Kapitel fünf

Detective Ramone: Danke, dass Sie heute hergekommen sind, Ms. Anderson. Bitte nennen Sie Ihren Namen und Ihren Beruf für das Protokoll.

Cindy Anderson: Ich heiße Cindy Anderson, und ich bin Barkeeperin an der Bar in der Lobby.

Detective Ramone: Ms. Anderson, was war Ihr erster Eindruck von Lulu Franc?

Cindy Anderson: Sie ist … Es ist schwer zu beschreiben. Sie ist die Art Frau, die wir alle im Alter sein wollen.

Detective Ramone: Was meinen Sie damit? Erklären Sie das bitte genauer.

Cindy Anderson: Nun, sie ist ziemlich glamourös. Sie ist in diesem riesigen Pelzmantel aufgetaucht. Ich meine, die Frau muss fast siebzig sein, aber sie ist ganz schön einschüchternd. Sie wirkt aber nicht alt, wenn das Sinn ergibt. Sie hat eine gewisse Klasse an sich, die ich echt liebe. Aber ihr Aussehen interessiert Sie wahrscheinlich nicht. Wollen Sie wissen, ob ich glaube, dass sie jemanden getötet haben könnte?

Detective Ramone: Haben Sie irgendeinen Grund zu der Annahme, dass Lulu Franc etwas mit dem Tod eines Mannes am heutigen Abend zu tun hat?

Cindy Anderson: Also, sie war richtig wütend an dem Tag, als sie im Resort ankam. Sie glaubte, ihr Mann hätte eine andere. Ich erinnere mich gut an das Gespräch, weil ich ihren Pelzmantel angestarrt und sehr genau zugehört hatte. Einen Moment lang wollte ich wie Lulu sein, aber ich arbeite achtzehn Stunden am Tag, damit mein sechs Monate altes Kind frische Windeln hat, und das ist nicht besonders glamourös, nicht wahr?

Detective Ramone: Lulus Mann, Mr. Pierce Banks, trifft sich mit einer anderen Frau? Sind Sie ganz sicher, dass Sie das gehört haben?

Cindy Anderson: Ich weiß nicht sicher, ob er tatsächlich eine Affäre hat. Lulu übrigens auch nicht. Soweit ich es weiß, ist nichts bestätigt. Aber ob ich glaube, dass Lulu zu einem Mord fähig ist? Unbedingt.

Detective Ramone: Warum glauben Sie das? Das ist eine schwerwiegende Aussage, Ms. Anderson, die ich nicht auf die leichte Schulter nehme.

Cindy Anderson: Natürlich nicht. Aber sie liebt ihren Mann wirklich, wissen Sie? Das sah man sofort. Es war überdeutlich. Und trotzdem hatte sie diese andere Seite an sich. Sie war, ich weiß nicht … kalt? Abschätzend? Sie hatte sehr kluge Augen. Ich glaube nicht, dass sie mit einer Zurückweisung zurechtkommen würde. Liebe lässt Menschen seltsame Dinge tun.

Detective Ramone: Sagen Sie mir bitte noch mal, woher Sie Lulu Franc kennen.

Cindy Anderson: Oh, eigentlich kenne ich sie gar nicht. Aber als Barkeeper ist man gleichzeitig eine Art Therapeut. Sie würden nicht glauben, was mir die Leute erzählen, vor allem bei Hochzeiten. Hochzeiten fördern die schlimmsten Seiten von Menschen zutage – oder zumindest ist das die Seite, die ich zu sehen bekomme.

Detective Ramone: Sie kennen Lulu also nicht persönlich?

Cindy Anderson: Nein, aber ich arbeite seit zehn Jahren hinter der Bar – ich kenne mich aus. Hat man eigentlich schon den Namen des Opfers bekannt gegeben? Ich habe gehört, sein Kopf war so eingeschlagen, dass das Gesicht nicht mehr zu erkennen war.

Detective Ramone: Vielen Dank für Ihre Zeit, Ms. Anderson. Das wäre dann alles.

»Ich nehme einen Mimosa«, sagte Lulu zu der überraschend jungen Barkeeperin. Die Frau sah kaum alt genug aus, um selbst Alkohol zu trinken. »Wenig Orangensaft.«

»Einen Mimosa?«, fragte Pierce. »Als Absacker?«

»Ich habe Mavis und Edna gesagt, dass ich ein Glas für sie mittrinken würde«, erklärte Lulu und legte eine Hand auf die ihres Mannes, während sie zärtlich an ihre engsten Freundinnen in South Carolina dachte. Die zwei Schwestern waren beide alt und unverheiratet, wohnten zusammen und verließen selten ihre gemütliche Veranda. Abenteuer erlebten sie durch Lulus Erzählungen. »Ich erledige das lieber jetzt gleich. Mavis wird jede Minute anrufen und wissen wollen, was wir schon gemacht haben. Die Frau ist wirklich eine Klatschtante.«

Pierce nickte, wirkte dabei aber völlig abwesend, wie schon den gesamten Abend. Vor ein paar Stunden waren sie in Kalifornien gelandet, und nach einem raschen Nickerchen, einer Dusche und ein paar Erfrischungen hatte Lulu ihren Mann überzeugt, unten an der Bar vor dem Schlafengehen noch etwas zu trinken.

»Dabei kann man gut die Leute beobachten«, hatte sie gesagt, während sie sich die Haare nach der Dusche mit dem Handtuch getrocknet hatte. »Die Hochzeitsgäste werden nach und nach ankommen. Bist du nicht neugierig, wen sie eingeladen haben?«

»Eigentlich nicht.« Er hatte mit den Schultern gezuckt und sehnsüchtig aufs Bett geblickt. »Sie gehören zur Familie. Wie spannend kann das schon werden? Ich würde lieber hierbleiben und einen Film schauen.«

Pierce Banks war es gewohnt, sich Lulus Willen zu unterwerfen. Er vergötterte sie, oder zumindest hatte er das getan, als sie sich kennengelernt hatten. Seit einiger Zeit starrte er hingegen öfter ins Leere als sonst. Abwesend, desinteressiert.

Je angestrengter sie versuchte, ihr (vorher lebhaftes) Sexleben aufrechtzuerhalten, desto weniger Interesse schien er daran zu haben. Lulu hatte gehört, dass das im Alter oft so war, doch sie hatte sich noch nie als alt gesehen. Aber sie war nun mal fast siebzig – konnte sie es ihrem Mann vorwerfen, dass er das Interesse verlor, wenn halb so alte Frauen ihre rechte Hand geben würden, um mit ihm zusammen zu sein?

Mittlerweile schauten sie sehr viele Filme, und Pierce schlief immer bei den spannendsten Szenen ein. Er war vierundsiebzig (attraktive vierundsiebzig), weshalb Lulu versuchte, es ihm nachzusehen, wenn er früh ins Bett wollte. Doch da war immer noch das beängstigende Gefühl, dass ihr Mann sich allmählich von ihr entfernte. Wie ein Strandball, der beim allzu lebhaften Spielen am Strand plötzlich im Wasser landete und träge aufs Meer hinausdümpelte.

Ernsthaft, Pierce nach draußen zu bekommen, war harte Arbeit gewesen. Er hatte behauptet, müde von der Reise zu sein, keine Lust auf eine Massage auf dem Zimmer zu haben oder auf ein Schaumbad, das von einer der unzähligen Resort-Angestellten eingelassen wurde, deren Aufgabe allein darin bestand, die Gäste zufriedenzustellen. Nun, Lulu war nicht zufrieden.

Sie seufzte. Wie gern hätte sie mehr von dem Mann gesehen, den sie geheiratet hatte, statt dieser distanzierten Hülle. Sie wollte das augenfunkelnde Lachen, seine weichen Küsse und die albernen Witze. Doch in den letzten Monaten war da nicht viel von dem Mann gewesen, in den sie sich einmal verliebt hatte. Auch wenn sie es überhaupt nicht gern zugab, erkannte Lulu die Anzeichen für eine sich verschlechternde Beziehung.

Leider waren diese quälenden Anzeichen auch nicht mehr unterschwellig, und nur Lulus verzweifelter Wunsch, weiter mit ihrem Mann verheiratet zu sein, hielt sie fest in einem Zustand der Verleugnung. Die kleinen Notlügen, die keinen rechten Sinn ergaben, hatte sie natürlich bemerkt. Sie wollte es nur einfach nicht wahrhaben.

Deshalb ignorierte Lulu seine Verweise auf spätabendliche Meetings, zu denen er angeblich im Büro war, obwohl das nicht stimmte. (Lulu kam schnell mit Leuten ins Gespräch, und sie hatte sich mit Pierce’ Empfangsdame angefreundet.) Bewusst übersah sie die Termine, die er auf gar keinen Fall verschieben konnte, deren Grund Lulu aber nicht bekannt war. Darüber hinaus gab sie vor, die kleinen schwarzen S in seinem Terminkalender nicht zu bemerken, die zwei- oder dreimal im Monat ohne Ortsangabe auftauchten, ohne Zeitpunkt oder anderweitige Erklärung, was – oder eher, wer – S sein sollte.

Lulu hatte ihren fünften Hochzeitstag vor Augen, was ein Rekord wäre. Keine ihrer fünf Ehen hatte bisher länger als fünf Jahre gehalten (auch wenn die beiden Beziehungen mit Anderson zusammen auf sieben Jahre kamen), und dieses Mal wollte sie das Ziel unbedingt erreichen.

Sie hatte wirklich gehofft, dass die Woche in einem renommierten Resort an der kalifornischen Küste ihre Liebe wieder anfachen würde. Doch in Wahrheit – was sich Lulu nur in der Zurückgezogenheit ihrer eigenen Dusche eingestand, während ihr die Tränen über die Wangen liefen – fürchtete sie, ihr Mann würde sie bald verlassen. Und das konnte nicht sein.

Lulu Franc wurde nicht von den Männern verlassen; sie beendete die Beziehungen selbst.

Lulu drückte die Hand ihres Mannes fester und ließ sie dann los, als er nicht reagierte. Pierce schien sich nicht unterhalten zu wollen, weshalb Lulu aufmerksam die entspannende Atmosphäre um sie herum aufsog. Die ganze Anlage war darauf ausgerichtet, Stress abzubauen, Romantik zu fördern, Wohlbefinden zu erzeugen.

Elegante Krüge mit Eiswasser, Gurkenscheiben und Wassermelonenstücken standen überall herum, zusammen mit silbernen Kaffee- und Teewärmern mit zarten kleinen Teetassen. Das Spa und die Minibars boten natürlich nur kalorienreduzierte, pflanzenbasierte Süßungsmittel und Rohrohrzucker an und bestimmt nicht die billigen gelben Päckchen Splenda-Süßstoff, die man in jedem anderen Resort bekam.

Lulus wachsamer Blick erfasste eine Frau in einem rosafarbenen Hosenanzug, die eine Eisskulptur in Form einer Taube hereinbrachte. Sie lehnte sich zu Pierce, tätschelte sanft seine Hand und deutete auf die berühmte Miranda Rosales.

»Mavis bekommt einen Herzinfarkt, wenn ich ihr das erzähle«, sagte Lulu. »Diese Hochzeitsplanerin kostet schon zweitausend Dollar, um sie überhaupt ans Telefon zu bekommen. Kannst du dir vorstellen, so viel für einen einzigen Tag auszugeben? Oder eine Woche, in diesem Fall? Hast du die Tafel mit dem Ablaufplan am Eingang gesehen? Das ist ja fast wie beim Militär, wie viel die Braut organisiert hat. An der Rezeption hatte ich das Gefühl, ich würde mich zum Bootcamp anmelden.«

Pierce sah auf sein Wasserglas, ohne Lulus Versuch, ihn zum Lächeln zu bringen, zur Kenntnis zu nehmen, worauf sie sich seltsam befangen fühlte. Der wahre Pierce Banks hätte ihr zumindest den Gefallen getan, amüsiert zu lächeln und gutmütig zu lachen. Er hätte sie nicht vollkommen ignoriert.

Lulu musterte ihren Mann eingehender und fragte sich, ob er dachte, dass Miranda Rosales in Lulus Fall gleich fünfmal zum Einsatz hätte kommen können. Fünf Hochzeiten mit vier verschiedenen Männern. Vier gescheiterte Ehen, und bei der fünften würde es auch nicht mehr lange dauern. Lulu lehnte sich betroffen zurück, während Pierce auf den Bartresen starrte.

Eine Resort-Managerin öffnete die Vordertür, und Lulu spürte, wie die kühle Nachtluft aus der kalifornischen Wüste durch die Lobby wehte und den Geruch nach großen rosa Pfingstrosen und zartem weißen Schleierkraut in alle Ecken des Raumes verteilte. Lulu liebte Romantik; sie dürstete danach. Betete, dass wenigstens etwas davon auf ihren Mann abfärben würde.

»Hier ist Ihr Mimosa«, sagte die Barkeeperin und schob ihn ihr über den Tresen zu, wobei sie Lulu aus ihren Gedanken riss. »Und Sie, Sir?«

»Äh, Whisky, bitte«, antwortete Pierce. »Mit Eis. Einen von den guten.«

Lulu bewunderte ihren Mimosa, der ein Foto wert gewesen wäre. Die Farben verliefen fachmännisch ineinander und waren wunderschön mit einem Zweig mit Beeren und Blättern dekoriert. Sogar die Getränke waren hier exquisit, ebenso wie die Preise, wie Pierce bemerkte.

»Was möchtest du machen, während wir hier sind?« Lulu legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel. »Wie wäre es morgen mit einer schönen Massage?«

»Hm?« Pierce hob fragend die Augenbrauen und wandte sich zu seiner Frau. »Was hast du gesagt?«

»Wir könnten uns ja für eine Jacuzzi-Anwendung anmelden und den schrecklichen Aktivitätsplan sausen lassen. Ich glaube, sie lassen einem das Bad im Zimmer ein, gehen dann aber wieder. Es ist schon eine Weile her, seit wir gemeinsam in der Badewanne entspannt und unsere ganzen Verpflichtungen geschwänzt haben. Klingt das nicht schön?«

»Klar. Wie du meinst.«

Als sie sich in Pierce verliebt hatte, waren sie gleichberechtigte Partner gewesen. Sie hatten diskutiert, gelacht, gescherzt, sich leidenschaftlich und verzweifelt geliebt, sie hatten gestritten und sich wieder vertragen. Nie hatte er dieses spröde »Natürlich, Liebes« oder »Wie du meinst« von sich gegeben. Lulu war eine Kämpferin, verdammt noch mal! Und sie wollte auch mit einem verheiratet sein.

»Was ist denn nur los mit dir?«, fragte sie schließlich scharf, in der Hoffnung, ihn aus seiner trübsinnigen Stimmung zu reißen und zu irgendeiner Art Konversation zu bewegen. Ein ordentlicher Streit wäre ihr lieber als diese Lustlosigkeit; sie legte es sogar darauf an. »Ich habe das Gefühl, als würdest du mir gar nicht mehr zuhören. Willst du überhaupt mit mir hier sein?«

Pierce sah sie an und hob wieder die Augenbrauen, diesmal schockiert. Er hatte dieses unfaire George-Clooney-Gen geerbt, das Gott nur Männern zu schenken schien, um sie im Alter immer besser aussehen zu lassen.

Doch Pierce war trotzdem einzigartig. Seine Nase war ein wenig schief, beim Lächeln kniff er das linke Auge fester zusammen als das rechte. Vor allem dieses Lächeln brachte ihr Herz zum Schmelzen – und das quasi jeder Frau, die ihm begegnete. Es hatte eine übermütige Fröhlichkeit an sich, die zu dem Funkeln in seinen Augen passte. In Kombination mit seiner Größe, den breiten Schultern und dem grau melierten Haar war das eine umwerfende Mischung. Pierce’ kleine Mängel machten ihn erst perfekt.

»Es … es tut mir leid. Ich bin gleich zurück.« Pierce stand auf, schob den Whisky, von dem er nicht getrunken hatte, zurück über die Theke und legte einen Fünfziger darunter. Er ging zum Aufzug, wandte sich noch einmal zu Lulu um und trat in die Kabine.

Lula sah ihm mit offenem Mund nach und hielt den Blick ihres Mannes, bis die sich schließenden Aufzugtüren die Verbindung unterbrachen. Etwas hatte sich verändert. Etwas Entscheidendes, dachte sie, und er würde ihr nicht sagen, was es war. Er würde sich ihr einfach entziehen, und sie konnte nichts dagegen tun.

Ihr Herz fühlte sich rissig an, als würde es langsam auseinanderbrechen wie ein alter Blumentopf. So voller Schönheit war es gewesen, ein blühender Baum voller Liebe und Verlangen, und kaum fünf Jahre später war es verwittert und runzelig. Salzablagerungen befleckten die Außenseite, die einst strahlenden Blüten waren zu Staub zerfallen. Schon bald würde es zerspringen und die Scherben einfach in den Müll geworfen werden.

Sie hielt sich an der Theke fest und atmete abrupt aus. Als sie wieder Luft holte, schmeckte sie Angst und Galle. Lulu bewegte sich in ihren Beziehungen nicht vorsichtig und wie auf rohen Eiern. Sie liebte aus vollem Herzen, und wenn die Liebe vorbei war, ließ sie sie ohne einen letzten Blick zurück.

Es gab nur ein Problem: Sie liebte Pierce immer noch. Hatte sogar überlegt, ob er wohl ihr letzter Ehemann sein würde. Sie hatte nie besonders an Seelenverwandtschaft geglaubt, doch Pierce hatte sie vom Gegenteil überzeugt. Aber was nützte ein Seelenverwandter, wenn er ihre Gefühle nicht erwiderte?