Bei den Landungsbrücken. Hamburg 2009

Dienstreise nach Hamburg. Drehschluss. Wohne im Hanse Clipper, Portugiesenviertel. Gegenüber die Ausfahrt der Michelgaragen. Gehe den Venusberg ein Stück rauf. Sehe die Landungsbrücken und den Hafen, ich genieße.

Auf dem Weg zurück dann in die Elbschlossquelle. Ein kleiner Backsteinbau zwischen Mietshäusern und Ladengeschäften. Zum Bürgersteig ein Schaufenster mit dem Aufdruck »Ratsherrn Pils«. Davor eine gehäkelte Halbgardine, den Sims ziert ein hölzerner Adler. Draußen Tische und Stühle. Seit dem Vormittag scheint die Sonne. Warm, keine Anzeichen für hanseatisches Schmuddelwetter. Es ist Sonntag. Muttertag.

Ich setze mich. Schaue den Herren an den blinkenden Spielautomaten zu, die Münzen und Scheine reinstecken. Manchmal fluchen, bisweilen lachen, gelegentlich einige Euro gewinnen, um sie sofort wieder zu investieren. Stammgäste, schick gemachte Frauen mit ihren Partnern. Sitzen hier in ihrem zweiten Wohnzimmer.

Mein Astra kommt. Auf einer Leinwand und diversen Monitoren läuft Fußball. Eine Gruppe älterer, wohlfrisierter Damen liefert sich einen Wettkampf an der Dartscheibe. Vorher rechnen sie nach, in welches Feld der Pfeil als Nächstes muss. Und werfen dann. Treffer. Danach tun sie bescheiden.

Tanja ist die gute Seele der Kneipe. Heute schmeißt sie draußen den Grill an. Es gibt feinste Ware vom Metzger, dazu hausgemachte Salate.

Ein Mann kommt rein, für den der Ausdruck Hüne erfunden sein muss. Knapp zwei Meter, kräftige Gliedmaßen, Handteller groß wie Wiener Schnitzel. Er trägt eine gut sitzende Jeans, ein buntes Versace-Hemd und ein offenes Lächeln im gegerbten Gesicht. Sein volles Haar ist akkurat gescheitelt. Vermutlich geht er auf die achtzig zu. Sieht aber jünger aus und hat noch nichts von seinem Charme eingebüßt. An der Bar fragt er dann die Frauen, was er ihnen zu trinken ausgeben darf. Apfel, Uwe, sagen sie dann. Tanja schenkt großzügig Apfelkorn ein. Er trinkt jedes Mal auch einen. Auf die Mütter. Dann bekommt er mit, dass wir Namensvettern sind, und will unbedingt darauf anstoßen. Und auf unsere Mütter. Aber nicht mit Apfel, sage ich. Also ein Kümmel auf Uwe und meine Mutter.

Einen Tag vor ihrem 67. Geburtstag hatte sie auf

Danach rief meine Kollegin Geno an. Ein befreundeter Regisseur wollte in Polen drehen. Für mich wäre eine schöne Rolle dabei, den Ehemann könnte ich geben. Eines meiner ersten Filmprojekte. Das Drehbuch las sich gut, also sagte ich zu.

Mitten ins Nirgendwo mit Blick auf nichts als Nadelbäume hatten sie ein Businesshotel hingestellt. Für Teambindungsmaßnahmen, Seminare und so was. Riesige Kronleuchter in der verglasten Empfangshalle, ein Billardtisch und im Anbau Wellness. Um uns herum nur Geschäftsleute, wir mittendrin. Das Filmteam von Polska Roadmovie. Meine Figur: Ein genervter Ehemann, der seine Frau ungern nach Polen begleitet, weil sie dort einen alten Brieffreund treffen muss. In der Geschichte steht ein junges Mädchen an einer Landstraße und will ins nächste Dorf mitgenommen werden. Gegen

Die Liebesszene drehten wir an einem Spätsommertag. Die Sonne brach durch die Bäume, es roch nach Holz und Harz, massenhaft Mücken. Während die Gattin gelangweilt zurückbleibt, toben der Ehemann und die Anhalterin wie die Kinder durch den Wald. Sie spielen Fangen und stolpern lachend in eine Senke. Sie verführt ihn, während die Frau die ganze Zeit nach ihnen ruft und nur ihr Echo hört.

In jeder Drehpause dann der Blick aufs Handydisplay, kein Empfang. Abends im Hotel endlich Vati am Ohr. Mutti geht es momentan nicht so gut, aber mach deine Arbeit.

Ich musste raus, schnell. Auf dem Weg zum Ausgang am Fitnessraum vorbei. Voller schwitzender Männer. Gerade noch im Zweireiher, traten wir jetzt in die Pedale und kamen doch nicht vom Fleck. Dahinter alles verglast, der Wald sah von hier aus wie eine Fototapete. Nichts wie weg. Traf Geno, ihr ging es genauso.

Wir machten uns zu Fuß auf den Weg ins nächste Dorf. Das müssen mindestens sechs Kilometer gewesen sein, dann drei Häuser. Unterwegs malte sie ihre letzte Italienreise aus. Herrlich. Sie schwärmt noch, dann eine offene Garage. Darin alles Mögliche an Gerümpel, Getränkekisten und ein paar Stühle. Ein alter Mann winkte uns heran. Piwo? Na klar. Er erzählte ununterbrochen, wir verstanden fast nichts. Aber er freute sich.

Am Morgen hatte es nicht einmal im Hotel ein Mobilfunksignal gegeben. Da waren die Businessleute hektisch durch die Lobby gerannt, hatten vor der Rezeption herumgefuchtelt. Als ob es um ihr Leben ginge.

Ja, die Mutti, es könnte schon besser sein, aber mach du mal deinen Film fertig, meinte Claus am Abend. Ich konnte nicht schlafen.

Nächster Drehtag. Das Paar macht sich zu Fuß auf den Weg. Immer noch im Wald, immer noch ohne Empfang. In mir ständig die Ungewissheit, was ich abends erfahren würde. Du, mit Mutti, ich weiß auch nicht, oh, oh, sagte Vati, als ich ihn endlich erreicht hatte.

Wir arbeiteten uns Richtung Warschau vor. Im Film und im echten Leben. Mit dem Kopf am Set, mit dem Herzen in Dresden. Wann seid ihr denn endlich fertig?, wollte Vati wissen. Im Wald sind wir jetzt durch, sagte ich, nur noch zwei Drehtage in der Stadt. Und dann komme ich mit dem Nachtzug und dann fahren wir in die Medizinische und dann bin ich da. – In die Klinik fahren wir nicht, sagte er, sondern ins Hospiz nach

Die letzte Einstellung. Die Eheleute kommen endlich in Warschau an, aber ziemlich ramponiert. Die Frau findet ihren alten Freund, ihr Mann bleibt draußen, wartet vor der Drehtür. Ich trank in der Rolle Kaffee aus einem Pappbecher, da kam ein echter Passant vorbei und warf mir ein Almosen hinein. Endlich, finale Klappe, Drehschluss, Applaus. Das Team fühlte mit mir und fing dennoch an zu feiern, während mich der Fahrer zum Bahnhof brachte. Ich sprang in die nächste Bahn nach Westen. Der Spätzug war schon weg, also mit Umsteigen mitten in der Nacht in Krakau oder sonst wo.

Am Bahnhof in Dresden stand Vati. Mit seinem Auto fuhren wir direkt nach Radebeul. Richtung Schloss Moritzburg, unweit von Adams Gasthof, wo vor mehr als vierzig Jahren die Hochzeit von Anne und Claus gefeiert worden war.

Wir betraten das Hospiz durch einen schön angelegten Garten. Auf der Wiese Betten und Rollstühle, Frauen und Männer. Einige tranken Sekt und spielten Karten. Vati ging voraus. Seit seine Frau in der Klinik war, kam er mindestens einmal am Tag zu ihr. Er öffnete leise die Tür zu ihrem Zimmer. Mutti schlief, auf ihrem Gesicht die Vormittagssonne.

Ich entdeckte Dinge aus ihrer gemeinsamen Wohnung. Bilder, Vasen, Kissen. Er hatte ihr Blumen mitgebracht und bei jedem Besuch etwas von zu Hause.

Ich blickte in ihr Gesicht. Sie sah so unerhört schön aus wie damals, als sie in Brasilien nach meiner Schuleinführung auf dem Tisch getanzt hatte. Als ich schon im Bett liegen sollte, aber die ausgelassene Feier der Erwachsenen durch den Spalt im Türvorhang beobachtete. Nun saß ich mit ihr hier, war traurig und dankbar zugleich. Dann, unverhofft, ganz leicht und sanft, drückte sie meine Hand.