So eine Scheiße, brüllt der Mann vor mir. Konservendosen rollen übers Pflaster. Sein Einkaufsnetz ist geplatzt. Keine Frage, ich helfe ihm. Nimm dir eine!, lächelt dabei. Vermutlich das erste Mal heute. Schmalzfleisch. Danke. Frühsommer, Prager Straße, habe mir im Musikhaus Melodie ein paar Schallplatten gekauft. Ich schlendere durch die Stadt, in der Tasche auch die frisch gepresste AMIGA-Lizenzausgabe von Cream. Abtastnadeln waren aus.
Mein Freund Knut wohnt im Hochparterre einer Gründerzeitvilla. Am Käthe-Kollwitz-Ufer. Davor die Elbwiesen, gegenüber die Albrechtsschlösser. Bin kurz weg, steht auf dem Zettel an der Tür. Macht nichts, er schließt sowieso nie ab. Die Jalousien halb runter, und hier drin sieht es aus! Als ob er gerade aus dem Bett gefallen wäre. Auf dem abgelaugten Biedermeiertisch sein Drehaschenbecher und ein Schraubglas voll Schellack. Daneben die Matrizen für seine nächste Kaltnadelradierung. Alles in einem Raum.
Ich zünde mir eine an, spüle zwei Teegläser ab, setze Wasser auf. Unverhofft herzhafter Schlag in den Rücken. Knut begrüßt mich, eine halbe Fischsemmel in der Hand: Mensch, Frühjahrsputz ist doch erst nächstes Jahr! Dann, am Küchentisch, rauchen, quatschen, wir hören »Holidays in the Sun« von den Pistols auf Spulentonband. Radiomitschnitt. Er grinst sich eins. Hab gerade deinen Beinahe-Schwiegervater gesehen. Den Milchmann! Klar, Knut denkt an die Geschichte mit dem Heizkessel. Bei Jenny in der Rothenburger bin ich gerne mal durchs Erdgeschossfenster eingestiegen. Ihre kleine Schwester schlief oben auf dem Rollbett. Wir fummelten unten. Leiser Genuss. Ihr Vater musste früh um vier raus, Milch ausfahren, vorher war ich verschwunden. Einmal sind wir nachts beide gleichzeitig aufs Klo. Als sie saß, klopfte es an der Tür. Ihre Mutter musste dringend. Scheiße. Kein Fenster, nichts. Jenny gab mir ein Zeichen, der Badeofen, versteck dich dahinter! Ich schob mich zwischen Wand und das Monstrum. Jetzt mach endlich auf!, tönte es aus dem Flur. – Ich bin noch nicht fertig. – Ich muss eilig, jetzt mach auf, gib mir den Eimer! Jenny reichte ihn raus. Wir schauten uns an, hörten den Strahl der Mutter. Dann sie wieder an der Klinke: Wie lange brauchst du denn noch, ich will den Eimer auskippen! – Kein Entrinnen. Jenny öffnete die Tür, ich versuchte, mich tot zu stellen. Dann drehte ich vorsichtig den Kopf und blickte in die erst verwirrten, dann verstehenden Augen der Mutter. Der Badezimmerspiegel hatte mich verraten. Alle drei waren wir nackt. Ich rannte an der Mutter vorbei ins Kinderzimmer. Klamotten an, raus aus dem Fenster.
Stell dir mal vor, der Kessel vom Badeofen wäre noch heiß gewesen! Knut amüsiert sich, aus und vorbei.
Am Abend, Großer Garten. In der Freilichtbühne Junge Garde spielt Engerling. Dich kenne ich doch, eine zarte Stimme. Ich drehe mich um, und da steht sie. – Ich bin Katrin, im Winter habe ich ein paar Reihen hinter dir gesessen, lächelt sie. – Was? Im Kino! Aha. Ich kann die Augen gar nicht von ihr lassen, die blasse Haut, blaue Augen, die roten Haare. Echt schön. Jemand verstolpert sein Bier direkt über unsere Schuhe. Egal.
Wir tanzen barfuß weiter, wild und ausgelassen. Dann eng und küssen uns. Die Band hat Spaß, alle anderen auch. Wir radeln zu ihr. Durch den Park lassen wir uns alle Zeit der Welt. Bald hell. Vor der Tür sagt sie, komm rein, meine Eltern sind auf dem Land, mein kleiner Bruder auch. Wir liegen in ihrem Zimmer, schlafen dann ein, um lachend wieder aufzuwachen. Duschen zusammen, erst kein Frühstück, dann doch: Pfirsiche aus der Dose. Draußen herrlichstes Wetter, aber wir bleiben drinnen. Sie hat nur das Höschen mit dem Aufdruck »Sunday« an, ich kann kaum glauben, dass erst Sonntagmittag ist.
Montag, fünfdreißig der Wecker. Früh aufstehen ist eine Qual. Schlimmer allerdings noch, ins Büro zu müssen. Was könnte man an so einem Tag nicht alles machen. In der Straßenbahn muss ich im Stehen eingeschlafen sein. Aussteigen! brüllt mir ein Kollege ins Ohr. Sonst ist mein Gang eher schnell, aber auf der Strecke von der Haltestelle bis zur Betriebspforte schinde ich immer noch ein bisschen Zeit. Ringe dem Tag noch eine kostbare Minute ab.
Werde Industriekaufmann, hat Vati gesagt, dann kannst du nach ein paar Jahren im Ausland arbeiten. Erst im sozialistischen, später vielleicht auf der ganzen Welt. Dem konnte ich folgen, also diesen Worten. Fast zwei Jahre habe ich es schon ausgehalten bei MLW. Medizin-, Labor- und Wägetechnik. Bald fertig mit der Lehre, alle Abteilungen durchlaufen. Meine letzte Station ist die Materialwirtschaft. Der Chef hier ist Raimund. Diese Arbeit wäre auch für einen Menschen mit einem robusten Naturell eine Herausforderung. Aber für ihn mit seinem angegriffenen Nervenkostüm muss es die Hölle sein. Dauernd wird er von Zulieferern vertröstet. Muss bei seinen Abnehmern um Aufschub bitten. Im Teufelskreis der Planwirtschaft. Und so verwaltet er sich und seine Materialwirtschaftsverwaltungsmaterialien und, seit ich bei ihm bin, mich gleich mit.
Er schickt mich ins Lager, Materialentnahmescheine nummerieren. Der Paginierstempel knallt auf die Tischplatte, ich muss die ganze Zeit ans Wochenende denken. Scheiße, was wird das hier eigentlich? Brauche eine Pause und verdrücke mich durch die Seitentür zu Christa. Sie kümmert sich um Farben, auch Lacke dabei. Hat deswegen einen abschließbaren eigenen Lagerraum. Aber jeder weiß, dass sie ab elf Uhr früh nichts mehr abfüllen kann. Außer sich selbst.
Wir rauchen aus dem Fenster. Daneben hängt groß das Gefahrenschild, das vor offenem Feuer warnt, und sie erzählt mir von ihrem Hund. Der ist alt und blind, gehört eigentlich längst eingeschläfert. Ich lege meinen Arm um ihre Schulter. Sie schluchzt in mein Hemd. Zwei Schnäpse später ist Christa wieder ganz die Alte, und ich gehe mit einem feuchten Fleck auf der Brust Richtung Kantine.
Feierabend. Ich stehe wieder in der überfüllten Straßenbahn. Die rechte Hand über mir in der Schlaufe. Immer noch das Auf und Ab des Stempelns in den Fingern, fünftausend Scheine. Heute hole ich Katrin im Friseursalon ab. Warte, bis sie ihre letzten Kunden bedient hat. Der Geruch von Haarspray erinnert mich an meine Kindheit in São Paulo. Da hat Vati in der Frühe immer so lange beim Rasieren gebraucht, dass Mutti und ich danach gleichzeitig ins Bad mussten. Eine dicke Wolke Haarlack ging dann jedes Mal auf mich nieder, während ich mir die Zähne putzte.
Katrin schließt den Laden zu. In ihrer Tasche klimpert das Trinkgeld. Wir gehen was essen, lieben uns viel und schlafen wenig. Es könnte ewig so gehen.
Katrin ist mit ihrer Lehre fertig und weiß, das ist nichts für ewig. Sie geht ans Theater, arbeitet in der Kostümabteilung am Staatsschauspiel. Für mich absolut erstrebenswerte Arbeitszeiten.
Besuche sie im Fundus in der Garnisonkirche. Was für ein Arbeitsplatz! Reihen über Reihen von Kostümen, alle Epochen, Uniformen, Königsgewänder, Ballkleider. Es riecht etwas abgestanden. Nach Mottenkugeln, Staub und Waschpulver. Es gibt einen Laufzettel: was für die morgige Vorstellung im Theater sein muss. Katrin rennt durch die Gänge. Sucht im bleichen Licht der Neonröhren alles zusammen. Ich ziehe mir das Don-Carlos-Kostüm über. Katrin entdeckt mich, wir küssen uns und sind zusammen. Zur Vorstellung rennen wir. Die Absolventen spielen am Limit. Auf der Probebühne sitzen die Zuschauer unmittelbar vor ihnen. Am Ende liegt Woyzeck am Boden. Mit Wasser aus Blecheimern übergossen. Die Schauspieler sind erschöpft. Aber sie strahlen.
Und Samstag? Nichts wie raus an die Moritzburger Waldteiche. Ihre Eltern sind Dauercamper, fahren freitags nach der Arbeit direkt zu ihrem eigenen komfortablen Zelt. Und den Freunden. Da haben sie alles. Manchmal bleiben sie wochenlang draußen.
Es ist schwül, als wir beide den Berg Richtung Waldmax hinaufradeln. Noch etwas trinken auf halber Strecke tut gut. Schauen uns in die Augen. Selbst unterm Tisch können unsere Füße nicht voneinander lassen.
Dann dumpfes Donnergrollen, bald gießt es in Strömen. Alle retten sich aus dem Biergarten in die Gaststätte. Wir fahren weiter. Kurz vor Wilschdorf sind wir völlig durchnässt, werfen die Räder am Waldrand ins Gras. Schlafen unter triefenden Bäumen miteinander. Sie streicht mir meine nassen Haare zur Seite.
Die Montage sind besonders hart. Ich habe immer noch ihren Geruch in der Nase. Die Firma wirkt trostloser, meine Arbeit sinnentleerter denn je. Paginieren soll ich schon wieder. Fünftausend scheiß Scheine. Raimund stellt den Karton vor mir auf den Tisch. Nee, mach ich nicht. Ich sehe seine Adern am Hals raustreten. Es wird laut im Büro. Natürlich machst du das, denk an deinen Abschluss und an deinen Vater! Schreiend läuft Raimund Richtung Abteilungsleitung. Ich ihm hinterher. Als er sich endlich beruhigt hat, nehme ich den Karton ganz unaufgeregt, stelle ihn auf seinen Schreibtisch, lächele ihn freundlich an und wiederhole: Mach ich nicht! Dann nehme ich die einsortierten Scheine in großen Bündeln raus. Werfe sie bis unter die Decke und freue mich, wie Tausende Blätter durch sein Büro flattern.
Natürlich hat die Sache ein Nachspiel. Raimund hat das Werk an diesem Abend merkwürdig verlassen. Wie? Na mit dem Fahrrad rückwärts durch das Tor rausgerollt, erzählen sich alle. Er konnte einfach nicht Feierabend machen. Schon am Pförtner vorbei, gab er noch seine Anweisungen. Und so verliere ich auf den letzten Metern meine Lehrstelle. Du musst aufpassen, meint Knut, den sie schon wegen des Asozialen-Paragraphen 249 drangekriegt haben. Die Erlaubnis fehlte, um als freier Künstler zu arbeiten. Er schickt mich zu einem Pfarrer und der mich nach Löbtau. Arbeitsplatz ohne besondere Vorkenntnisse, melde dich dort bei der Verwaltung.
Nach der Premiere von Maria Stuart nimmt mich Katrin mit auf die Hinterbühne. Dann vor den eisernen Vorhang. Zum ersten Mal sehe ich von hier oben die leeren Ränge. Den Staub im Licht. Rieche noch den Schweiß und den Puder der Schauspieler. Hier könnte ich es aushalten.