der Maulkorb trägt, denk ich. Du kannst mir gar nichts, kommt’s zurück. Mein Vater sitzt in Bautzen. Ich weiß, was ihr alles anstellt. Dann ist er wieder ruhig. Nach einer gefühlten Stunde erwischt mein Blick das Ortseingangsschild von Mittweida. Kleinstadt, noch nie da gewesen. Der Laster rangiert und kommt zum Stehen, die Plane wird hochgeschlagen.
Wir werden schon erwartet. Ist das ein Schulhof? Klar, das Gebäude kenn ich. Der gleiche Bautyp wie überall im Land. Absitzen!, brüllt einer vom Empfangskomitee. Die Hinteren zuerst, der Sänger ist gleich dran. Beim Sprung auf den Boden grätscht ihm einer noch in der Luft zwischen die Beine. Er kommt mit dem Gesicht zuerst auf. Und schreit. Die Uniformierten grinsen und greifen einen Eimer. Die volle Ladung Wasser ergießt sich über seinen Kopf. Er japst nach Luft und soll sich gefälligst beeilen beim Spurt in die Empfangshalle. Der Rest im Laufschritt hinterher.
Hinter der Eingangstür die Einweiser. Wir werden sofort aufgeteilt, immer abwechselnd einer links hoch und der andere rechts. Ein langer Flur mit Türen zu den Klassenräumen. Dazwischen eine Wandzeitung über den letzten Republikgeburtstag auf der einen Seite und Garderobenhaken an der anderen. Da hat ein Viertklässler seine Jacke vergessen und bestimmt Ärger zu Hause. Wieso kommen mir gerade jetzt solche Gedanken? Stehen bleiben! Gesicht zur Wand und halben Meter weg! Hände auf den Rücken! Füße auseinander und mit der Stirn angelehnt. Na los! Wird’s bald?
So stand ich noch nie. Das drückt ganz schön in der oberen Kopfhälfte. Ich such mir einen Punkt auf der Wand. Meine Pupillen haben zu tun beim Schärfe-Einstellen. Müsste ein Sandkorn sein. Aus den Augenwinkeln die Umgebung wahrnehmen. Der Ausschnitt ist nicht besonders groß. Neben mir versucht einer, sich mit den Handflächen an der Wand zu entlasten. Da knallt ihm gleich ein Gummiknüppel zwischen die Beine. Aua. Ich frage mich, ob Schwerverbrecher genauso behandelt werden. Was kommt denn noch? Jetzt tasten sie jeden einzeln ab und sammeln den Tascheninhalt ein. Kommandos sind zu hören. Einer macht Meldung: Effekten gesichert. Abtreten! Einer muss pinkeln, darf er auch. In Begleitung. Dann wird zugewiesen: zwei Mann pro Raum. Ich lande in der 3c. Die Stühle sind viel zu klein. Und die Schulbänke zu niedrig für Erwachsene. Die Wandtafel nicht abgewischt. Da steht: Frau Lorenz ist krank. Vertretung Herr Dornau. Daneben in einem Rahmen der Generalsekretär Honecker. Ich schaue meinen Nachbarn an. Er ist genauso fassungslos.
Einer stellt sich in den Türrahmen und gibt die Regeln bekannt: Keine Unterhaltung. Kein Schlaf. Bleiben Sie sitzen. Verstanden? Jetzt wird er leise: Meine Frau ist hochschwanger. Das Baby müsste jeden Augenblick kommen. Macht mir’s nicht so schwer. Wieder im Befehlston: Frühstück morgen früh sechs Uhr! Er verschwindet im Flur. Die Tür bleibt offen. Der in der nächsten Reihe zischelt »Leipzig« in meine Richtung und »Frank«. Ich flüster »Dresden«. Auf einmal Hundegebell. Ich muss mich leicht erheben, um aus dem Fenster zu schauen, und seh das Gebäude mit Wachleuten umstellt. Jeder mit Hund neben sich. Das Tier an einer langen Kette. Rundrum Neubaublöcke. Denken die, hier türmt einer so schnell? Ab und zu höre ich Schritte, die näher kommen. Bevor man sehen kann, wer es ist, geht die Tür für einen Moment zu und gleich wieder auf. Langsam wird es dunkel. Es ist Sonnabendabend. Ich überlege. Sind Ferien? Nein. Also müssten die Pioniere Montag früh wieder hier sitzen und lernen.
In der Tür unser Bewacher. Mit ausgestrecktem Arm ruft er: Mitkommen! Wer? Dann wird er genauer und wackelt mit dem Zeigefinger: Du! Er meint meinen Nachbarn. Der kommt nach einer Ewigkeit zurück und sagt nichts mehr. So langsam kann ich nicht mehr sitzen. Die Füße schlafen ein. Dann das gleiche Spiel, ich bin dran. Auf dem Weg durch die Flure ins nächste Stockwerk versuche ich, mir einen Reim zu machen. Ich komme zu keiner Erkenntnis. Stehen bleiben! Gesicht zur Wand! Halblinks in Augenhöhe ein Schild: Sekretariat. Auf ein Klopfen folgt »Herein«. Er liefert mich ab. Diese Räume sind mir vertraut aus der eigenen Schulzeit. Die Einrichtungsgegenstände offenbar immer an der gleichen Stelle. Gegenüber an der Wand der Wochenplaner mit eingesteckten Namenskärtchen in verschiedenen Farben. Immergrüne Pflanzen in Hydrotöpfen auf dem Fensterbrett. In der Ecke ein leerer Stuhl. Setzen! Hände unter die Oberschenkel! Was soll das denn? Der Typ am Schreibtisch legt einige A4-Blätter übereinander. Dazwischen immer eine Lage Blaupapier. Beim Einspannen in die Schreibmaschine zerknittern sie etwas. Er flucht. Dann geht’s los. Name? Adresse? Geboren? Was wollten Sie heute in Karl-Marx-Stadt? – Einen Freund besuchen. – Ach, hören Sie doch auf. Wir wissen doch alles. – Was alles? – Dass Sie die Feierlichkeiten mit Ihrem provokanten Verhalten stören wollten. Aber das haben wir ja nun verhindert, strahlt er. – Was für Feierlichk… – Das Treffen der Jugendverbände der Sowjetunion und der DDR. – Davon wusste ich gar nichts. – Hören Sie doch auf zu lügen, Herr Preuss! Das hat doch alles keinen Sinn! Immer wieder von vorn. So vergeht hier die Zeit. Die Müdigkeit überfällt mich. Der Hunger und der Durst auch. Das sage ich ihm freundlich. Dann kommt ein Käsebrot und Früchtetee. Während ich versuche, den ersten Bissen zu nehmen, schreit er mich an. Die Hände unter die Oberschenkel! So ein Sadist, denk ich. Also eine Mahlzeit vor der Nase, und alles wieder von vorn. Das geht ewig. Ich unterschreibe nichts. Das ist mein einziger Stolz. Sie werden schon sehen, sagt er noch bei der Abholung.
Zurück im Klassenzimmer. Es dürfte weit nach Mitternacht sein. Die Augen fallen mir zu, und im Sitzen fällt der Kopf zur Seite. Alle Viertelstunde kommt der angehende Vater rein und knipst kurz das Licht an. Neon. Was für eine Tortur. Irgendwann am Morgen geht es in den Keller. Essen fassen. Da, wo sonst die Schüler runterrennen und die Schulspeisung aus der Luke kommt, stehen Plasteteller mit einem Brötchen. Zwei Rädchen Leberwurst im Darm. Eine Ecke Butter klebt am Tellerrand. Daneben Kaffee in einem Becher und zwei Stück Würfelzucker.
Wenn Sie fertig sind, halten Sie sich bereit zum Verhör!
Das, was jetzt kommt, haut mich um. Sie melden sich heute Abend im Volkspolizeikreisamt Dresden zum Haftantritt. Schießgasse. Wie bitte? Ich hatte schon einiges von der U-Haft gehört. Da gab’s richtig aufs Maul von den Wärtern. Das ist das Ende. Scheiße. – Sie können wegtreten und befolgen die Anweisungen der Genossen! – Die bestanden darin, das Reinigen des Schulgebäudes zu organisieren. Aber so, dass keiner mit anderen Kontakt aufnehmen konnte. Ich wurde ganz oben eingeteilt. Alles muss glänzen, sagt einer. Wegen den kleinen sozialistischen Persönlichkeiten, schiebt er nach. Die Bürste am Schrubber bricht vom Stiel. Die Reparatur hätte ich nicht anmelden müssen. Den Rest der Zeit auf allen vieren. Wischen und auswringen. Wieder Kommandos: Die Berliner und Dresdner abmarschbereit machen! Persönliche Gegenstände entgegennehmen! Ein Reisebus steht auf dem Hof. Der Ausgang erscheint mir jetzt pompös. Zu meiner Zeit gab es von der obersten Stufe aus jeden Morgen die Begrüßung durch Direktor Müller. In der Neunzehnten, hinterm Hygiene-Museum. Keine drei Jahre her.
Einzeln einsteigen. Wir sind vielleicht zehn. Zwischen jedem eine Reihe frei. Handschellen werden auf- und zugeschlossen. Das Handgelenk klebt an der Armstütze. Einfach aus dem Fenster schauen. Noch mal den Ausblick genießen. An der Ausfahrt Wilder Mann fährt er nicht ab, sondern auf den Seitenstreifen. Aufschluss. Aussteigen!
Was mach ich jetzt? In Freiheit. Ein kurzes Wochenende rattert noch mal durch den Kopf. Das Schlimmste war die Willkür der Lakaien. Und die kurze Ohnmacht zwischendurch. Das Ausgeliefertsein. Nicht wissen, was als Nächstes kommt. Ich lauf mal los. Ins Tal. Von der Bergwirtschaft aus einen herrlichen Ausblick über Dresden.
Zu Hause nehm ich zuerst ein gepflegtes Wannenbad. Mit ordentlich Schaum. Ich meld mich bei den Bullen. Lieber heute Abend, als früh aus dem Schlaf gerissen zu werden. Restgeld und Ausweis dabei. Volle Schachtel Kippen. Auf dem Weg das Pirnaische Tor. Selbstbedienung. Eine Bockwurst und einen halben Liter, bevor’s in die Zelle geht. Ich lass mir Zeit. Durch die Fensterscheiben seh ich gegenüber das Riesengebäude. Den Knast im Innenhof stell ich mir schon mal vor. Mir wird flau im Magen.
Ich nehm den Fußgängertunnel. Erst mal falscher Ausgang, am Sporthaus raus. Wollt ich gar nicht. Auf der anderen Seite das Landhaus. Da muss ich rechts vorbei. Wenn ich die Gleise genommen hab. Also über die Ketten, das leiste ich mir jetzt. Das nennen die Absperrung, lächerlich.
Der Haupteingang vor mir, ich geh die Stufen hoch. Alles dunkel drinnen. Öffnungszeiten stehen dran. Heute geschlossen. Morgen früh geht’s wieder los. Ich will mich grad umdrehen, da kommt jemand. Guten Abend, ich soll mich hier melden. – Ach so, die Bereitschaft ist um die Ecke an der großen Einfahrt, melden Sie sich da. – Ich lass mir Zeit. Auf der anderen Seite das Hochhaus. Unten die Selbstbedienung, in der ich gerade noch saß. Oben die Leuchtreklame »Der Sozialismus siegt«. An der Einfahrt drück ich die einzige Klingel. Da geht was auf. Ein Schieber öffnet den Ausschnitt. Ein Gesicht mit Kopfbedeckung. – Was woll’n Se? – Ich soll mich hier melden. – Hör’n Se auf mit dem Quatsch und stör’n Se nicht. – Dann geht das Loch wieder zu. Was war das denn? Die trampeln mir auf der Seele rum! Das hält doch keiner aus! Schnell nach Hause. Die Fische brauchen Futter.