Lulu schleppte ihre alten, müden Knochen nach oben in ihr Zimmer. Alles an ihr war erschöpft – der Körper, der Geist, die Seele. Vielleicht baute sie gerade das restliche Adrenalin ab, oder es lag an der Aussicht, ihrem Mann gleich für das wahrscheinlich schwierigste Gespräch ihrer Ehe gegenübertreten zu müssen. Oder vielleicht wurde sie einfach nur alt, verflucht noch mal, und musste sich daran gewöhnen, sich müde zu fühlen.
Mit einem tiefen Seufzer schob sie die Schlüsselkarte ins Türschloss. Der Detective war immer noch unten und arbeitete sich durch die Zeugenaussagen, doch seit Elsie mit ihm gesprochen hatte, war das Ganze mehr oder weniger vorbei. Bis auf die winzige Kleinigkeit, dass Sydney geflohen war – mit dem Baby. Darüber wusste Lulu nichts.
Arme Elsie, dachte sie. Sie war eines der wahren Opfer in dieser ganzen Angelegenheit. Niemand, und vor allem kein Kind, sollte mit ansehen müssen, was sie gesehen hatte. Oder die Entscheidungen treffen müssen, die sie getroffen hatte.
Lulu drückte die Tür auf, und sobald sie ihren Mann vor dem Fenster auf und ab gehen sah, traten ihr Tränen in die Augen. Sofort hatte sie die zurückliegenden Ereignisse vergessen.
Pierce sah besorgt aus, gehetzt. Statt seiner üblichen Anzughose und eines Hemdes trug er Jeans und einen langärmeligen, hellgrauen Sweater aus butterweichem Material. Lulu erschrak. Er war wirklich nicht er selbst – entweder weil er nicht wusste, wo Lulu war, oder wegen etwas anderem. Selbst sein sorgfältig geschnittenes Haar stand vom Kopf ab, und er hatte einen Bartschatten. Er sah älter aus, härter.
Lulu war in seiner Gegenwart nicht mehr nervös. Sie hatte weder Angst vor dem Funkeln in seinen Augen noch vor der Geschichte, die er ihr wahrscheinlich auftischen würde, wenn sie ihn wegen des geheimen Handys fragte. Nach einer Nacht voller Lügen wollte Lulu einfach nur die Wahrheit.
»Endlich«, sagte er und drehte sich erleichtert zu ihr um. »Lulu, ich habe mir Sorgen um dich gemacht! Sie haben gesagt, du wärst vielleicht in den Tod eines Mannes verwickelt, und ich konnte nicht zu dir. Ich habe dich gesucht. Was ist passiert?«
»Es tut mir leid.« Ihre Lippe begann zu zittern. »Ich …«
»Setz dich«, befahl ihr Mann sanft, aber bestimmt.
Diesen Ton schlug er selten an, doch dann duldete er keine Widerrede. Lulu setzte sich aufs Bett.
»Sag mir nur eins«, flüsterte sie mit vorgebeugten Schultern, während sie die Hände im Schoß ineinander verschlang. »Ist es aus zwischen uns, Pierce?«
Ihr Mann wirkte von der Frage nicht so überrascht, dass es Lulu besser gegangen wäre. »Ich möchte nicht, dass es zwischen uns aus ist.«
»Aber das ist es doch.« Die Müdigkeit wurde stärker. Lulu schloss die Augen. »Sag mir die Wahrheit. Wer ist sie?«
»Wer?«
»S«, erwiderte Lulu. »Du weißt mittlerweile bestimmt, dass ich dein geheimes Handy gefunden habe. Und ich mag ja naiv sein, Pierce, aber ich weiß von der verschlossenen Schublade im Arbeitszimmer. Den Terminen im Kalender. Den spätabendlichen Meetings. Dem Geld, das auf unserem Konto fehlt. Alles hängt mit S zusammen. Also, wer ist sie?«
»Oh, Lulu.« Pierce schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Es ist nicht, was du denkst. Es gibt niemand anderen. Nur dich.«
»Lüg mich nicht an!« Lulu wischte sich Tränen der Wut aus den Augen. »Ich bitte dich nur um die Wahrheit. Ich habe ihre verdammte Stimme gehört.«
Pierce erstarrte. Dieser fremdartige, versteinerte Gesichtsausdruck kehrte zurück. Lulu war nicht daran gewöhnt, das Gesicht ihres Mannes so zu sehen, und der Anblick gefiel ihr nicht. Er war ihr so fremd. Als hätte sie ihn während ihrer gesamten Ehe nicht richtig gekannt.
»Es gibt keinen einfachen Weg, dir das zu erklären«, begann Pierce. »Aber vielleicht, wenn ich es dir zeige …«
»Verdammt noch mal, Pierce, ich will einen Namen«, forderte Lulu mit lauter werdender Stimme. »Wenn du mich verlässt, dann will ich wissen …«
»Es ist gut möglich, dass ich angeklagt werde, Lulu.« Pierce’ Stimme drang kristallklar durch den Raum, wie eine Flöte, die durch einen kalten Wintermorgen hallt. Durchdringend. Gänsehaut verursachend. »Gegen meine Firma wird schon seit einiger Zeit ermittelt.«
»Aber …« Lulu sah zu ihrem Mann hoch. »Ich verstehe es nicht. Dein geheimes Handy …«
»Damit telefoniere ich mit der Leiterin meines Anwaltsteams – Sheila«, erklärte Pierce. »Sie ist das S aus meinem Terminkalender. Ich habe sie dir gegenüber bewusst nicht erwähnt. Sie hat die Anweisung, dich völlig aus allem herauszuhalten, weshalb sie heute Morgen aufgelegt hat, als du dich gemeldet hast. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um diesen Irrsinn aus unserem Privatleben herauszuhalten. Daher das Handy, die Meetings im Büro, die Termine, von denen ich dir nichts sagen konnte.«
»Aber die Nachricht, die ich gefunden habe … Du wolltest S in einem Hotel treffen.«
»Wir besprechen uns oft im Ritz an der Lobbybar oder im Restaurant«, erklärte Pierce. »Du kannst gern meine Kreditkarte überprüfen – es werden keine Zimmer oder Ähnliches abgerechnet. Das würde ich dir nicht antun, Lulu. Du musst verstehen, dass es nicht gut für die Firmenmoral ist, wenn ich mich während der Geschäftszeiten so oft mit Sheila im Büro treffe.«
»Nein, ich verstehe es nicht, denn du hast mir nichts gesagt. Warum hast du mich nicht eingeweiht? Vertraust du mir nicht?« Lulus Stimme klang schwächer als beabsichtigt. »Wenn du Probleme hast, hätte ich dich unterstützt. Du bist mein Ehemann, Pierce. Wieso glaubst du, dass du das allein durchstehen musst?«
Pierce setzte sich. Die versteinerte Miene wurde ein wenig weicher, und er nahm die Hände seiner Frau. »Lulu, du musst wissen, dass ich dich über alles liebe. Die Fehler, die ich gemacht habe – das war, lange bevor ich dich kennengelernt habe. Wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiß … Wenn ich gewusst hätte, dass ich so glücklich sein könnte, wie ich es mit dir bin, wäre vielleicht alles anders gekommen. Aber jetzt sind die Dinge, wie sie sind, und ich will nicht, dass meine Fehler deinen Namen und deinen Ruf beschmutzen.«
»Aber ich liebe dich.«
»Und ich liebe dich. Aber ich weiß nicht, wie lange dieser ganze Prozess dauern wird. Die Ermittlungen laufen noch, und wahrscheinlich kommt es zu einer Anklage.«
»Was heißt das?«
»Man wird mich verhaften, ich werde vor eine Grand Jury kommen, die Medien werden sich darauf stürzen …« Er starrte an die Wand. »Du bist so eine wunderbare Frau, und ich finde es furchtbar, dass ich dir das antun muss, uns beiden. Wenn ich nur gewusst hätte …«
Einmal mehr brachte Pierce seine Gedanken nicht vollständig zu Ende, sodass Lulu sich den Rest selbst zusammenreimen musste. »Willst du mir damit sagen, dass du ins Gefängnis musst? Aber das ist unmöglich! Du bist ein guter Mann.«
»Ich bin ein Mann mit Fehlern. Das liebe ich so an dir – du siehst in jedem Menschen nur das Gute. Sogar in mir.«
Lulu legte eine Hand an die Wange ihres Mannes. »Es gibt also keine andere? Sheila ist … deine Anwältin? Und diese spätabendlichen Meetings?«
»Hatten alle mit den Ermittlungen zu tun. Beruflich habe ich Halbwahrheiten gesagt oder sogar richtig gelogen, aber ich schwöre, dass ich dich nie belogen habe. Es gab immer nur dich, Lulu.«
Tränen liefen ihr über die Wangen. »Was wolltest du mir zeigen?«
»In der verschlossenen Schublade zu Hause bewahre ich, zusammen mit ein paar Unterlagen, die relevant für die Ermittlungen sind, ein Notizbuch auf«, sagte Pierce und küsste Lulu auf die Stirn, bevor er aufstand und den Raum durchquerte. Er holte ein kleines schwarzes Buch aus der Seitentasche des Koffers, in der er auch das geheime Handy aufbewahrte, und hielt es liebevoll in Händen. »Ich habe darin alles aufgeschrieben, was ich jetzt nicht aussprechen, und alles, was ich dir später erzählen möchte.« Er zögerte wieder. »So hast du ein kleines Stück von mir, selbst wenn ich in Zukunft nicht bei dir sein kann – wenn du es willst, natürlich.«
»Oh, Pierce«, sagte Lulu mit erstickter Stimme. »Ich habe heute lieber gestanden, einem Mann den Schädel eingeschlagen zu haben, als mir ein Leben ohne dich vorzustellen!«
»Lulu, Schatz.« Pierce zog sie an sich. »Was soll denn dieser Unsinn, dass du einem Mann den Schädel eingeschlagen hast? Wer würde je glauben, dass du zu so etwas fähig wärst?«
»Das ist im Augenblick unser kleinstes Problem. Warum hast du es mir nicht gesagt?«, flüsterte sie wieder.
»Ich …« Er räusperte sich. »Ich war lange Zeit allein, Lulu. Fast siebzig Jahre war ich allein und habe mich nur um mich selbst gekümmert, Entscheidungen gefällt, die nur mich betroffen haben. Wenn ich die Auswirkungen hätte vorhersehen können …«
Sie wich zurück, als die Erkenntnis sie traf. »Du dachtest, ich würde dich verlassen, wenn ich die Wahrheit wüsste.«
»Ich bestärke dich sogar darin. Verstehst du, ich will dich nicht zurückhalten«, sagte Pierce. »Ich wollte es bis zu unserem fünften Hochzeitstag schaffen – um unser beider willen – und dann in Ruhe mit dir reden und dir alles erklären. Nächste Woche hätte ich dir alles gesagt. Ich wollte dir die Möglichkeit geben, dich still von mir scheiden zu lassen, bevor alles zu kompliziert wird. Ich will dir keine Last sein, Lulu. Dafür liebe ich dich zu sehr.«
»Liebling …« Lulu konnte vor Tränen kaum sprechen. »Ich gehe nirgendwohin.«
Pierce lächelte traurig, bevor er seiner Frau das Büchlein gab und zusah, wie sie die Seiten voller Liebeserklärungen durchblätterte, voller Worte, die er nicht aussprechen konnte, voller Träume, die er gegenüber Lulu nicht in Worte fassen konnte. Als sie aufblickte, die Augen feucht und voller Liebe, schüttelte sie den Kopf.
»Ich hoffe, du wirst mir mehr erzählen, wenn du bereit dafür bist«, sagte Lulu leise. »Aber bis es so weit ist … Kannst du bitte herkommen, Pierce? Wenn du mir weggenommen wirst, dann lass uns bitte wenigstens die Zeit genießen, die uns noch zusammen bleibt.«